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Kommentar: Die Lähmung des Krieges – wenig Worte um eine Jahrhundertkrise

Ordnung

Berlin (iz). Für die Nachkriegsgeneration ist der Krieg im Osten eine völlig neue Situation. Wer gehofft hatte, dass es sich nur um ein kurzes Zwischenspiel handelt, wurde bitter enttäuscht. Hoffnungen auf eine schnelle Lösung sind inzwischen im Bombenhagel zerstoben. Das Szenario einer eskalierenden Auseinandersetzung, geführt mit taktisch eingesetzten Atomwaffen, ist durchaus real. Ein Schock, aber schlichte Lähmung als Verhaltensmuster ist nicht gut genug.

Man nimmt mit Verwunderung zur Kenntnis, dass die Debatten um die Verwicklung der Bundesrepublik in einer der gefährlichsten Konflikte dieses Jahrhunderts mit wenig Leidenschaft geführt werden. Woran liegt das? Vermutlich an der Tendenz, diese entscheidende Krise mit einer gewaltigen und simplen Dialektik zu begegnen. Man ist nach der herrschenden Logik entweder für oder gegen Putin, für Kampf oder Aufgabe. Es gibt aber ebenso eine mögliche Position, die mit der Ukraine solidarisch ist und dennoch nicht jedem Ziel bedingungslos folgt.

Nötig wäre eine besonnene, öffentliche Auslotung des Mittelweges. Das hieße praktisch: Ja, man unterstützt den legitimen Kampf der Ukrainer, allerdings nur bis zu einem Punkt, der vor dem ultimativen Risiko des atomaren Wahnsinns liegt. Jetzt wäre es an der Zeit, diese Linie zu debattieren; zum Beispiel in der Form, unsere Waffenlieferungen dann in Frage zu stellen, wenn es der ukrainischen Führung tatsächlich um die Rückeroberung aller verlorenen Regionen einschließlich der Krim geht. 

Selbst wenn diese selbstmörderische Strategie nach jahrelangen Krieg am Ende doch aufginge, wäre völlig unklar, wie diese Gebiete künftig befriedet werden. Wie sollen die russischen Bevölkerungsteile nach diesem Konflikt erfolgreich integriert werden? Wie wird eine ukrainische Innenpolitik am Ende der langen Phase des Ausnahmezustandes aussehen, welche Kräfte sich durchsetzen? Fragen, auf die unsere Diplomatie keine Antwort hat. Davon abgesehen wäre eine vollständige Niederlage aus Sicht des russischen Regimes nahezu undenkbar; mit der paradoxen Folge, dass eine atomare Reaktion auf diesen militärischen Erfolg der Ukraine nicht unwahrscheinlich wäre. 

Eine endgültige Lösung braucht in jedem Fall Geduld, sie kann nicht militärisch erzwungen werden. Die Zurückhaltung des Bundeskanzlers gegenüber der Lieferung von Offensivwaffen ist daher vernünftig. 

Die Hoffnung auf ein Frieden in der Ukraine ergibt sich einerseits aus einer diplomatischen Lösung, die echte Verhandlungen über den Status der umkämpften Region ergeben. Andererseits darf man darauf setzen, dass das aktuelle Russland auf Dauer an seinen eigenen Widersprüchen scheitert. Dazu gehört, dass die imperiale Rolle Moskaus ein Auslaufmodell ist: eine Phantasie, die auf Kosten des Wohlstands und der Gesundheit der Zivilbevölkerung durchgefochten wird. 

Aus unserer Sicht ist die Lage prekär, denn diese Krise und ihre Nebenfolgen hat das Potential, eine Renaissance des europäischen Nationalismus einzuleiten. Nicht nur deswegen ist kein schlafwandlerisches Zuschauen, sondern mehr Leidenschaft in der Argumentation und Streitkultur das Gebot der Stunde. Man kann unterschiedliche Meinungen zu diesem Konflikt haben, aber äußern (können) sollte man sie auf jedem Fall. 

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Bürgerrechtler: Warnschüsse bei Anti-Kriegs-Protest in der Republik Dagestan

Aggression Ukraine Geopolitik

Machatschkala (dpa). Bei einem Protest gegen die Mobilmachung von Reservisten sind Polizisten laut Bürgerrechtlern in der russischen Teilrepublik Dagestan im Kaukasus mit Warnschüssen gegen Demonstranten vorgegangen. Im Dorf Endirej blockierten Anwohner eine Straße, um so die von Russland Präsident Wladimir Putin angeordnete Teilmobilisierung zu behindern, wie die unabhängige Organisation OVD-Info am Sonntag, den 25.09.2022, mitteilte.

Auf Videos ist zu sehen, wie Polizisten Gewehre in die Luft richten, dann sind Schüsse zu hören. Auch Gerangel zwischen Anwohnern und Beamten ist zu sehen. Laut dagestanischen Medien war der Protest eine Reaktion darauf, dass aus dem Dorf 110 Männer in den Krieg gegen die Ukraine gezwungen wurden.

Später wurden in sozialen Netzwerken Videos geteilt, die Proteste auch in Dagestans Hauptstadt Machatschkala zeigen sollen. Auf einem ist zu sehen, wie ein Polizist einem bereits festgenommenen Mann ins Gesicht schlägt. Ein anderer Clip zeigt, wie Frauen vor einen fahrenden Einsatzwagen rennen, um ihn aufzuhalten.

Angesichts jüngster Niederlagen seiner Armee hatte Kremlchef Putin am vergangenen Mittwoch angeordnet, nun auch Reservisten zum Kampf in der Ukraine zu verpflichten. Seitdem herrscht bei vielen Russen große Panik. Der russische Angriffskrieg dauert bereits seit mehr als sieben Monaten an.

Das muslimisch geprägte Dagestan gehört zu den Regionen Russlands, aus denen Beobachtern zufolge besonders viele Männer eingezogen werden. Aktivisten beklagen, dass Angehörige ethnischer Minderheiten besonders stark von der Mobilmachung betroffen sind und sprechen deshalb teils sogar von „ethnischen Säuberungen“.

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Türkei verurteilt Scheinreferenden in russisch besetzten Gebieten

Ordnung

Istanbul(dpa). Auch die Türkei hat die von Russland und den russischen Besatzungsbehörden angekündigten Scheinreferenden in den besetzten Gebieten der Ukraine verurteilt. „Wir sind besorgt über Versuche, in einigen Regionen der Ukraine einseitige Referenden durchzuführen“, hieß es aus dem Außenministerium am Mittwochabend.

Solche „illegitim beschlossenen Tatsachen“ würden von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt. „Im Gegenteil, sie werden die Bemühungen um eine Wiederbelebung des diplomatischen Prozesses erschweren und die Instabilität vertiefen.“ Die Türkei stehe für die „territoriale Unversehrtheit, Unabhängigkeit und Souveränität“ der Ukraine.

Die Türkei ist NATO-Mitglied und pflegt mit der Ukraine enge Beziehungen, gilt aber auch als enge Partnerin Russlands. Ankara hat dennoch immer wieder die russische Annexion der Halbinsel Krim 2014 kritisiert – auch weil die muslimische Minderheit der Krimtataren historisch eng mit dem südlichen Nachbarn am Schwarzen Meer verbunden ist.

Die Abstimmungen in besetzten Gebieten der Ukraine über einen Beitritt zu Russland sollen vom 23. bis 27. September abgehalten werden. Sie werden weltweit als völkerrechtswidrig angesehen, weil sie ohne Zustimmung der Ukraine, unter Kriegsrecht und nicht nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Beobachter sehen in den Scheinreferenden eine Reaktion auf die aktuelle ukrainische Gegenoffensive im Osten des Landes.

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„Schuld und Sühne“: Das liebende Handeln steht über der Idee, die logisch ist

(iz). Für dieses Jahr hatte ich mir vorgenommen, vier Romanklassiker von Dostojewski in dieser Reihenfolgen zu lesen: „Notizen aus dem Untergrund“, „Schuld und Sühne“, „Die Brüder Karamasow“ und „Die Dämonen“. […]

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Fasten in Kriegszeiten

(iz). Angesichts der Verwüstungen von Kriegen und dem ökologischen Zustand der Erde ist der Mensch in seiner spirituellen Veranlagung herausgefordert. Friedrich Nietzsche warnte seine Leser vor einer wachsenden Wüste, die […]

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Kasachstan: Palastrevolte im Schatten der Proteste?

Nach dem Chaos einer blutigen Protestwoche geht es in Kasachstan um die Aufarbeitung der Geschehnisse. Immer klarer wird, dass die Sicherheitskräfte wohl nicht nur gegen gewöhnliche Bürger vorgingen. Der Präsident spricht von einem Putschversuch – doch stimmt das? Von Hannah Wagner

Nur-Sultan (dpa). In der kasachischen Millionenstadt Almaty wird aufgeräumt: Ausgebrannte Autos werden abgeschleppt, Verkäuferinnen kehren Scherben vor ihren geplünderten Geschäften zusammen. Eine Woche schwerster Ausschreitungen mit Gefechten zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten hat Spuren hinterlassen. Langsam stabilisiert sich die Lage – und das Ausmaß wird auch auf den Straßen deutlich. „Die Bilder von der zerstörten Stadt sind wirklich schrecklich“, schreibt eine Einwohnerin der Deutschen Presse-Agentur.

Deutlich wird nun auch, dass die Zerstörung wohl keinesfalls nur eine Folge von Unmut durchschnittlicher Bürger über gestiegene Treibstoffpreise, Korruption und die autoritäre Staatsführung war. Die Machtverhältnisse in Kasachstan haben sich nach dieser Woche, die viele Menschen das Leben kostete, zumindest verschoben.

Anwohner berichteten von organisierter Gewalt

Kasachische Experten sind sich zunehmend einig, dass es neben vielen friedlichen Demonstranten offenbar auch organisierte gewalttätige Randalierer gab – insbesondere in Almaty, Kasachstans größter Stadt und ihrem wirtschaftlichen Zentrum. Diese beiden Gruppen gelte es streng zu trennen, betont die Soziologin Diana Kudajbergenowa, die an der Universität Cambridge lehrt, auf Twitter. „In Almaty wurden friedliche Proteste von organisierten kriminellen Gruppen geklaut.“

Anwohner berichteten von Schussgeräuschen und von randalierenden Mobs, die durch die Straßen zogen. Mehrere Waffengeschäfte wurden geplündert. Im Internet kursiert ein Video von Männern, die sich Gewehre aus dem Kofferraum eines Autos schnappen. „Ab dem 4. Januar spielten (…) im Vorfeld vorbereitete Sturmtruppen die Hauptrolle, die ohne irgendwelche Losungen auf gewaltvolle Konfrontation aus waren“, schreibt der kasachische Politologe Danijar Aschimbajew.

Als Indiz für ein koordiniertes Vorgehen sehen Experten vor allem, dass offenbar zielgerichtet strategisch wichtige Punkte wie Polizeidienststellen und Verwaltungsgebäude angegriffen wurden. Diese schnelle Radikalisierung des Protests sei nicht nur durch spontan eskalierte Wut junger Männer auf den Straßen zu erklären, heißt es in einer Analyse des Moskauer Carnegie Centre. Auch die russische Tageszeitung „Kommersant“ wundert sich über die Überforderung und Machtlosigkeit der kasachischen Behörden gegenüber den Randalierern.

Tokajew spricht von „Staatsstreich“

„Dies ist der Versuch eines Staatsstreichs“, sagt Präsident Kassym-Schomart Tokajew. Russlands Staatschef Wladimir Putin spricht auf einer Sitzung eines von Moskau geführten Militärbündnisses, das nun in Kasachstan im Einsatz ist, von „zerstörerischen Kräften von außen“. Belege dafür fehlen bislang.

Schon vor längerer Zeit habe sich – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – ein Machtkampf zwischen Präsident Tokajew und seinem einstigen Ziehvater, dem 2019 zurückgetretenen Langzeit-Machthaber Nursultan Nasarbajew, entfacht, schreiben die Carnegie-Experten. Offenbar habe es Leute im Land gegeben, denen nicht gefiel, dass Tokajew mächtiger geworden sei, meint der Politologe Marat Schibutow. „Was auch immer es ist, es ist ein interner Kampf“, schreibt die Politologin Nargis Kassenowa während der Unruhen auf Twitter.

Einen Protegé Nasarbajews, Ex-Geheimdienstchef Karim Massimow, ließ Tokajew festnehmen. Entlassen hat Tokajew zudem zahlreiche weitere Nasarbajew-Vertraute, die gesamte Regierung und Nasarbajew selbst – vom Posten als Chef des einflussreichen Sicherheitsrates. Den übernahm Tokajew. Erst Tage später meldete sich Nasarbajew, der bis zum Beginn der Proteste noch als mächtigster Mann im neuntgrößten Land der Erde und als Strippenzieher im Hintergrund galt, zu Wort. Er habe den Posten freiwillig geräumt, ließ der 81-Jährige ausrichten.

Gibt es einen Putschversuch?

Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob es sich wirklich – wie Tokajew sagt – um einen Putschversuch handelte. Und wenn ja, wer ihn angezettelt hat. Klarer hingegen ist, dass der frühere Diplomat die Krise ganz offensichtlich für den Ausbau des eigenen Einflusses nutzt. „Das Wichtigste ist offensichtlich: Die Ära Nasarbajews ist in Kasachstan zuende“, heißt es im Carnegie-Bericht.

Der Preis für Tokajews neue Machtfülle könnte groß sein: ein erhöhter russischer Einfluss etwa – und das ausgerechnet rund 30 Jahre nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. In den Wirrungen der ersten Protesttage hätten zudem Geschäftsleute aus Angst vor einem Umbruch scharenweise das öl- und gasreiche Land verlassen, schreibt der Experte Schibutow. „Jeder, der konnte, ist weggeflogen.“ Für Tokajew geht es nun darum, möglichst viele Investoren im Land zu halten.

Für die Bevölkerung hingegen geht es nun um eine Aufarbeitung der Ereignisse – gerade für diejenigen, die friedlich für Verbesserungen in ihrem Land auf die Straßen gingen. „Die kasachische Regierung schuldet uns die Wahrheit, vollständig und ungekürzt“, schreibt Politologin Kassenowa. „Die Leute sind nicht dumm, sie sind sauer.“

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Trügerische Ruhe in Kasachstan: Lage bleibt unübersichtlich

Die Lage in Kasachstan bleibt unübersichtlich. Während Machthaber Tokajew auf Unterdrückung setzt, reagieren Religionsgemeinschaften unterschiedlich auf die Unruhen. Von Heinz Gstrein

Nur-Sultan (KNA/iz). In Kasachstan hat der Befehl von Machthaber Kassym-Schomart Tokajew, „blind in die Massen zu schießen“, in der zweiten Woche zum Abflauen der Unruhen geführt. Vor allem in der alten und weiter heimlichen Hauptstadt Almaty trifft die Behauptung des Regimes und seiner russischen Verbündeten von einer „weitgehend“ beruhigten Lage zu.

Die besteht allerdings darin, dass sich die Straßen von Demonstranten geleert, doch dafür die Gefängnisse gefüllt haben. Die noch immer nicht überschaubare Zahl an Toten und Verletzten verwandelt die spontane Wut der Bevölkerung über explodierende Teuerung für die Armen und ausufernde Korruptionsgewinne in der herrschenden Schicht in feste Entschlossenheit, bis zum Sturz der Diktatur weiterzukämpfen.

Bislang herrschten in der zweitgrößten der einstigen Sowjetrepubliken nach Russland vergleichsweise stabile Verhältnisse. Ein Aufstand der Ölarbeiter von Schangaösen und seine blutige Niederschlagung 2011 wirken aus heutiger Sicht aber wie eine Vorwegnahme der jüngsten Proteste.

Die Motive waren damals dieselben wie heute: Obwohl das Feld von Ösen 70 Prozent des Erdöls in Kasachstan lieferte, musste die Belegschaft unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen zu Hungerlöhnen schuften, während die Petro-Oligarchen mit Ölprinzessin Darigha Nasarbajewa, einer Tochter des damaligen Präsidenten, im Geld schwammen.

Nursultan Nasarbajew sicherte dem postkommunistischen Ausbeutungssystem von 1990 bis 2019 Stabilität. Auch nach seinem Rücktritt als Präsident blieb er Vorsitzender der Einheitspartei „Nur Otan“ („Lichtvolles Vaterland“) und gab die eigentliche Macht als Chef des Sicherheitsrates erst jüngst zum Jahreswechsel auf. Sofort zeigte sich, dass sein Nachfolger Tokajew der autoritären und sozial repressiven Führung Kasachstans nicht gewachsen ist. Der kasachische Exilpolitiker Muchtar Abljazow hält ihn für unfähiger, doch auch bösartiger als Nasarbajew, dem er eine gewisse „Gemütlichkeit“ bescheinigt. Tokajew hingegen habe mit seiner überzogenen Reaktion auf die Proteste diese erst zum Überkochen gebracht.

Abljazow weist auch auf einen indirekten, aber maßgeblichen Beitrag der Deutsch-Kasachischen Universität von Almaty auf eine kritischere, weniger obrigkeitsgläubige politische Meinungsbildung hin. Aus ihrer Sozialwissenschaftlichen Fakultät seien die führenden Köpfe der neuen Demokratiebewegung hervorgegangen.

Auch die volkstumsnahe Türkei spielt in Kasachstan heute eine wichtige Rolle. Sie war schon mit ihrer Einführung der lateinischen anstelle der arabischen Schrift von 1928 ein Vorbild, dem Almaty im Jahr darauf folgte. Nach der Wende trat Kasachstan dem „Türkischen Rat“ und der Kulturgemeinschaft Türksoy bei. Yasi – heute Türkistan – eine der ältesten Städte des Landes, wurde zur „spirituellen Hauptstadt der türkischen Welt“ erklärt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan unterstützte in Kasachstan den Kurs einer Re-Islamisierung, schlägt sich aber im aktuellen Konflikt als einziger außerhalb des Moskauer Einflussbereichs auf die Seite der Führungsclique. Zu groß ist die Ähnlichkeit seines eigenen Gewinnschöpfungssystems im türkischen Finanz-, Bau- und Rüstungswesen mit der jetzt von den Kasachen infrage gestellten Korruption. Erdogan fürchtet, dass ein Umsturz bei den „volkstürkischen Brüdern“ in Kasachstan auf die Türkei ausgreifen könnte.

Obwohl 70 Prozent der Bevölkerung Muslime sind, spielten islamische Kräfte bei diesem Volksaufstand bislang kaum eine Rolle. Und die Christen? Die orthodoxe Kirche in Kasachstan verurteilte die Unruhen und stellte sich hinter den Kurs von Präsident Tokajew. „Unser Land war einem heimtückischen Überfall von Extremisten ausgesetzt“, so der oberste Geistliche, Metropolit Alexander von Astana (Nur-Sultan). Die Angreifer hätten den Menschen auf grausamste Weise ihren bösartigen Willen aufzwingen und die staatliche Souveränität zerstören wollen.

Ein anderes Bild biete sich bei den Katholiken sowie den Protestanten und Freikirchlern, die allerdings nur einen unteren einstelligen Prozentsatz am Bevölkerungsanteil haben. Sie wollen offenbar ihre schon gelebte, vom kirchlichen Osteuropa-Hilfswerk Renovabis unterstützte Geschwisterlichkeit und Hilfsbereitschaft zu Andersgläubigen und Ungläubigen (rund 18 Prozent) fortsetzen.

Überblick: Islam in Kasachstan

Kasachstan ist das nördlichste mehrheitlich muslimische Land der Erde. 70 Prozent der mehr als 18 Millionen Einwohner sind Muslime, überwiegend Sunniten der hanafitischen Rechtsschule. Neben den Kasachen zählen auch Usbeken, Uiguren und Tataren zum muslimischen Bevölkerungsteil.

Die Ausbreitung des Islam begann mit dem Vordringen muslimischer Heere im achten Jahrhundert und dauerte bis ins Spätmittelalter. Mit dem wachsenden russischen Einfluss seit dem 18. Jahrhundert geriet der Islam zunehmend in die Defensive. In der Sowjetzeit wurde er von den Kommunisten unterdrückt, viele Moscheen verfielen oder wurden umgewidmet. 

Nach der Unabhängigkeit der früheren Sowjetrepublik Kasachstan 1991 nahm der islamische Einfluss wieder zu. Der autoritäre Präsident Nursultan Nasarbajew nutzte die Religion und islamische Geschichte des Landes gezielt zur Stärkung der nationalen und kulturellen Identität, sorgte aber auch für eine strikt säkulare Auslegung des Islam. Gleichzeitig wuchs die Zahl der Moscheen von 68 am Ende der Sowjetära auf 2.516 im Jahr 2016.

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Ukraine: Mehr als 50 Krimtataren auf Halbinsel Krim festgenommen

Krimtataren

Kiew/Moskau (dpa). Auf der von Russland einverleibten Schwarzmeer-Halbinsel Krim sind nach ukrainischen Angaben mehr als 50 Krimtataren festgenommen worden. Sie seien teilweise mit roher Gewalt in Polizeibusse gedrängt worden, schrieb die Menschenrechtsbeauftragte des Parlaments in der Hauptstadt Kiew, Ljudmila Denissowa, in der Nacht zum Sonntag im Nachrichtenkanal Telegram. Die Krimtataren hätten in der Stadt Simferopol gegen „illegale Durchsuchungen und Festnahmen“ durch den russischen Inlandsgeheimdienst FSB protestiert.

Zuvor seien fünf Aktivisten der muslimischen Minderheit von russischen Sicherheitskräften festgenommen worden, sagte Denissowa. Die Hintergründe waren zunächst unklar. Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte bei Twitter die Freilassung aller Festgenommenen. Angaben von russischer Seite lagen zunächst nicht vor.

Denissowa rief die internationale Gemeinschaft auf, Druck auf Russland auszuüben, damit die Repressionen gegen die Krimtataren ein Ende hätten. Zuletzt hatten die Vereinten Nationen Moskau vorgeworfen, mit willkürlichen Verhaftungen und Razzien gegen Vertreter der Religionsgemeinschaft vorzugehen. Russland hatte sich 2014 die ukrainische Halbinsel einverleibt.

Unter der muslimischen Volksgruppe der Krimtataren sind die Vorbehalte gegen Russland nach wie vor groß. Hauptgrund ist ihre Deportation im Zweiten Weltkrieg. 1944 waren etwa 200.000 Menschen wegen angeblicher Kooperation mit den deutschen Besatzern per Zug vor allem ins heutige Usbekistan gebracht worden.

Die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine sind seit Jahren zerrüttet – nicht zuletzt wegen des Konflikts in der Ostukraine. Zu dessen Lösung hatte Selenskyj ein Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vorgeschlagen. Der Kreml zeigte sich am Sonntag abermals zwar grundsätzlich dazu bereit. „Aber bis jetzt sehen wir nicht den gleichen gemeinsamen politischen Willen aus Kiew“, sagte Sprecher Dmitri Peskow im Staatsfernsehen. Anders als die Ukraine werde Russland nicht über die Frage der Krim diskutieren.

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Christian Wagner zur aktuellen Entwicklung in Afghanistan

„Die afghanische Armee wäre auch in fünf Jahren nicht in der Lage gewesen, die neue Ordnung gegen die Taliban zu verteidigen. Der Westen hatte zwar Unterstützung durch die urbanen Eliten, die aber in sich zerstritten und korrupt waren.“

Berlin (KNA). Mit unheimlicher Geschwindigkeit haben die Taliban Afghanistan überrannt und stehen in der Hauptstadt Kabul. Der Westen verfolgt die Entwicklung im Schockzustand. Wie konnte es dazu kommen und welche Zukunft erwartet das Land? Christian Wagner, Südasien-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, analysiert im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) die Lage in Afghanistan.

KNA: Herr Wagner, was treibt die Taliban stärker an: das Streben nach dem Gottesstaat oder der Anspruch auf Hegemonie und antiwestliche Machtpolitik?

Wagner: Das eine ist vom anderen kaum zu trennen. Die entscheidende Triebkraft ist sicherlich der Islam. Gerade weil die Taliban ihn in einer extremen Form auslegen, die den Westen als ultimatives Feindbild ausmacht, solange seine Truppen im Land stehen.

KNA: Wie viel Rückhalt haben die Taliban in der Bevölkerung?

Wagner: Das ist schwer einzuschätzen, weil die Taliban Wahlen immer abgelehnt haben und jede Opposition im Keim ersticken. Fehlende Gegenwehr ist also kein Indiz für Rückhalt. Die Bilder aus Kabul zeigen, dass zumindest in den Städten große Angst herrscht. Andere Teile der Bevölkerung arrangieren sich oder können der archaischen, schlichten Scharia-Gerechtigkeit der Taliban sogar etwas abgewinnen, denn die sorgt für eine gewisse Sicherheit auf den Straßen und verspricht ein Durchgreifen gegen die Korruption.

KNA: Die fehlende Kampfbereitschaft der afghanischen Armee hat den Westen jedenfalls überrascht und schockiert.

Wagner: Er hat aber auch einen Anteil daran. Der Westen konnte nicht dafür sorgen, dass die Gelder, die er in den Aufbau dieser Armee pumpte, auch bei den Soldaten ankommen. Sie versickerten in korrupten Strukturen. Deshalb fehlte es der Truppe an Sold, an Verpflegung, sogar an Munition. Zweitens hat das Abkommen von Doha zwischen den USA und den Taliban 2020 viel Vertrauen zerstört. Damit war klar, dass die ISAF-Kontingente in Kürze abziehen und den Taliban mehr oder weniger das Land überlassen. Warlords und Armeekommandeure haben sich dann zügig umorientiert und eigene Deals mit den Islamisten angepeilt.

KNA: Hätte es denn überhaupt eine Strategie gegeben, um Stabilität und Demokratie im westlichen Sinne zu sichern? Etwa durch eine längere Stationierung der ISAF?

Wagner: Nein, ich glaube nicht. Die afghanische Armee wäre auch in fünf Jahren nicht in der Lage gewesen, die neue Ordnung gegen die Taliban zu verteidigen. Der Westen hatte zwar Unterstützung durch die urbanen Eliten, die aber in sich zerstritten und korrupt waren. Ein großes Problem sehe ich auch im fehlenden Aufbau einer überlebensfähigen Wirtschaft. Man hat den Bildungssektor gestärkt, um Fachkräfte auszubilden, aber es mangelt in Afghanistan ja komplett an Arbeitsmöglichkeiten für diese jungen Leute. Es gibt keine Industrie, keine Wertschöpfung, keine Ressourcen. Dafür ein starkes Bevölkerungswachstum, besonders in den bitterarmen ländlichen Regionen. Im Übrigen gibt es kaum Beispiele, dass die Schaffung einer demokratisch-liberalen Gesellschaft in einem nichtwestlichen, noch dazu islamischen Land mithilfe westlicher Truppen jemals funktioniert hätte. Gerade in Afghanistan stehen einem solchen Nationbuilding komplexe soziale Strukturen entgegen, die auf Loyalität innerhalb von Clans und Stämmen gründen statt auf einer Nation.

KNA: Was kommt jetzt? Rechnen Sie mit einem neuen Terror-Emirat wie vor 25 Jahren?

Wagner: Ich gehe derzeit eher von einer moderateren Herrschaftsform aus. Die Taliban agieren heute anders als damals. Sie werden die fast vollständige internationale Isolation ihres Staates vermeiden und auch westliche Hilfsorganisationen zulassen. Denn ihnen liegt an einer Verbreiterung ihrer Legitimation im Land und dafür brauchen sie eine zumindest rudimentäre Entwicklung der Infrastruktur. Inzwischen wissen sie auch um die Macht internationaler Medien. Allzu barbarische Methoden insbesondere gegen Frauen werden sie deshalb wohl unterlassen. Allerdings sind die Taliban eine heterogene Gruppe. Womöglich wird das Regime in entlegeneren Landesteilen härter vorgehen. Aber auf Regierungsebene vermute ich das erstmal nicht.

KNA: Auch China steht als Entwicklungspartner bereit – nicht gerade ein eiserner Verfechter der Menschenrechte.

Wagner: Aber China hat auch Sicherheitsinteressen. Es wird zumindest verhindern wollen, dass Afghanistan wieder ein Hort des internationalen Terrorismus wird wie 2001. Denn das hätte Auswirkungen auf die chinesische Provinz Xinjang, wo Peking die muslimischen Uiguren massiv unterdrückt. Wenn die Taliban von chinesischer Hilfe profitieren wollen, müssen sie sich von Terrororganisationen wie dem „Islamischen Staat“, Al-Qaida und militanten uigurischen Gruppen distanzieren und dürfen ihnen keine Rückzugsmöglichkeiten im Land erlauben. Das gilt übrigens auch mit Blick auf Russland, das heute viel stärker daran interessiert ist als 1996, die Ausbreitung des islamistischen Terrorismus in Zentralasien zu bekämpfen. Selbst Pakistan verfolgt in diesem Sinne eine andere Politik als vor 20 Jahren. Ein Lagebild wie vor der westlichen Invasion wird sich deshalb vermutlich nicht wiederholen.

KNA: Die muslimische Welt verfolgt die Entwicklung bisher nahezu teilnahmslos. Dabei waren es doch die Taliban, die das Image ihrer Religion dermaßen beschädigt haben.

Wagner: Viele Muslime sehen das gar nicht so und unterscheiden da zwischen den Taliban und Al-Kaida. Außerdem gab es in der islamischen Welt immer große Unzufriedenheit über die westliche Besetzung Afghanistans, die als Demütigung empfunden wurde. Nicht wenige sehen die Taliban als Freiheitskämpfer und fromme Muslime. Aber noch ist es zu früh, die Reaktionen der islamischen Länder zu bewerten. Man wartet dort noch ab und richtet die eigenen machtpolitischen Strategien dann neu aus. Es hängt jetzt viel davon ab, wie sich die Taliban auf der internationalen Bühne positionieren.

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Hintergrund: Kräfteverschiebungen am Hindukusch

BERLIN/KABUL (GFP.com). Mit Blick auf den Vormarsch der Taliban in Afghanistan werden in Berlin Forderungen nach der erneuten Entsendung der Bundeswehr an den Hindukusch laut. Die Taliban müssten „durch Luftschläge“ daran gehindert werden, bedeutende afghanische Städte zu erobern, fordert der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU). Dies habe US-Präsident Joe Biden in der Hand; sollten allerdings „militärische Fähigkeiten der Europäer, auch der Deutschen“, gebraucht werden, „dann sollten wir sie zur Verfügung stellen“. Unterdessen schwindet der Einfluss des Westens in Afghanistan rasant.

Während die US-Streitkräfte noch Luftangriffe auf Taliban-Stellungen durchführen, bietet die Türkei ihre Soldaten für die Sicherung des Flughafens in Kabul an; die Aufgabe gilt als nötig, um im Notfall schnellstmöglich das westliche Botschaftspersonal aus der afghanischen Hauptstadt evakuieren zu können. Russland stärkt seine militärische Position in Zentralasien unweit der afghanischen Grenze; China sucht seine Kontakte zu den Taliban zu stabilisieren.

Der Vormarsch der Taliban

Die Taliban haben am gestrigen Montag ihren Vormarsch auf Afghanistans Städte fortgesetzt. Sie konnten gestern mit Aybak (Samangan) die sechste Provinzhauptstadt einnehmen. Bereits zuvor war es ihnen seit Ende vergangener Woche gelungen, die Provinzhauptstädte Zaranj (Nimruz), Sheberghan (Jowzjan), Kunduz und Sar-e Pol (in der jeweils gleichnamigen Provinz) sowie Taloqan (Takhar) zu erobern. Heftige Angriffe führen sie zudem auf die zweit- und die drittgrößte Stadt des Landes, Kandahar und Herat; gestern haben sie angekündigt, auch die viertgrößte Stadt, Mazar-e Sharif, attackieren zu wollen.

Weite Teile des ländlichen Afghanistans beherrschen sie ohnehin. Schwer wiegt zudem, dass die Taliban Stück für Stück die wichtigsten Geldquellen unter ihre Kontrolle bringen. So haben sie mindestens acht bedeutende Grenzübergänge zu Iran, Turkmenistan und Tadschikistan sowie zu Pakistan übernommen und kassieren dort einen signifikanten Teil der afghanischen Zolleinnahmen, die ungefähr die Hälfte der Inlandseinnahmen der afghanischen Regierung ausmachen. Mit Kunduz kontrollieren sie zudem eine Stadt, die als eines der zentralen Drehkreuze für den höchst lukrativen Opium- und Heroinhandel gilt. Ihr weiteres militärisches Vorrücken scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.

„Militärische Fähigkeiten der Deutschen“

Der schnelle Vormarsch der Taliban belegt erneut, dass es den westlichen Mächten in den fast zwei Jahrzehnten ihrer Besatzungspräsenz am Hindukusch nicht gelungen ist, einigermaßen tragfähige politische sowie soziale Strukturen aufzubauen. Die Vereinigten Staaten intervenieren noch mit Luftangriffen, wollen ihre Truppen jedoch bis Ende August vollständig aus Afghanistan abgezogen haben. Ob und, wenn ja, wie sie weiter in die Kämpfe eingreifen wollen, ist bisher nicht bekannt.

Ansonsten entzieht sich die Entwicklung am Hindukusch zunehmend westlicher Einflussnahme. In Berlin werden jetzt mit Blick darauf erste Forderungen laut, die Abzugsentscheidung umgehend zu revidieren. Am Sonntag erklärte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), US-Präsident Joe Biden habe es noch „in der Hand“, das „große außenpolitische Desaster“ in Afghanistan zu stoppen; die Taliban müssten nun „durch Luftschläge“ daran gehindert werden, weitere große Städte zu erobern. Röttgen schließt dabei auch einen erneuten Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch nicht aus. Er fordert: „Wenn es … militärische Fähigkeiten der Europäer, auch der Deutschen, gibt, die jetzt benötigt würden, dann sollten wir sie zur Verfügung stellen.“

Die Türkei in Afghanistan

Während der Einfluss des Westens in Afghanistan in rasantem Tempo schwindet, bemühen sich andere Staaten – aus völlig unterschiedlichen Gründen und in höchst unterschiedlichem Kontext -, am Hindukusch Fuß zu fassen. So hat sich die Türkei bereit erklärt, in Zukunft den Hamid Karzai International Airport in Kabul militärisch zu sichern. Einerseits gilt der Schutz des Flughafens als notwendig, um im Notfall eine schnelle Evakuierung westlicher Diplomaten und des Personals westlicher Botschaften durchführen zu können; dies wiederum ist eine Voraussetzung dafür, diplomatische Vertretungen in der afghanischen Hauptstadt geöffnet zu lassen. Andererseits treibt die Türkei seit Jahren, anknüpfend an die gemeinsame Zugehörigkeit zum Islam, eigenständige Einflussmaßnahmen in Afghanistan voran, die sie jetzt zu nutzen sucht, um sich nach dem Abzug des Westens eine eigene Präsenz am Hindukusch zu sichern.

Als Gegenleistung für das Offenhalten des Flughafens fordert Ankara Berichten zufolge die Übernahme der Betriebskosten durch die USA sowie logistische Unterstützung. Unklar ist, ob die Türkei einen modus vivendi mit den Taliban aushandeln kann. Präsident Recep Tayyip Erdoğan wird mit der Aussage zitiert: „Die Taliban sollten mit der Türkei viel leichter sprechen können, denn die Türkei hat keine Probleme mit ihren religiösen Standpunkten“.

Russland in Zentralasien

Nicht in Afghanistan selbst, aber unmittelbar an dessen Grenzen baut Russland seine militärische Präsenz aus. Es unterhält ohnehin bereits Militärbasen in Kirgisistan und in Tadschikistan und hat nun begonnen, seinen Stützpunkt in Tadschikistan zu verstärken. Darüber hinaus hat es zugesagt, die tadschikischen Streitkräfte mit Ausrüstung und mit Trainingsprogrammen zu unterstützen. Anlass ist die Befürchtung, mit der Übernahme der Kontrolle über die Grenzübergänge sowie das Grenzgebiet durch die Taliban könne der Krieg sich über die Grenze bis nach Tadschikistan hinein ausweiten.

In der vergangenen Woche starteten rund 2.500 Soldaten aus Tadschikistan, dem angrenzenden Usbekistan und Russland gemeinsame Manöver in rund 20 Kilometern Entfernung zur afghanischen Grenze. Schon zuvor hatten gut 1.500 Soldaten aus Russland und Usbekistan bei der usbekisch-afghanischen Grenzstadt Termez militärische Übungen durchgeführt.

In Termez war jahrelang die Bundeswehr mit einem Stützpunkt präsent, über den sie Militärtransporte nach Afghanistan abwickelte. Dies ist nun ebenso Vergangenheit wie die US-Militärstützpunkte in Usbekistan und Kirgisistan, die 2005 bzw. 2014 abgewickelt wurden. Mit dem westlichen Abzug geht nun ein Ausbau der militärischen Position Russlands in Zentralasien einher.

Auf Stabilität bedacht

Noch unklar ist die Rolle, die China in Zukunft in Afghanistan spielen wird. Am 28. Juli hatte der chinesische Außenminister Wang Yi in der Hafenstadt Tianjin eine Delegation der Taliban zu Gesprächen empfangen. Die Volksrepublik ist vor allem auf Stabilität am Hindukusch bedacht; sie fürchtet zum einen, Jihadisten – auch uigurische – könnten Afghanistan als Basis für Attacken im angrenzenden Xinjiang nutzen, zum anderen, Unruhen in Afghanistan könnten sich auf andere Nachbarstaaten wie Pakistan auswirken, mit denen Beijing im Rahmen der Neuen Seidenstraße immer enger kooperiert.

Den Anspruch, sich seinerseits in die afghanische Politik einzumischen, habe Beijing nicht, urteilt Andrew Small, ein Experte vom European Council on Foreign Relations (ECFR): In der chinesischen Debatte werde immer wieder darauf verwiesen, dass in Afghanistan noch keine äußere Macht sich habe festsetzen können; nicht umsonst werde das Land zuweilen als „Friedhof der Mächte“ bezeichnet.

China werde sich deshalb wohl darauf konzentrieren, seine unmittelbaren Stabilitätsinteressen in Afghanistan zu fördern. Dazu nutze es seine bestehenden Beziehungen zu den Taliban – und zwar vollkommen unabhängig vom Westen.