Hintergrund: Zerstört das globale Halal-Business das Vertrauensverhältnis zwischen den Muslimen? Von Schaikh Habib Bewley

(iz). Wir leben in Zeiten, in denen der ­beste Rat das Innehalten ist, wenn sich die Masse auf einen Hype versteift. Oft genug verliert der Einzelne die dringend benötigte Fähigkeit zur Kritik. Seit Jahren wird – auch in der IZ – davon gesprochen, dass die so genannte Halal-Industrie ein Wachstumsmarkt sei, der immer wichtiger werde. Mehrheitlich werden die dabei beteiligten Abläufe, allen voran die Halal-Zertifizierung, und die ihr zugrunde liegen­den Konzepte positiv gesehen.

Vor einigen Jahren trafen wir in Südafrika den Leiter einer religiösen Schule in einer überwiegend indisch-muslimischen Siedlung am Rande Pretorias. Der Gelehrte erklärte, er sei schon einmal in Deutschland gewesen. Auf unsere Frage nach dem Warum, meinte er lapidar, er hätte unser Land besucht, um eine Fleischfirma bezüglich einer islamkonformen Wursthülle zu besuchen. Dafür musste er immerhin beinahe 24.000 Kilometer zurücklegen. Die Frage, ob er die bettelarme schwarze Moscheegemeinde, die hinter einem Berg in der Nachbarschaft lag, besuchte habe, verneinte der ­Gelehrte.

Im Folgende dokumentieren wir die Position eines jungen zeitgenössischen Gelehrten, der sich – anhand konkreter Skandale in Südafrika – von der Warte des islamischen Rechts kritisch mit der Halal-Zertifizierung auseinan­dersetzt, die für viele muslimische Konsumenten mittlerweile einfach dazu gehört, um sich beim ­Einkaufen wohl zu fühlen.

Allah sagt in Seinem Edlen Buch: „O die ihr glaubt, esst von den guten Dingen, mit denen Wir euch versorgt haben, und seid Allah dankbar, wenn ihr Ihm dient!“ (Al-Baqara, 172) Viele von uns wurden in der letzten Zeit durch Meldungen aufgeschreckt, die vom Missbrauch der ­Halal-Zertifizierungen und der betrügerischen Auszeichnung von Schweinefleisch durch gewissenlose Geschäftsleute sprachen. Wir dürfen uns nicht durch die Einzelheiten des Falles oder der betroffenen Parteien von der entscheidenden Frage ablenken lassen: Das Problem ist die Halal-Zertifizierung selbst.

In den letzten Jahren wurde diese ­Praxis zur akzeptierten Norm. Sie gilt als der beste Wege, um festzustellen, ob ein bestimmtes Produkt für den Verbrauch geeignet ist oder nicht. Aus bescheidenden Anfängen wuchsen das Halal-Siegel oder das entsprechende -Zertifikat rapide an. Heute sind sie Teil des Big Business und entwickelten sich zum Aspekt einer Indus­trie, die nach Angaben des Interna­tionalen Market Bureau of Canada ­einen Jahreswert von 560 Milliarden ­US-Dollar haben soll. Alleine in Südafrika bringt dies Dutzende Millionen Rand in die Schatullen der beteiligten Organisationen.

Gewiss, es geht uns nicht um die Motive derjenigen, die Pioniere der Zertifizierung von Produkten und Lebensmitteln waren. Ursprünglich mag ihnen das Wohl der Muslime am Herzen gelegen haben. Sie wollten es muslimischen Verbrauchern einfacher machen, die ­Zweifel darüber hatten, was sie aßen oder kauften. Unsere Überlegungen gelten der Existenz eines ganzen Industriezweiges. Dieser bricht eindeutig eine Reihe bestimmender Prinzipien des Dins.

Erstens hat alles als halal zu gelten, solange es keine eindeutigen Beweise dafür gibt, dass es haram ist. Dies wird durch die Worte Allahs angedeutet: „Er ist es, Der für euch alles, was auf der Erde ist, erschuf.“ (Al-Baqara, 29) Alles auf der Erde dient unserem Nießbrauch: Es ist halal; mit Ausnahme dessen, was Allah und Sein Gesandter verboten haben. Die Funktionsweise der Halal-Zertifizierung funktioniert nach dem genau gegenteili­gen Prinzip: Alles gilt als haram, ­solange es nicht als halal deklariert wird. Klar wird dies, wenn man sich die ­operativen Proze­duren dieser Einrichtungen betrachtet.

Auf der Webseite einer solchen Einrichtung werden die folgenden Bedingungen für Unternehmen festgelegt, die von ihnen ein Zertifikat möchten: „Nur Halal-Lebensmittel und -Getränke, die von uns zertifiziert werden, dürfen serviert, verkauft, gelagert oder auf der untersuchten Einrichtung verarbeitet werden.“ Des Weiteren heißt es dort: „Sollten Einzelhändler Einkäufe tätigen, ist dies nur bei solchen Lieferanten erlaubt, die ausdrücklich von uns freigegeben wurden.“ Mit anderen Worten, die entsprechende Organisation untersagt Firmen, Geschäften und Restaurants den Einkauf der Waren aus anderen Quellen als jenen, die von ihr zertifiziert worden sind. Im Weiteren Sinne erklären sie alle, nicht von ihnen genehmigten Waren als nicht lizenziert – und demnach als ­haram. Damit machen sie genau das, was Allah uns untersagt hat, denn Er sagte: „O die ihr glaubt, verbietet nicht die guten Dinge, die Allah euch erlaubt hat, und übertretet nicht! Allah liebt nicht die Übertreter. Und esst von dem, womit Allah euch versorgt hat, als etwas Erlaubtem und Gutem, und fürchtet Allah, an Den ihr glaubt!“ (Al-Ma’ida, 87-88)

Allah erlaubte uns weitaus mehr, als die Zertifizierer uns glauben machen ­wollen. So offenbarte Er beispielsweise: „Heute wurden euch alle guten Dinge erlaubt – das Essen der Leute, denen das Buch gegeben wurde, ist halal für euch (…) .“ Es gibt zwei Dinge in diesem Vers, die erwähnenswert sind. Zum ersten benutzt Allah das Wort „Tajjibat“, um das Essen der Leute des Buches zu beschrieben. Und es ist das gleiche Wort, das – wie in der Ajat – nicht als haram erklärt werden darf. Zweitens verwendet Er den Begriff „uhilla“, was „halal machen“ bedeutet. Qadi Abu Bakr ibn al-Arabi sprach über diesen Vers umfangreich in seinem Buch „Ahkam Al-Qur’an“. Im Verlauf seiner Diskussion sagte er, dass es egal ist, ob sie das Tier opfern oder nicht, solange es sich dabei um Juden oder Christen handelt und solange sie es korrekt ­schlachten. Dann ist das Fleisch halal für uns. Qadi Abu Bakr überlieferte eine Äußerung von Imam Malik: „Ihr gesamtes Fleisch darf mit Ausnahme dessen verzehrt werden, was sie für ihre religiösen Feiertage schlachten oder ihren Götzen opfern.“ Imam Asch-Schafi’i ging sogar einen Schritt weiter: „Ihre Opfertiere dürfen sogar dann gegessen werden, wenn sie einen anderen Namen als den von Allahs über ihnen aussprechen.“ Ihr gesamtes Essen ist halal für uns. Mit Ausnahme jener Dinge, die Allah uns ausdrücklich untersagte: Schwein, Blut und Tiere, die eines natürlichen Todes starben, erwürgt oder mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen wurden. Dies ist die ­Position der meisten großen Imame. Der Prophet selbst aß Fleisch bei Juden, ohne zu ­fragen, wie es geschlachtet wurde. Was ­halal ist und was haram, ist nicht so schwarz-weiß, wie es diejenigen glauben machen wollen, die die Zertifikate ausgeben. Es ist auch nicht im geringsten kompliziert, denn der Prophet sagte: „Das halal ist klar erkennbar und das haram ist klar erkennbar.“

Das zweite, betroffene Prinzip ist, dass Allah der Gesetzgeber ist. Es ist weder an uns, noch an den ‘Ulama, sich als diejeni­gen aufzuspielen, die Gesetze erlassen. Es gibt im Islam weder eine ­Priesterkaste, noch eine spezielle Klasse von Leuten, durch die Allah wirkt oder in deren Händen die Erlösung der Menschheit liegen würde. Diese Vorstellung ist dem Islam vollkommen fremd. Die ‘Ulama sind einfach nur jene, denen Allah ‘Ilm (Wissen von Seinem Din und Seinen Urteilen) gab. Es ist ihre Verantwortung, dieses an den Rest von uns weiterzugeben, anstatt es zurückzuhalten und dem Höchstbietenden zu verkaufen. Sie dürfen keine Urteile verkaufen, denn diese gehören nicht ihnen, sondern Allah.

Daher dürfen sie auch keine Gebühren von den Leuten nehmen, um zu deklarieren, dass ihre Produkte halal ­seien. Indem sie das tun, ahmen sie ein Verhal­ten nach, für das die Leute des Buches von Allah in der Sura Al-Baqara kritisiert wurden: „Und verkauft Meine Zeichen nicht für einen geringen Preis!“ (Al-Ma’ida, 44) Die Erzielung eines Profits aus der selektiven Verteilung von Urteilen ist ­abzulehnen. Die Tatsache, dass solche Organisationen oft exorbitante Gebühren von muslimischen Kunden für ihre Dienste verlangen, schafft für diese ­einen erkennbaren finanziellen Nachteil. Der Preis, den diese Lebensmittelunternehmen bezahlen, wird an ihre Kunden weitergegeben. Dies führt beinahe automatisch dazu, dass zertifizierte ­Lebensmittel teurer sein müssen als jene ohne. Diese Zertifizierung wurde zu einer Art geheimer Steuer, bei der das Geld aus den Taschen der normalen Muslime in die Schatullen islamischer Organisationen, der ‘Ulama oder der Zertifizierungsfirmen fließt.

Nicht nur der einfache muslimische Verbraucher leidet unter der Halal-Industrie, sondern auch viele kleine Unternehmen. Bevor der Halal-Stempel verbreitet war, kauften beinahe alle Muslime ihr Fleisch bei ihrem lokalen Halal-Schlachter. Seit dem Auftauchen des Siegels haben Supermärkte, die weder Muslimen gehören, noch von ihnen geführt werden, den Schlachtern die Mehrheit ihrer Kunden abgeworben. Sie richten Halal-Abteilungen ein und unterbieten die Muslime bei den Preisen. Dadurch schränken sie den Markt ein und treiben viele Unternehmer aus dem Geschäft. Den verbleibenden Halal-Geschäften und -Restaurants wird mit Misstrauen begegnet, wenn ihnen Zertifikate fehlen. Nicht länger wird dem Wort eines Muslims vertraut, dass sein Essen halal sei. Die Industrie hat es geschafft, dass einem Stück Papier mehr vertraut wird als einem anderen Gläubigen.

Wie aus dem jüngsten [südafrikanischen] Fiasko deutlich wurde, ist ein Halal-Stempel kein absolute Garantie ­dafür, dass etwas halal ist. Er kann ohne unser Wissen gefälscht oder von einem Produkt auf ein anderes übertragen werden.1 Das ist bei mehreren Gelegenheit vorgekommen, denn die Konzerne, die die Halal-Lizenzen erwerben, haben nur ihren Profit im Auge, ohne das Skrupel dabei eine Rolle spielen würden. Können sie mehr Geld machen und neuen Märkte erschließen, dann werden sicherlich viele, wenn sie damit davonkommen, auf dieses Mittel zurückgreifen.

Nicht nur bei Firmen, denen diese Zertifikate verkauft werden, besteht Potenzial für Missbrauch. Dies betrifft auch die Reihen jener ‘Ulama, die sie ausstellen. Die Mehrheit von ihnen mag gewissenhaft, ehrenhaft und ehrlich sein. Aber die Tatsache, dass sie Wissen ­haben, macht sie noch nicht immun gegenüber Korruption. Die Geschichte ist voller bestechlicher Richter und Gelehrter, die von den Herrschenden gekauft wurden, um sie gefügig zu machen.

Heute gibt es viele Gelehrte, die sich für das „Islamic Banking“ aussprechen. Im Austausch dafür erhalten einige von ihnen Sitze in den Beiräten der Banken.2 Die früheren muslimischen Gesellschaften kannten diese Gefahren. Sie schützten sich vor der Bestechlichkeit der Qadis, indem sie ihnen hohe Gehälter zahlten, sodass sie immun gegenüber Korrup­tion waren. Aber heute gibt es niemanden, der sich vergleichsweise um ihre Bezahlung kümmern würde. Also müssen sie es selber tun. Auch gibt es heute ­keine Autorität, welche sie kontrolliert. Dementsprechend muss ihre Versuchung hoch sein, sich die Taschen zu füllen.

Unabhängig davon, wie ­gottesfürchtig unsere heutigen Gelehrten sind, dass von ihnen ins Leben gerufene System hat die Tür für weniger prinzipientreu ­Gestalten geöffnet, von ihm Gebrauch zu machen. Dergleichen geschieht bereits in anderen Teilen der Welt, wo bekannt wurde, dass Halal-Siegel wissentlich für Produkte vergeben wurden, die sich später als alles andere als halal erwiesen. Das gleiche passiert bei uns. Die Verantwortlichen handeln – im Sinne des Profits – dem gesunden Menschenverstand zuwider. Da­zu zählt die Zertifizierung von Wasser, Zahnstochern oder schwarzem Pfeffer. Das ist ein klarer Missbruch des Systems. Das System der Halal-Zertifizierung orientierte sich ursprünglich an einem vergleichbaren Prozess, der von Juden benutzt wird, um koscheres Essen von nicht-koscherem zu unterscheiden. Auch wenn es sich dabei um die Nachahmung ­einer scheinbaren guten Idee handelt, ­erlauben die Nachteile dieses Zertifizierungsprozess, wie wir gesehen haben, den gegenteiligen Schluss.

Ein weiteres, schwerwiegendes Problem in der Halal-Zertifizierung – wie der gesamten Halal-Industrie – ist, dass sie sich rein auf die Mechanismen des Schlachtens und der Lebensmittelproduktion konzentriert, ohne fundamenta­le Parameter in Betracht zu beziehen, was es heißt, etwas für halal zu erklären. ­Allah sagt im Qur’an: „Oh, ihr Menschen, esst von dem, was erlaubt und gut auf der Erde ist.“

Unsere Nahrung sollte genauso hochwertig sein, wie sie halal ist. Die Tiere sollte gut und barmherzig behandelt werden. Der Prophet, möge Allah ihn ­segnen und ihm Frieden zu geben, wurde als Barmherzigkeit für alle Welten entsandt, inklusive der Tiere und der Umwelt. Heute geschieht das Gegenteil: Tiere müssen heute ihr ganzes Leben in ­engen Käfigen verbringen und werden unter Einsatz von Wucher und Ausbeutung verkauft. Der vielleicht negativste Aspekt der Halal-Zertifizierung ist, dass sie die ‘Ulama und die Muslime insgesamt von wichtigeren Fragen ablenkt. Es scheint so zu sein, als würde der Din Allahs auf Nahrungsfragen reduziert werden. So als bestünde der einzige Unterschied zwischen uns und unserem nichtmuslimischen Gegenüber darin, dass unsere Nahrung ein Halal-Siegel trägt. Kapstadt ist eine Stadt, in der Muslime ein Drittel oder mindestens ein Viertel der Bevölke­rung ausmachen. Wie kann es sein, dass die islamische Lebensweise auf Lebensmitteletiketten reduziert wird? Sollte nicht zumindest die gleiche Anstrengung darauf verwandt werden, andere Aspekte unseres Lebens halal zu machen? Warum hinterfragen wir nicht das globale Ethos, wenn es sich um Finanz- und Währungsfragen handelt?

Wir sollten nicht versuchen, uns in einer komfortablen Nische in der Gesellschaft einzukuscheln und von dem abzu­schirmen, was uns umgibt. So als wäre alles OK, solange wir nur unser Halal-Fleisch und unsere Moscheen haben.

Der Gesandte Allahs wurde für die gesamte Menschheit entsandt. Wir haben keinen größeren Anspruch auf den Islam als unsere Umwelt und so muss es eine Ehrenfrage für uns sein, sie darüber zu informieren und dazu einzuladen. Unse­re Gelehrten müssen dabei eine Führungsrolle spielen. Sie müssen auftreten und mit sich mit jenen Fragen und Problemen beschäftigen, die unsere Zeit ­plagen. Sie müssen anfangen, als die ­wirklichen Erben der Propheten zu handeln, denn der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, ­sagte: „Die Gelehrten sind die Erben der Propheten.“ Und sie müssen damit ­anfangen, ihr Wissen auch in die Tat umzusetzen.

Der Autor ist ein junger Gelehrter, der unter anderem an der marokkanischen Qairawijin und anderen Einrichtungen studierte. Heute lebt er in Kapstadt, wo er Imam ­Khatib der großen Freitagsmoschee ist. Der Text wurde in seiner Originallänge als Khutba ­gehalten.
Fußnote(n):
1 Vor einiger Zeit wurde nach Stichproben bekannt, dass die Menge der Halal-Lebensmittel, die in die Golfstaaten eingeführt ­wurde, höher war, als die Gesamtsumme der exportierten.
2 Den so genannten Sharia-Boards.