Die Gefahr der Paranoia

Prof. Manfred Schneider lehrt Ästhetik und Literarische Medien am Lehrstuhl für Neugermanistik an der Ruhr-Universität Bochum. In seinem neuen Buch „Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft“ befasst er sich mit der Psychologie des Attentäters, der Rolle des Attentats in der heutigen Zeit und der Reaktion von Politik und Gesellschaft darauf, sowie mit dem Wesen der Paranoia. Wir sprachen mit Prof. Schneider über die Thesen des Buches.
Islamische Zeitung: Herr Prof. Schneider, wie kamen Sie dazu, ein Buch über Attentäter zu schreiben?
Manfred Schneider: Ich möchte zurückfragen: Wie kann man im Augenblick kein Buch über Attentate schreiben? Es vergeht ja fast kein Tag ohne Nachrichten von Attentaten, versuchten Attentaten, Warnungen vor Attentaten oder von politischen Maßnahmen, um Attentate zu verhindern. Oder von Selbst­mordattentaten, vor allem im Nahen Osten oder Afghanistan. Es ist also augenscheinlich ein großes Thema. Ich bin ein Beobachter der politischen Ereignisse, und ich muss sagen, dass für mich persönlich das Attentat auf John F. Kennedy 1963, als ich ein junger Student war, ein einschneidendes Ereignis war, und prägend war auch später die Geschichte der RAF im Deutschland der 70er Jahre mit den vielen Attentaten und politischen Morden. Das brachte mich zu der Vorstellung, die sich heute bewahrheitet – nämlich dass Attentate ein Mittel des Politischen geworden sind, das wir nicht mehr loswerden.
Islamische Zeitung: In Ihrem Buch findet sich eine Widmung mit einem Nietzsche-Zitat – „nicht der Zweifel, die Gewissheit macht wahnsinnig“. Ist es diese radikale Subjektivität, welche Ideologen aller Couleur verbindet?
Manfred Schneider: Das Zitat soll einen Akzent setzen, dass der Wahnsinn der Paranoia, den ich allerdings nicht als klinischen Wahnsinn beschreiben will, eine Gestalt der Gewissheit ist. Eine Gestalt extremer Gewissheit und unerschütterbarer Überzeugung. Zugleich ist sie eine Form der Rationalität. Es gibt eine sehr interessante Bestimmung der Paranoia von einem Psychiater des 19. Jahrhunderts, der sagt, der Paranoiker sei jemand, der alles verloren hat außer seiner Vernunft. Das heißt, diese extreme Gewissheit ist eine Haltung zur Welt, ob sie nun politisch, wissenschaftlich oder religiös ist, die nur aus Überzeugung besteht, die nicht das Element des Zweifels, der Skepsis oder auch die Fähigkeit, den entgegengesetzten Standpunkt wenigstens zu denken, mehr kennt. Das sind die Gewissheitshaltungen, die ich in dem Buch ausdrücklich in Frage stelle. Von solchen versteinerten Überzeugungen geht sehr viel ideologisches Unheil aus.
Islamische Zeitung: Ihr Buch ist ja auch eine Geschichte des Attentäters. Haben die modernen Medien, hat die Medienwelt, in der wir leben, auch die Verhaltensmuster des Attentäters ­verändert?
Manfred Schneider: Es ist eine der Hauptthesen meines Buches, dass die modernen Medien, seien es Zeitungen, Fotografie, Kino, TV, die Nachrichten aus der Politik verbreiten, den Attentäter mit hervorbringen. Das Paradoxe ist, dass der Attentäter eigentlich die Medien verachtet, weil sie in seinen Augen lügen, die Dinge verstellen, die Bilder fälschen, die wahren Tatsachen abschirmen; andererseits will er aber selbst in den Medien erscheinen. Er wünscht sich, dass sein Bild als das wahre Bild eines Helden, eines Befreiers, eines Opfers von allen gesehen wird. Eigentlich ist dieser Wunsch, gesehen zu werden, ganz alt; es gab ihn bereits vor den modernen Medien. Aber die modernen Medien haben diese beiden Seiten: An ihnen hängt einmal die Vorstellung, dass sie lügen, und gleichzeitig will der Attentäter selbst als das wahre Bild, als Bild der Wahrheit in den Medien erscheinen. Das ist ein Phänomen der Moderne.
Islamische Zeitung: Sie beschreiben auch das Verhältnis des einzelnen Attentäters und seiner so hilflosen wie destruktiven politischen Tat zum Macht­apparat. Warum wird diese Figur heute wichtiger, und ist sie gar bereits integrierter Teil unseres modernen politischen Lebens geworden?
Manfred Schneider: Ein großes Problem unseres politischen Lebens ist unser Umgang mit der Macht. Wir wissen natürlich, welche Macht es in der Welt gibt und dass sie sich in den Händen weniger Leute befindet, in den Händen von Politikern, Militärs, Polizei, von Unternehmern, aber eben auch von Medien, Zeitungen, Fernsehen und so weiter. Tatsächlich aber ist das Problem, dass man die Macht nicht sehen kann. Das, was wir von der Politik und von der Macht sehen, wie zum Beispiel diese kluge, aber doch unscheinbare Kanzlerin oder diesen Armeechef oder jenen Intendanten – wir können uns nicht vorstellen, dass diese Alltagsmenschen über solche Macht verfügen. Das Schauspiel, das uns die Politik und die Mächtigen bieten, steht für uns in einem Missverhältnis zu der ungeheuren Macht, von der wir wissen und die wir bisweilen spüren, wenn die Dinge für uns selbst schief laufen. Und das ist die Quelle des Verdachts, der irgendwie in uns allen lebendig ist, nämlich dass hinter den Kulissen doch etwas ganz anderes gespielt wird, dass ganz andere Mächte im Hintergrund wirken, obwohl wir ja eigentlich als Volk, als Demokraten selbst die Macht sind und sie verkörpern. Von daher ist der Attentäter wie ein Delegierter dieser Beunruhigung durch die Macht, die uns umtreibt. Obwohl er von uns nicht beauftragt ist, handelt er als unser Delegierter, der diese Macht, die ganz fern von uns, unsichtbar und verdachtsbeladen ist, für einen Augenblick sichtbar macht.
Islamische Zeitung: Wir haben gerade wieder in Stockholm die Tat ­eines muslimischen Attentäters erlebt. Wie können wir verhindern, dass unsere Gesellschaft angesichts dieser an­dauernden Bedrohungen „paranoid“ wird?
Manfred Schneider: Da liegt eine große, um nicht zu sagen gewaltige Verantwortung auf uns allen. Das kollektive Verständnis einer Gesellschaft kann schnell umschlagen in eine paranoide Auffassung vom Grund oder der Ursache bestimmter Übel, mit denen sie es zu tun hat. Es gibt einmal diesen primitiven Denkmechanismus, der für die Ursache von Übeln Sündenböcke sucht. Das ist gewissermaßen alltäglich. Gefährlich und paranoid wird es, wenn eine einzige Ursache und womöglich eine einzige Personengruppe für sämtliche Übel verantwortlich gemacht wird. Früher waren dies einmal die Linken, noch früher waren es die Juden, heute sind neue Gruppen aufgetaucht, wie Migranten, Muslime oder Hartz IV-“Faulpelze“, denen diese störenden, unangenehmen und gefährlichen Dinge, mit denen wir zu kämpfen haben, zugerechnet werden. Es geht darum, zu sehen, dass wir es bei Attentätern zumeist mit besessenen, aus der Bahn geratenen Einzeltätern zu tun haben – auch dann, wenn sie einmal in einer Gruppe auftreten. Das dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren.
Islamische Zeitung: Wo würden sie die Trennlinie zwischen „normaler“ Angst und Paranoia ziehen?
Manfred Schneider: Angst ist nicht Paranoia, auch wenn sie sehr intensiv ist. Paranoia ist eine Einstellung, die – wenn auch aus Angst heraus – für bedrückende Erlebnisse, Sorgen, politische Probleme eine einzige Figur, einen einzigen Grund, eine einzige Ursache sieht und dann möglicherweise Gewalt mobilisiert, um diese Ursache zu beseitigen. Natürlich sind Menschen in unterschiedlicher Weise ängstlich, das ist eine Erfahrungstatsache. Die Angst schlägt eben in Paranoia um, wenn für dieses Übel eine einzige Ursache gesehen wird. Die politischen und sozialen Übel heutzutage sind jedoch immer komplex und schwierig und setzen sich aus vielen Teilaspekten und Teilproblemen zusammen, und die Vereinfachung, diese auf einen einzigen Grund zu reduzieren, ist paranoisch.
Islamische Zeitung: Häufig wird hinter dem gegenwärtigen Terrorismus ein weltweites Komplott von ­“Islamisten“ vermutet. Ist das aus ­Ihrer Sicht ein reales Bild?
Manfred Schneider: Nein, das ist in meinen Augen eine völlige Verzerrung. Natürlich gibt es mehr oder weniger prominente Angehörige des Islams, die Krieg gegen „Ungläubige“, gegen den Westen oder gegen Feinde des Islams predigen. Und es stimmt natürlich auch, dass diese häufig Stichworte für Einzelattentäter liefern, von den Männern des 11. September bis hin zu diesem armseligen Mann, der sich kürzlich in Stockholm in die Luft gesprengt hat. Aber wenn man richtig hinschaut, sind es zumeist ohnmächtige Großsprecher, die nicht als Teil eines großen Verschwörer-Rings agieren. Diese Komplott-Theorie ist eine vor allem in den USA kultivierte Vorstellung, für die es in meinen Augen keine Anhaltspunkte gibt, so schlimm bisweilen einzelne Aktionen auch sind, die im Namen des Islams begangen werden.
Islamische Zeitung: Kann Paranoia auch politisch genutzt werden?
Manfred Schneider: Ja, natürlich. Das Lehrstück dafür hat die amerikanische Regierung nach dem 11. September aufgeführt, indem sie eine ganze Gesellschaft in einen paranoiden Zustand versetzt hat. Das kam in vielen Details zum Ausdruck und war wirklich Besorgnis erregend. Das hat sich in den letzten Jahren aber wieder entspannt. Ein anderes Beispiel, das uns die deutsche Geschichte bietet, ist der Antisemitismus im Dritten Reich, bei dem sich sowohl Wissenschaftler als auch Politiker und ein großer Teil der Bevölkerung auf eine vollkommen absurde, abwegige, unhaltbare Theorie von der „jüdischen Rasse“ eingeschworen hatten und sich zu diesen schrecklichen Taten ermächtigt sahen. Den Hintergrund dafür bildete das Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Politik, und da heißt es eben besonders aufmerksam zu sein.
Islamische Zeitung: In Ihrem Buch klingen Zweifel an, ob es das Schicksal als Erklärungsmodell überhaupt gibt. Schicksalsglaube ist natürlich ein wichtiger Teil der Religionen. Sind diese Religionen – aus Ihrer Sicht – insofern „paranoid“?
Manfred Schneider: Das würde ich in dieser Form natürlich nicht behaupten. Wenn ganze Völker oder Gesellschaften Elemente einer solchen religiösen Vorstellung zu ihrer Überzeugung erheben und viele Menschen daraus ihre Weltsicht beziehen, dann ist es ein Element der Kultur selber. Andererseits neigen Sekten dazu, paranoide Vorstellungen zu entwickeln. Und die ausgeprägte Paranoia ist stets religiös. Zum anderen zeigen ja die großen Weltreligionen, dass sie ungeheure Auslegungsspielräume bieten und erlauben, an eine feste Bestimmung des Schicksals zu glauben oder auch den Glauben an die Freiheit eröffnen. Das war ja in der christlichen Ära der Gegensatz zwischen protestantischer und katholischer Religiosität. Von daher sind Religionen nicht grundsätzlich paranoide Systeme. Wobei man auch sehen muss, dass Paranoia eine Einstellung ist, die Erlösungsfunktion auf einzelne lebendige Personen verlegt. Wenn es wie zum Beispiel in der jüdisch-christlichen Tradition ein Messias ist, ein Gottgesandter, ein Dritter, der dies übernimmt, dann ist das etwas anderes, als wenn einzelne, lebendige Menschen auftreten und selbst die Messiasfunktion beanspruchen. Das ist der Unterschied.
Islamische Zeitung: Lieber Prof. Dr. Schneider, vielen Dank für das ­Gespräch.