Ökonomische Ordnung und geistige Wirklichkeit: Das Syndrom in unserer Zeit

(iz). Im Logbuch unserer Zeit werden vielleicht eines Tages Erhebungen und Statistiken, wie zum Beispiel die aktuellen Berichte zur globalen Vermögensverteilung, erstellt von der Nicht-Regierungsorganisation Oxfam, auftauchen. Die neuesten Berechnungen haben die Experten zum Auftakt des Weltwirtschaftsforums in Davos veröffentlicht. Der Bericht illustriert, wie sich die Lücke zwischen Arm und Reich weiter vergrößert und wie Konzerne und Superreiche ihre Gewinne erhöhen, indem sie Löhne drücken und Steuern vermeiden. Die Fakten sind ernst: 82 Prozent des globalen Vermögenswachstums gingen im letzten Jahr an das reichste Prozent der Weltbevölkerung, während das Vermögen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung ­stagnierte. Das reichste Prozent besitzt damit weiterhin mehr Vermögen als der gesamte Rest der Weltbevölkerung.
Die Ausführungen beschreiben ein globales Problem, jenseits der Grenzen nationaler Souveränität. Ein wichtiger Grund für die extreme soziale Ungleichheit ist nach Ansicht der Organisation die Steuervermeidung von Konzernen und Superreichen. Das reichste Prozent der Bevölkerung drückt sich durch Steuertricks um Steuerzahlungen von etwa 200 Milliarden US-Dollar pro Jahr. ­„Entwicklungsländern entgehen durch die Steuervermeidung mindestens 170 Milliarden US-Dollar an Steuerein­nahmen pro Jahr – mehr als die gesamte weltweite Entwicklungshilfe (145 Milliarden US-Dollar jährlich)“, liest man in dem Bericht.
„Den Preis der Profite zahlen Milli­arden von Menschen weltweit, die zu Löhnen, die nicht zum Leben reichen, schuften müssen und keinen Zugang zum öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem erhalten“, fasst Kampagnenleiter Jörn Kalinski die Lage nüchtern zusammen.
Es ist absehbar, dass der Bericht einen Expertenstreit über die Deutung der Bilanz einer weltweiten Ökonomie auslösen wird. Die Einen werden es weniger dramatischer sehen, die Anderen werden die Lage dramatisieren. Sicher scheint nur eins: Es geht ungerecht zu auf dieser Welt und kein Land der Welt wird sich künftig den Folgen des evidenten Krisenszenarios entziehen können. Mehr noch, das Problem, die surreal wirkende Umverteilung des globalen Vermögens, trifft uns auch, unabhängig wo wir leben, in der jeweils eigenen Daseinsform. Unsere Existenz, die Max Ernst „als ein einheitliches Feld, das das historische Ereignis, die ausgelebten Leidenschaften und die natürliche Welt des Wachstums, der Produktion und des Verfalls miteinander verbindet“ definierte.
Unsere Lage zeigt auch einen anderen Zusammenhang neu auf: das Verhältnis von Psychologie und Politik. Die Regierenden der Welt vermitteln eine Losung, die der ehemalige US-Präsident Barack Obama mit dem Slogan „Yes, we can!“ berühmt machte. Alles ist möglich, jedes Problem kann gelöst werden, wollte der Politiker damals sagen. Inzwischen wurde er, wie wir wissen, von einem neuen Präsidenten abgelöst, dessen psychologischer Status und sein Verhältnis zur Wahrheit überhaupt öffentlich diskutiert werden.
Im Gegenentwurf zu der These der Lösbarkeit aller ökonomischen und ökologischen Fragestellungen unserer Zeit bewegen sich breite Bevölkerungsteile in der Logik des Umkehrschlusses. „No, we cannot!“ ist die unausgesprochene Klausel derjenigen, die politisch aufgegeben haben und ihr Heil in der Kurzweil des Genusses suchen. Hinzu kommen neurechte Parteien, die ihren Anhängern die Phantasie des Zurück ins Gestern vorschlagen und damit die Idee propagieren, dass globale Probleme sich durch eine Wiederbelebung der antiquierten Idee des Nationalstaats bewältigen lassen.
Es gehört also keine übergroße Neigung zum Pessimismus, um sich gerade von den massenpsychologischen Wirkun­gen des Politischen, zwischen den Maximen „alles ist möglich“ oder „alles ist unmöglich“, zu fürchten. Die Reflexion auf die reale Lage sollte aber mindestens, so der slowenische Philosoph Slavoj Zizek, einerseits zu einem „Mut in der Hoffnungslosigkeit“ führen, andererseits aber in die Notwendigkeit, die humane Situation völlig neu zu bedenken.
In erster Linie gilt es hier zunächst, die angebotenen Diskurse rund um das Thema unserer gesellschaftlichen Situation zu reflektieren. Sie sind meist, so der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, „universitär“ (Wissenschaft) oder „hysterisch“ (Breaking News) geprägt, gleichzeitig aber in das dominante, kapitalistische System integriert. Das Subjekt, Ergebnis des Diskurses, dient dem Diskurs, meist ohne eine Möglichkeit zu sehen, eine eigenständige Debatte zu stiften, geschweige denn am Horizont eine Alternative anzubieten. Jede mögliche Alternative, die heute in eine Zone außerhalb des herrschenden Systems führen will, erscheint entweder als eine neue Form der Ideologie oder aber als eine Utopie.
„Betrifft uns Muslime dieses komplizierte Szenario?“, mag man als einfacher Gläubiger, der seinem Ritus folgt, fragen. Die Antwort kann nur ja heißen. Zunächst betreffen uns alle Symptome des modernen Lebens, von der Einsamkeit bis zum „Burn Out“. Wir beobachten zudem Ideologen aus den eigenen Reihen, die sich dem System mit ideologischer Gewalt entgegenstellen wollen. Und wir müssen auch zugestehen, dass kein muslimisches Land auch nur den Hauch einer alternativen Wirtschaftsordnung, falls wir dies als Grundproblem anerkennen, anbietet. Gerade in den muslimischen Ländern entdecken wir vielmehr in gleichem Maße die Symp­tome unserer Zeit.
Psychologische Probleme sind dabei der islamischen Zivilisation nicht unbekannt. Ein erstaunliches Buch eines muslimischen Gelehrten aus dem 9. Jahrhundert, („Nahrung für die Seele“), Abu Zayd al-Balkhi, gibt darauf faszinierende Hinweise. Al-Balkhi begründete de facto eine der ersten Schulen der Psychotherapie und beschreibt in seinem Werk menschlich-allzumenschliche Symptome wie „Angst, Vereinsamung, Depression oder Ärger“. Er entdeckt psychosomatische Kontexte und verfasst im Grunde eine Lehre gegen das negative Denken: „Das meiste, was Dir Angst macht, wird nicht eintreten.“
Im Kern rät der Gelehrte, das Symptom ernst zu nehmen, allerdings mit einer Gewissheit: „Wir sollten an der Überzeugung absolut festhalten, dass Allah keine Krankheit des Körpers oder der Seele erschaffen hat, ohne gleichzeitig ein Gegenmittel zu offenbaren.“ Abu Zayd al-Balkhi schließt sein Buch mit der zeitlosen Empfehlung, dass grundsätzliche Heilung meist schon ein enges soziales Feld und die Begegnung mit Menschen, die Wissen haben, versprechen.
Sollten wir davon ausgehen, dass es eine idealere Zeit für muslimisches Gemeinschaftsleben als die heutige gab, eine vergangene Realität, die damals durch wichtige islamische Institutionen wie Stiftungen oder Märkte geprägt war, sollten wir nicht so naiv sein zu glauben, dass es ein Paradies ohne Symptome war. Natürlich sind diese Zeiten nicht mit den heutigen, gerade was die psychologischen Wirkungen des modernen Lebens angeht, vergleichbar. Wir kehren insoweit zum Beginn dieses Artikels zurück.
Der Unterschied besteht – offensichtlich – vor allem auch in der heutigen ökonomischen Wirklichkeit. Das Phänomen trifft uns allerdings nicht unvorbereitet. „Riba“, hier als umfassender ökonomischer Sachverhalt verstanden, mitsamt seiner Auswirkung als Syndrom, ist in der islamischen Lehre und der Offenbarung bereits ausführlich beschrieben. Hier sollten wir die folgende Behauptung zur Diskussion stellen: In dem Maß, in dem die gesellschaftlichen Symptome der Moderne in ihrer ganzen Wucht auf­kamen, geriet das islamische Wirtschaftsrecht in Vergessenheit.
Vielleicht sehen wir gerade in der Vermittlung der Lehre zu diesem Thema, wie wir sie heute erfahren, einen weiteren Schlüssel. Islamische Theologie ist heute nicht zuletzt eine Facette des universitären Diskurses, ohne die Grundfrage der ökonomischen Situation und ihrer spirituellen Wirkung auf die Gläubigen noch ausdrücklich zu bedenken. Hierher gehört auch ein neuer Typus des Lehrers, der den Pessimismus und Pragmatismus unserer Zeit teilt: „No, we cannot!“
Hier trifft sich also die psychologische Wirkung mit dem politischen Credo unserer Zeit. Gerade die muslimische geprägte Politik hat sich beispielsweise von der Frage nach der Etablierung der Zakat verabschiedet, paradoxerweise das einzige Politikum, zu dem die authentische Lehre ausdrücklich verpflichtet. Die Zakat ist nicht nur eine mehr oder weniger gefallene Säule unserer Zeit, sondern auch das Symbol, das uns mit unserer ökonomischen, globalen Lage verbindet.
Wer die Regeln der Zakat studiert, wird nicht nur automatisch die Verpflichtung der Reichen zur Gerechtigkeit vernehmen, sondern sich auch mit der Geldfrage, bis hin zur Ethik der Geldpro­duktion, kurzum den Zahlungsmitteln, mit denen die Zakat bezahlt werden kann, beschäftigen müssen. Es ist kein Zufall, dass wir hier einem Mangel der Ausbildung begegnen und uns für die Aufklärung über den angesprochenen Bedeutungszusammenhang die Experten fehlen.
Es gehört, aus spiritueller Sicht, zum Paradox der muslimischen Situation, dass sich in unseren Reihen ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit verbreitet hat, als sei ein Kernelement der islamischen Praxis weder relevant noch umsetzbar. Wie sagt aber Goethe so schön: „Den lieb’ ich, der Unmögliches begehrt.“

,

Soziale Ungerechtigkeit: Wie können wir nachhaltig helfen?

(iz). Finanzen sind zu einem Problem geworden, welches die Aufmerksamkeit aller heutigen Menschen auf sich gezogen hat. Es gibt das bekannte Sprichwort, wonach „Geld die Welt am Laufen hält“. Die […]

IZ+

Weiterlesen mit dem IZ+ (Monatsabo)

Mit unserem digitalen Abonnement IZ+ (Monatsabo) können Sie weitere Hintergrundbeiträge, Analysen und Interviews abrufen. Gegen einen Monatsbeitrag von 3,50 € können Sie das erweiterte Angebot der Islamischen Zeitung sowie das ständig wachsende Archiv nutzen.

Abonnenten der IZ-Print sparen beim IZ+ Abo 50%.

Wenn Sie bereits IZ+ Abonnent sind können Sie sich hier einloggen.

* Einfach, schnell und sicher bezahlen per Paypal, Kredit-Karte, Lastschrift oder Banküberweisung. Das IZ+ Abo verlängert sich automatisch um einen Monat, wenn es nicht vorher gekündigt wurde. Sie können ihr bestehendes Abo jederzeit auf der Mein Konto-Seite kündigen.

,

Debatte: Muslime, eine Störung im System?

„Im Grunde gipfelt die ­bewusst hysterisch geführte Debatte in der Frage, ob Offenbarungen – sei es die Bibel, die Thora oder der Qur’an– den Erfordernissen bestimmter politischer Korrektheit entsprechen. Wer sich auf eine Offenbarung bezieht, nimmt ja eine Gestalt an, die dem Typus des vollständig integrierten Bürgers in das System grundsätzlich nie ganz ­entspricht.“
(iz). Die aktuelle Polarisierung der Gesellschaft geht einher mit einem neuen „Unbehagen in der Kultur“, bis hin zur Frage, ob die derzeitige Stimmung an ungute geschichtliche Erfahrungen der Deutschen erinnert. Zwar wiederholt sich, wie man weiß, die Geschichte nicht, wohl aber die alten Fragen. „Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kultur­entwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den mensch­lichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“, schrieb Sigmund Freud im Jahre 1930.
Die mögliche Selbstvernichtung der Menschheit, angesichts der systematischen Krise des Kapitalismus, die sich zumindest in ökologischer und ökonomischer Hinsicht deutlich zeigt, geht heute einher mit Sorgen um das Aggressionspotential von muslimischen Terroristen und Faschisten. Die Lage mündet heute in Debatten über eine neue Kultur, die das Eigene mit dem Fremden, die Tradition mit der Moderne versöhnt, und dadurch etwas wie einen Grundkonsens in der Gesellschaft ermöglicht. Das Thema wird begleitet mit Diskussionen über die künftige Rolle der Religion.
Fjodor Dostojewski hatte mit seinem berühmten verstörenden Satz „ohne Gott ist alles erlaubt“ die Grundfrage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer verbindlichen, allgemeinen Ethik im ­Säkularen angesprochen. Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek verknüpfte das so berühmte wie fragwürdige Postulat unlängst mit einer anderen Einsicht. Das Paradox, so Zizek, sei heute eher, dass ohne Gott alles verboten sei.
Der Denker spielt dabei auf den Trend in der heutigen Gesellschaft an, das grenzenlose Genießen absolut zu setzen, allerdings einhergehend mit unzähligen Verboten und Einschränkungen. Und er sieht in den unseligen Handlungen der ISIS-Partisanen eine weitere Umkehrung des ursprünglichen Lehrsatzes des Dichters. Sie, so Zizek, hätten mit ihrer ­ideologischen Umsetzung ihrer religiös-wahnhaften Mission gezeigt, dass gerade für sie alles erlaubt sei.
Zweifellos symbolisiert heute das Reale des 11. Septembers die ultimative Störung in unserer gewohnten öffentlichen Ordnung. Die radikale Politisierung einer muslimischen Minderheit hatte als Gegenreaktion zur Folge, dass der Islam und die Muslime vor allem aus politischen Maßstäben heraus reflektiert worden sind. Dieses Phänomen wirkt bis heute in allen Debatten über die Muslime nach. Der sogenannte politische Islam gilt dabei nach wie vor als Hauptstörung in der ­politischen Ordnung unserer Zeit.
Auf der Ebene der kritischen Selbstreflexion muss man hier vorab eingestehen, dass die Abrechnung mit den Ergebnissen der Politisierung der Muslime bisher in den muslimischen Köpfen eher verdrängt wurde. Zweifellos hat der berüchtigte politische Kampf, der unter quasi-religiösen Vorzeichen geführt wurde, bisher in ­erster Linie Terrorismus oder Ideologien, Diktatur und Bürgerkrieg hervorgebracht. Viele Muslime scheuen sich noch davor, gerade die religiöse Bedeutung dieser Niederlagen einzuschätzen und nicht etwa den imaginären Feind – wer immer es sei – für das eigene Versagen zu bemühen.
Auf der anderen Seite bietet sich eine andere Form des politischen Islam an, die gesellschaftliche Verunsicherung, die durch die Minderheit der radikalen Muslime entstanden ist, zu beheben. Ihre Vorstellung von liberalen Muslimen soll sich dadurch auszeichnen, dass die islami­sche Lebenspraxis nicht mehr stört. Das heißt, dass derartige Glaubensausübung – soweit sie überhaupt noch praktiziert wird – den eigenen Anspruch auf Wahrheit und Vollzug relativiert. Diese gehegte Praxis soll sich dann in Harmonie mit den anderen Religionen, die ebenso den politischen Anspruch abgelegt haben, wiederfinden.
Die Tragik dieser politischen Dialektik zwischen liberalen und konservativen Muslimen ist, die Möglichkeit der Harmonisierung konservativer und liberaler Aspekte des muslimischen Lebens unmöglich erscheinen zu lassen. Nicht zuletzt zeigt sich dies dadurch, dass das reale Geschehen unserer Zeit, rücklaufend, mit völlig konträren Interpretationen der Geschichte des Islam verknüpft wird. Sie wird immer wieder neu geschrieben. Im Extremfall erscheint sie als eine Deutung, die das historische Wirken des Propheten für das Entstehen einer islamischen Ideologie, zumindest als eine Möglichkeit in der Neuzeit, einfach kausal setzt. Natürlich verkennt diese Sicht, dass der Islam kein geschichtlich handelndes Subjekt ist und die Verbreitung der Praxis durch Muslime – je nach Situation und Verortung – von jeher völlig unterschiedliche Dimensionen angenommen hat.
Das entscheidende Problem ist hier weiterhin, dass der politische Diskurs andere Formen – man könnte sagen, der konstruktiven Störung durch die islamische Offenbarung in das westliche Erkenntnisverfahren – nicht mehr zu schätzen weiß. Vorlagen für eine andere Form des Dialogs gibt es hier zahlreiche: Philosophisch bekennt der Islam eine Einheit, die der Trinitätslehre des Christentums widerspricht. Ökonomisch führt das islamische Wirtschaftsrecht eine Mäßigung des Kapitals ein. Sozial erlaubt der Islam gerade die parallele, vollständige Entfaltung anderer Glaubensüberzeugungen. Über Jahrhunderte bestand hier ein so tiefes, wie thematisch vielfältiges Interesse an einem inhaltlichen Dialog mit dem Islam.
Zum Positiven der Begegnung Europas mit dem Islam gehört heute durchaus die Neugestaltung eines öffentlichen Kommunikationsraumes. Über viele Jahre hatten die Kommunen die Störung durch sakrale Bauten vermieden, indem sie diese in die Gewerbegebiete unserer Städte verlagerten. Heute aber wird die moderne Moscheeanlage gerade als ein Ort sozialer Dienstleistungen in vielen Städten durchaus bereits als eine Bereicherung angesehen. Die These der Islamisierung unserer Städte durch eine muslimische Infrastruktur setzt hier allerdings einen ideolo­gischen Gegenpunkt. Sie schürt das irra­tionale Misstrauen gegen die transzendente Ausrichtung der Muslime und ist mit Logik kaum aufzulösen. Paradoxerweise soll sich die absolute Mehrheit der Bevölkerung vor der Unterwerfung durch eine kleine Minderheit fürchten.
Im Grunde gipfelt die bewusst hysterisch geführte Debatte in der Frage, ob Offenbarungen – sei es die Bibel, die Thora oder der Qur’an – den Erfordernissen bestimmter politischer Korrektheit entsprechen. Wer sich auf eine Offenbarung bezieht, nimmt ja eine Gestalt an, die dem Typus des vollständig integrierten Bürgers in das System grundsätzlich nie ganz entspricht. Wer nun von einem geschlossenen säkularen System ausgeht – ein Bild, das unser Grundgesetz übrigens nicht teilt –, wird in der Glaubensausübung immer eine Form der Störung sehen. Hier mag man sich an das Bonmot Goethes erinnern: „Die Natur sei aber kein System.“
Gerade hier liegt aber auch der Abgrund muslimischer Ideologie, welche die symbolische Ordnung des Islam real in ein starres System übersetzen will. Bezeichnenderweise werden diese Manifestationen einer ideologischen Schreckensherrschaft zu Recht als gottlos empfunden. So wird gerne übersehen, dass hier sozialisierte Muslime, gerade aus unserer geschichtlichen Erfahrung heraus, durchaus gegen „Ismen“ aller Art sensibilisiert sind. Jenseits der angeblichen, politischen Konfrontation liberaler und konservativer Muslime, besteht hier ein wichtiger Konsens, auf Grundlage der Vernunft.
Es sollte jedenfalls, für eine neue Bewe­gung der Muslime, im Diskurs mit den Anderen, von größtem Interesse sein, zu verstehen, warum wir stören oder gar Unbehagen auslösen. Kehren wir zur Aussage Freuds zurück, müssen wir also einerseits klären, wie wir mit dem Aggres­sionstrieb einiger Muslime umzugehen gedenken und anderseits formulieren, worin genau der Beitrag des Islam gegenüber dem vorhandenen Selbstvernichtungstrieb des Menschen besteht.
Unter diesem Blickwinkel fällt auf, dass die Politisierung des Islam, insbesondere auch für uns Muslime selbst, im Sinne einer fatalen Einschränkung an der Beantwortung der hier aufgeworfenen Fragen scheitert. Vielleicht, ist es auch für die Gesellschaft selbst fragwürdig, zumindest für den Teil, der gemeinsam nach konstruktiven Lösungen sucht, ­warum der politisch definierte Muslim schnell in das Dilemma des Entweder-Oder gerät, als könne er nur das System entweder absolut bejahen oder verneinen. Hier führen nur neue Denkwege aus dem Dickicht des Politischen.
Es gilt dabei, die thematische Vielfalt der islamischen Lebenspraxis neu zu artikulieren. Unser eigener Beitrag sieht sich in diesem Sinne nicht als Teil einer Revolution, eher aber als Beitrag zur Evolution, im Sinne einer offenen Neubestimmung gesellschaftlicher Entwicklungen. „Jede soziale Störung ist nur das Suchen einer neuen, besseren Ordnung“, schrieb einst der Jurist Rudolf von ­Jhering. Dass Muslime diese Suche mit eigenen Beiträgen bereichern könnten, sollte nicht nur als Skandal, sondern als Zeichen eines neuen Konstruktivismus begriffen werden. Man könnte es auch so formulieren – nicht jede Form der ­Störung ist notwendig destruktiv.

,

Die Reform der Strukturen

(iz). Spricht man in diesen Tagen über „Alternativen“ im politischen Kontext, denkt man zunächst an die berühmte Aussage der Kanzlerin ange­sichts der Finanzkrise, die sie mit „there is no alternative“ kommentierte und anschließend an die Gründung der sogenannten „Alternative“ für Deutschland. Die Suche nach Alternativen bestimmt inzwischen viele Diskussionsfelder unserer Zeit, die durch die Produktion von Krisen einen allgegenwärtigen Veränderungsdruck erzeugt. Im Kern wird es den Muslimen nicht um eine Reform des Islam gehen, wohl aber um die Reformierung überkommener Struk­turen. Die Botschaft ist also simpel: Keine gesellschaftliche Gruppierung kann im Lichte radikaler Veränderungen gesellschaftlicher Prozesse heute einfach stillstehen.
Auch die muslimische Gemeinschaft reflektiert also notwendigerweise, wie sie sich auf die neuen gesellschaftlichen Herausforderungen hier und jetzt einstellen soll. Während der organisierte Islam kaum, zumindest nicht öffentlich, über die notwendige Reformierung seiner Strukturen spricht, sind viele Muslime in den sozialen Medien längst mit der Destruktion der Verhältnisse beschäftigt. In verschiedenen Debatten werden Unzufriedenheit über die Performance der Verbände geäußert, der antiquierte Bezug zur ethnischen Herkunft infrage gestellt und die Forderung nach Transparenz und Ortsbezogenheit der Entscheidungsebenen geäußert. Natürlich muss man daran erinnern, dass jede schnelle Des­truktion leichter fällt als die mühsame Konstruktion von echten Alternativen.
Zudem werden heute gewohnte Begrifflichkeiten destruiert, man will nicht mehr von „dem Islam“ und „den Muslimen“ sprechen. Inzwischen ist klar, dass niemand alleine weder für die Muslime in Deutschland sprechen, noch sie vertreten kann. Angesichts der Vielfalt der Muslime und des heute akzeptierten pluralen Verständnisses des Islam, ist es nicht mehr so einfach, das künftige Subjekt einer muslimischen Geschichtsschreibung zu definieren.
Letztendlich stellt sich aber auch die Frage, zumindest wenn man nicht nur eine Leerstelle schaffen will, wer – und in welcher Form – überhaupt künftig muslimische Aktivitäten anbietet. Das alte Modell denkt hier noch zu stark in der Formensprache der Repräsentanz, der zentralisierten Organisation von Mitgliedern und der Idee einer Stärke, die sich aus der Zahl der Vertretenen ergibt. Es gibt längst einen Gegentrend, der hier durchaus dezentrale und alternative ­Formen bevorzugt.
Im islamischen Recht selbst gibt es hier zunächst einen wichtigen Anstoß. Die muslimische Gemeinschaft basiert letztlich auf der lokalen Moscheegemeinde, die – so unterschiedlich ihre Mitglieder sein mögen – eine einfache Ordnungsfunktion anerkennt: die Zahlung der Zakat. Sie wird lokal erhoben und lokal verteilt, die Anerkennung dieser einfachen Verpflichtung definiert auch die Akzeptanz der lokalen Autorität, ohne dass es hier zunächst überhaupt weitere, zentralisierte Organisationsformen bräuchte. Die Erfüllung eines Pfeilers des Islam und die Erneuerung des ursprünglichen Sinnes dieses Gebotes zeigen auch die zeitlose Verantwortung gegenüber der Wirklichkeit der Offenbarung an. Sie hat insoweit eine Art Ankerfunktion.
Natürlich steht es den Muslimen nach wie vor frei, sich zu größeren Verbünden zusammenzuschließen, zum Beispiel, um gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen oder gesellschaftlichen Einfluss auszuüben. Hier stellt sich aber zunehmend die Frage, ob diese Machtstrukturen von unten nach oben, oder von oben nach unten organisiert werden. Viele Muslime, insbesondere muslimische Jugendliche, sind sich hier einig, dass sie in ihrer Religionsgemeinschaft mitbestimmen wollen und dass die Entscheidungsebene bestenfalls in ihrem Umfeld, zumindest aber in Deutschland sein sollte. Hier kommt auch ein neues Verständnis für die natürliche, meist urbane Einbettung jeder Community und die Bedeutung guter Nachbarschaft ins Spiel. Muslime sind zunehmend bereit, gesellschaftliche Probleme nicht isoliert, sondern im Wechselspiel mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen, ob muslimisch oder nicht, gemeinsam vor Ort zu lösen.
Darüber hinaus entwickelt sich die Forderung nach einer muslimischen Zivilgesellschaft, die das Miteinandersein der Muslime neu strukturiert. Die Verbände neigten bisher dazu, nur die jeweilig eigenen Machtstrukturen auszubauen und deren Interessen autonom zu vertreten. Gleichzeitig wächst aber an der Basis das Verlangen nach Querverbindungen, nach der gemeinsamen Verfolgung von Absichten, welche die Abgrenzungen durch antiquierte Verbandsstrukturen bisher eher behindern.
Die Idee von neuen Gilden, Zusammenschlüssen von Berufsgruppen, seien es Lehrer, Rechtsanwälte oder Journalisten, erinnern beispielsweise daran, dass die Reform von muslimischem Leben nicht per se im Widerspruch zur eigenen Tradition stehen muss. Heute ist wieder, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, klar, dass die Komplexität der Moderne nur in Gruppenarbeit zu bewältigen ist.
Die Suche nach Alternativen geht also einher mit der Wiederbelebung von bewährten Formen der Organisation und durch Innovationen, die sich aus dem technischen Fortschritt ergeben. Schon heute sind die wirklich spannenden, freien Diskurse eher im Internet zu finden, als in der realen Begegnung der unterschiedlichen Köpfe und Vordenker, die jede Gemeinschaft naturgemäß hat. Immer häufiger wird auch bemängelt, dass der organisierte Islam weder ausreichend Gemeinsamkeiten, überhaupt das innerislamische Gespräch, fördert oder koordiniert, noch die Dynamik der Präsenz der Muslime in Deutschland wirklich erwecken konnte.
Nicht zu übersehen ist auch der Trend aus den erfolgreichen zivilgesellschaftlichen Projekten der anderen. Ein Beispiel im Bereich der Medien ist das Projekt der taz, dem alternativen Medienhaus dem grünen Projekt. Die Zeitung ­basiert auf dem Einsatz tausender LeserInnen, die der grün-alternativen Bewegung eine Stimme verleihen wollten. Heute verfügt dieses basisdemokratische Medienprojekt über eine unabhängige Zeitung, eine ­Genossenschaft, die über eine Stiftung alternatives Gedankengut fördert und somit eine wichtige Rolle in der Medienlandschaft spielt.
Es ist bezeichnend für die Beschreibung der Situation der Muslime in Deutschland, dass sie einseitig auf das politische Potential der Muslime bezogen ist. Muslime verfügen aber auch über ein beachtliches ökonomisches und soziales Potential. Sie bsitzen eine große Kaufkraft, folgen dabei ethischen Ansprüchen und verlangen nach bestimmten Produkten. Die Idee muslimischer Einkaufs­genossenschaften oder Kooperativen, die gemeinsam kaufen oder gar produzieren, ist bisher noch kaum entwickelt. Warum sollten aber ein paar Hundert Muslime nicht nur eine Moschee bauen, sondern auch einen landwirtschaftlichen Betrieb, einen Laden oder ein Café gemeinsam aufbauen?
Bisher setzten muslimische Organisationen stark auf die staatliche Förderung. Aber auch hierzu gibt es längst Alternativen. „Crowdfunding“ ist eine weitere zeitgemäße Erfindung, die bei der Selbstorganisation zivilgesellschaftlicher Einrichtungen künftig eine wichtige Rolle spielen könnte. Diese Form der Finanzierung passt zu dem zweifellos vorhandenen, idealistischen Potential der Muslime, die gerade durch das Sammeln vieler kleiner Beiträge auch größere Projekte gemeinsam verwirklichen könnten.
Ist es ein Zufall, dass diese Alternativen bisher nicht ausreichend genutzt werden? Ein Grund für diese Blockade könnte sein, dass sie einen Mentalitätswandel voraussetzt. Im Mittelpunkt dieser anderen Initiativen steht nicht die Ermächtigung einer bestimmten Organisation, sondern die notwendige Dienstleistung gegenüber den Muslimen. Es geht insoweit mehr um die Bedürfnisse der Basis als die der Zentrale. Wer immer etwas Gutes tut, wird hier unterstützt, erfährt Solidarität und Zuspruch. Diese Aktion dreht sich also nicht nur um den eigenen Erfolg, sondern gerade um den Erfolg der Anderen.
Ein Schlüsselphänomen dieser Art von sozialer Dynamik ist die Bereitschaft zur Synergieentfaltung. Frauen und Männer treffen sich und sprechen über ihre ­Ansprüche und überlegen, wie sie sich gemeinsam helfen oder agieren könnten. Die eigenen Möglichkeiten werden dabei in dem Maße potenziert, wie soziale Kontakte überhaupt zur Verfügung stehen. In dieser Hinsicht fehlt es noch an intelligenter Koordination, also an Platt­formen, die nicht nach Zugehörigkeit zu Verbänden unterscheiden, sondern durch das Interesse an bestimmten Sachthemen offene Verbindungen schaffen. Es ist ein Nebeneffekt dieser Einstellung, dass eine inhaltliche Vielfalt entsteht und Muslime sich mit neuen Feldern beschäftigen, ­seien es der Umweltschutz oder Beiträge zum nachhaltigen Leben.
Auch hier ergeben sich aus den sozialen Medien neue spannende Optionen. Der thematisch orientierte Zusammenschluss von Muslimen geschieht hier zunächst auf virtueller Ebene, aber mit dem Ziel, auch reale Begegnung und reale Projekte vorzubereiten. Hierbei geht es um keine dauerhafte Mitgliedschaft in einem Verband, sondern um ein Engagement auf Zeit, dass nicht mit einer politischen ­Anbindung an eine bestimmte Politik einhergehen muss.
Eine Alternative wäre hier eine virtuelle Koordinationsplattform, die das aktuell enorme Potential der Muslime zusammenführt und für neue gemeinschaftsdienliche Projekte wirbt. Damit wirken neue Kommunikationslinien, die nicht nur vertikal hierarchisch aufgebaut sind, sondern horizontal durch die ganze Community verlaufen.

, , ,

Wie verhält man sich in der Moschee?

„(…) in Häusern, für die Allah erlaubt hat, dass sie errichtet werden und darin Sein Name genannt wird. Ihn preisen darin, am Morgen und am Abend, Männer, die weder Handel […]

IZ+

Weiterlesen mit dem IZ+ (Monatsabo)

Mit unserem digitalen Abonnement IZ+ (Monatsabo) können Sie weitere Hintergrundbeiträge, Analysen und Interviews abrufen. Gegen einen Monatsbeitrag von 3,50 € können Sie das erweiterte Angebot der Islamischen Zeitung sowie das ständig wachsende Archiv nutzen.

Abonnenten der IZ-Print sparen beim IZ+ Abo 50%.

Wenn Sie bereits IZ+ Abonnent sind können Sie sich hier einloggen.

* Einfach, schnell und sicher bezahlen per Paypal, Kredit-Karte, Lastschrift oder Banküberweisung. Das IZ+ Abo verlängert sich automatisch um einen Monat, wenn es nicht vorher gekündigt wurde. Sie können ihr bestehendes Abo jederzeit auf der Mein Konto-Seite kündigen.

,

Wie sollen wir die Zakat wiederbeleben?

(iz). Der Gesandte Allahs, möge ­Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Islam ist zu bezeugen, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Muhammad der Gesandte Allahs ist, das Gebet einzurichten, die Zakat zu zahlen, den Ramadan zu fasten und Hadsch zum Hause Allahs zu machen, wenn man dazu in der Lage ist.“ Wie jeder Muslim weiß, beruht unser Din auf fünf Säulen. Sie sind die fundamentalen Handlungen, dieses Dins. Sie machen uns zu Muslimen. Der Prophete, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, beschrieb Islam auf die erwähnte Art und Weise. Der Engel Dschibril fragte: „Wenn ich dies tue, bin ich dann Muslim?“ Der Prophet entgegnete: „Ja!“
Ohne eines dieser Elemente kann es keinen Islam geben. In diesem Fall wäre er wie ein Hülle. Sie müssen praktiziert werden. Nicht nur – wie viele glauben – auf persönlicher Ebene, sondern auch auf gemeinschaftlicher. Wiewohl alle diese Handlungen individuelle sind, bleiben sie doch nicht privat. Ihre Vervollkommnung, aber auch ihr gültiger Abschluss, liegen in der Gegenwart der Gemeinschaft. Das Glaubensbekenntnis (arab. Schahada) muss vor Anderen bezeugt werden. Das Gebet muss eingerichtet und nicht nur verrichtet werden. Das setzt Gemeinschaften, Moscheen und den Gebetsruf (arab. Adhan) voraus. Das Fasten im Ramadan beginnt mit einer bestätigten Sichtung des Mondes durch mindestens zwei Leute. Dieses Sehen des Mondes muss dann durch die Führung an die Leute übermittelt werden. Die Hadsch ist nicht nur eine individuelle, persönliche Reise, die jeder unternehmen kann. Sie ist auch das größte Treffen der Menschheit zu irgendeiner Zeit an irgendeinem Ort. Kein Ereignis könnte gemeinschaftlicher sein als das.
All diese „Säulen“ scheinen trotz aller Differenzen in dieser Zeit in Ordnung zu sein. Alle Muslime sagen die Schahada. Es gibt mehr Moscheen und Orte für das Gebet als jemals zuvor in der Welt. Und sie sind oft sehr gut besucht. Und niemals haben so viele Leute wie heute versucht, auf die Hadsch zu gehen. Soweit es den Ramadan betrifft, ist es selten, einem nicht-fastenden Muslim zu begegnen. Aus dem Gesagten geht scheinbar hervor, dass der Din in einem feinen Zustand und bei guter Gesundheit ist.
Sie werden erkannt haben, dass ich nur vier Pfeiler des Islam nannte. Und einer von ihnen fehlt. Dieser ist die Zakat. Obschon viele glauben, dass es blendend um die Zakat bestellt sei. Schließlich gebe es doch unzählige Organisationen die sie einsammelten und verteilten. Diese Stimmen sind im Unrecht.
In der gegenwärtigen Ära mangelt es nicht nur an der wahren Zakat. Sie fehlt beinahe vollkommen. Viele kennen nicht mehr die fundamentalen Regeln, die ihr zugeordnet sind. Hiermit meine ich nicht Details wie die Höhen des Nisab oder die Besitzarten, auf die sie erhoben wird. Nein, die absoluten Grundlagen: Auf was sie gezahlt wird, wer sie einsammeln und an wen sie verteilt werden darf.
Vor ihren Grundlagen muss ihre Wichtigkeit erkannt werden, denn in den Augen vieler Leute ist sie an den Rand gedrängt worden. Das liegt daran, dass es sich bei ihr nicht wirklich um einen Akt der Anbetung (arab. Ibada) handelt. Für solche Leute ist die Zakat mehr ein Werkzeug für sozialen Zusammenhalt und für Wohlfahrt. Sie behandeln die Zakat als bloße Wohltätigkeit oder als eine „Steuer“.
Zakat fehlt nicht nur in der Praxis, sondern ist auch in der Wahrnehmung vieler vom Islam abwesend. Fastet oder betet jemand nicht, gilt das bei ihnen als am Rande des Islam befindlich. Zahlt jemand aber seine Zakat nicht, zucken viele mit den Schultern, als handle es sich dabei um keine große Sache. Das liegt an der modernistischen Tendenz, Islam auf „Religion“ zu reduzieren sowie an dem Missverständnis, Ibadat und Mu’amalat als zwei komplett verschiedene Kategorien zu betrachten. Da die Zakat von vielen nicht als Anbetung gesehen wird, wird ihr nicht der gleiche Grad an religiöser Aufmerksamkeit zuteil.
Sie ist aber eine Handlung der Anbetung! Genau wie es das Gebet ist. Sie ist ein Recht (arab. Haqq), das Allah gebührt. Anbetung nicht bloß mit Worten und Bewegung, sondern mit allem, was wir haben und besitzen. Allah sagt im Qur’an: „Allah hat von den Gläubigen ihr Selbst und ihren Wohlstand im Austausch für den Garten erworben.“ (At-Tauba, 111)
Sowohl unser Selbst als auch unser Eigentum können der Anlass für unser Eintreten in den Garten sein. Dieser angebliche Unterschied zwischen Ibada und Mu’amalat existiert nicht, denn für den wahren Gläubigen (arab. Mumin) gibt es keine Ibada ohne Mu’amalat und keine Mu’amalat ohne Ibada. Sie sind untrennbar miteinander verbunden.
Unser ganzes Leben ist eine Gelegenheit zur Anbetung. Und mit jeder ihrer Handlungen beschäftigen wir uns mit Aspekten der Schöpfung unsere Herrn. Dieser Din ist keine Religion sondern eine Lebensweise. Nicht etwas, das wir unserem Leben hinzufügen, damit es wertvoller wird. Er ist der Weg, auf dem wir durch das Leben gehen. Und Rechtleitung kommt von unseren Herrn. Das gilt auch für jene Lebensbereiche, die uns noch so mondän erscheinen mögen: Ehe, Geschäft, Handel etc. Sie alle sind Möglichkeiten, sich unserem Herrn anzunähern und Wissen von Ihm zu steigern.
Zakat ist eine Brücke zwischen beiden, um uns besser auf diesem Weg zu helfen. Sie gilt als Ibada, aber gehört klar auch zu den Mu’amalat. Das gesamte Buch Allahs hindurch wird sie zusammen mit dem Gebet (arab. Salat) erwähnt, hat aber gleichzeitig genauso viel mit Geschäft sowie der Aneignung und Verteilung von Eigentum zu tun. Die Zakat ist der Weg zur Reinigung unseres Eigentums und der Schlüssel zur Annahme unserer Anbetung. Ibn ’Abbas, möge Allah mit ihm zufrieden sein, sagte: „Allah sagt: ‘Richtet das Gebet ein und zahlt die Zakat.’ Wenn jemand das Gebet einrichtet, ohne die Zakat zu bezahlen, von dem wird Allah das Gebet nicht annehmen.“
Zakat ist der Schlüssel zum Wohlergehen jedes Individuums und jeder Gruppe von Muslimen. Denn sie ist der Stoff, der beide verbindet. Ihre Abwesenheit ist der Hauptgrund für unsere heutige Schwäche der Umma. Wir müssen sie in all ihrer Majestät wiedererlangen. Viele Leute sind wegen vor Furcht vor Armut und aus Angst vor einem Verlust ihrer Versorgung nachlässig im Umgang mit ihrer Zakat. Sie zahlen bereits so hohe Steuern, viele Rechnungen und betrachten sie als eine zusätzliche Abgabe, die ihnen aufgebürdet wird.
Diese Einstellung offenbart nicht nur ihren Mangel an Verständnis von der Zakat, sondern auch ein Fehlen von Wissen von Wohlstand und woher er kommt. Diese Menschen betrachten ihren Besitz als den ihrigen. Ihr Recht. Die Früchte ihrer beträchtlichen Anstrengungen. Daher neiden sie alles, was von ihnen genommen wird. Dabei vergessen solche Menschen, dass alles Allah gehört und dass jeder Teil ihres Besitzes Sein Recht ist. Sollte Er einen anderen Zweck dafür vorsehen, wird Er es ihnen hinweg nehmen.
Allah sagt im Qur’an, alles in den Himmeln und auf der Erde gehöre Ihm. Und obwohl dies so ist, verlangt Allah, der Erhabene, von uns nur den kleinsten Anteil: 2,5 Prozent. Und nur auf den angehäuften Besitz, der ein Jahr lang unverbraucht vorhanden ist. Und auch dann erst, wenn ein Mindestmaß an Eigentum (arab. Nisab) erreicht ist. Im Falle von Gold sind dies 85 Gramm. Das Nehmen dieses Wohlstands verringert und verarmt uns nicht, sondern führt vielmehr zu einem Wachstum bei uns. Die Zakat reinigt unseren Besitz, worauf auch ihr Name schließen lässt. Wohlstand ist ein felsharter Diamant. Diese Abgabe schneidet und poliert ihn, bis er zu einem glänzenden Juwel wird, welches tatsächlich Wert besitzt.
Allah, der Erhabene, verspricht, dass der Besitz einer Person niemals durch Sadaqa verringert werde. Händigen wir die Zakat über, verringert sich unser Eigentum dadurch nicht. Im Gegensatz, es füllt sich an mit Segen und wächst weiter. ­Allah sagt im Qur’an: „Allah zerschlägt den Wucher vollkommen, aber lässt Sadaqa an Wert wachsen.“ (Al-Baqara. 276
Das liegt daran, weil der Wucher (arab. Riba) zum Horden und zur Stagnation von Wohlstand führt. Zakat hingegen ermutigt zur Geldzirkulation und zu seiner Verwendung. Zirkuliert es nur in einem kleinen Segment der Gesellschaft, dann verkümmert der Rest. Wenn dies geschieht, wird es nicht Gewinner und Verlierer, sondern nur Verlierer geben. Die Gesellschaften aber, in denen die Zakat eingerichtet und entrichtet wird, können sich vor den Stürmen wappnen – für diese und die nächste Welt.
Weil die Zakat oft nur als eine Art Pflichtspende behandelt wird, sammeln sie zumeist die Spendenorganisationen ein. Der Unterschied zwischen ihr und freiwilliger Großzügigkeit ist oft nur eine Frage des Ortes, wo man auf dem Spendenformular sein Kreuz macht. Diese Hilfsorganisationen nutzen die Zakat dann, um ihre Projekte zu finanzieren. Die meisten davon sind sehr lobenswert, entsprechen aber nicht den Empfängerkategorien der Zakat.  Der Bau von Moscheen, die Einrichtung muslimischer Schulen der der Betrieb von Waisenhäusern oder der Kauf von Lebensmitteln, Medikamenten oder Decken für Konflikt- und Armutszonen sind keine Anwendungsgebiete der Zakat.
Sie muss lokal verteilt werden, bevor sie weiter entfernt geschickt wird. Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, entsandte seinen Gefährten Mu’adh ibn Dschabal in den Jemen. Dort sollte dieser die Einsammlung der Zakat koordinieren. Mu’adh ibn Dschabal sollte die Zakat von den Wohlhabenden des Jemens nehmen und sie den Armen des gleichen Landes geben. Mit anderen Worten, die Zakat wurde am gleichen Ort verteilt, an dem sie genommen wurde. Erst, wenn es keine Empfänger mehr dort gibt, kann sie in benachbarte Regionen, Länder etc. gegeben werden.
Allah erklärt uns im Qur’an: „Wahrlich, die Sadaqa (Zakat in diesem Kontext) ist für die Armen, die Mittellosen, diejenigen, die mit ihr arbeiten (d.h. sie einsammeln), für diejenigen, deren Herzen nähergebracht werden sollen, und für die Freilassung von Sklaven, für die Verschuldeten, für die auf dem Wege Allahs und für die Reisenden (die ohne Mittel an einem fremden Ort gestrandet sind). Das ist eine Verpflichtung von Allah.“ (At-Tauba)
Allah, der Erhabene, erwähnt hier acht Kategorien von Empfängern. Das entscheidende Wort hier ist „Wahrlich…“, denn nur die Kategorien die folgend erwähnt werden, können Zakat überhaupt erhalten. Das Wort „für“ weist darauf hin, dass es in ihren Besitz übergeben werden muss und nicht für Projekte in ihrem Sinne benutzt werden kann, solange sie dem nicht zugestimmt haben. Das ist die Übereinkunft der vier Schulen. Ein Konsens kann nicht durch einen Analogieschluss (arab. Qijjas) aufgehoben werden, egal wie logisch dieser erscheinen mag.
Schließlich sind die humanitären Organisationen, welche die Zakat einsammeln, selbst ernannt. Niemand verlieh ihnen das Recht, sie zu nehmen. Diejenigen, von denen Allah in dem Vers spricht, welche die Zakat nehmen, sind immer Personen, die vom Bait al-Mal, das heißt, der Führung der Muslime, bestimmt werden. Solche Organisationen sind keine gültigen Empfänger für Zakat und können sie eigentlich nicht empfangen. Auch wenn sie gewiss mit guter ­Absicht an die Sache herangehen, wäre es besser, bemühten sie sich um ein ­System, bei der die Zakat angemessen und korrekt praktiziert werden würde
Zakat ist eine Funktion von Führung und Autorität. Sie wird nicht einfach gegeben, sondern genommen. In der Sura At-Tauba sagt Allah: „Nimm Sadaqa von ihrem Besitz, um sie zu reinigen und zu säubern.“ Nach Ansicht der Qur’ankommentatoren bezieht sich Sadaqa eindeutig auf Zakat. Hier wird der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, dezidiert als Führer der Muslime angesprochen und nicht als göttlich bestimmter Gesandter.
Der einzige Zeitpunkt an dem die Zakat individuell gesammelt und verteilt werden kann, ist in dem Fall, wenn die Führung ungerecht ist und ihr die Zakat nicht anvertraut werden kann. Besteht aber ein funktionierendes und gerechtes System zur Sammlung und Verteilung, dann gilt das individuelle Handeln als bloße freiwillige Spende und wird nicht auf die Zakat angerechnet. Darin sind sich die Gelehrten aller vier Schulen einig. An dieser Führung fehlt es offenkundig in unserer Zeit.
Das soll uns aber nicht daran hindern, die Zakat korrekt zu erheben und zu verteilen. Islam begann mit einer einzigen lokalen Gemeinschaft. Das ist unser Vorbild, an dem wir uns auch heute orientieren können. Die Wiederbelebung der Zakat gelingt nicht durch globale Kalifatsideen, sondern durch die Revitalisierung der Lebensmuster, aus denen diese große Gemeinschaft gebildet wurde.

, , , ,

Gesundheit in gemeinsamer Sache

(iz). In unserer modernen Denkweise neigen wir dazu, Krankheit dem Individuum zuzuschreiben. Und in gewisser Weise ist dies sicherlich wahr, schließlich leiden wir an unserer Erkrankung individuell. Bin ich krank […]

IZ+

Weiterlesen mit dem IZ+ (Monatsabo)

Mit unserem digitalen Abonnement IZ+ (Monatsabo) können Sie weitere Hintergrundbeiträge, Analysen und Interviews abrufen. Gegen einen Monatsbeitrag von 3,50 € können Sie das erweiterte Angebot der Islamischen Zeitung sowie das ständig wachsende Archiv nutzen.

Abonnenten der IZ-Print sparen beim IZ+ Abo 50%.

Wenn Sie bereits IZ+ Abonnent sind können Sie sich hier einloggen.

* Einfach, schnell und sicher bezahlen per Paypal, Kredit-Karte, Lastschrift oder Banküberweisung. Das IZ+ Abo verlängert sich automatisch um einen Monat, wenn es nicht vorher gekündigt wurde. Sie können ihr bestehendes Abo jederzeit auf der Mein Konto-Seite kündigen.

, , , ,

Die Welt zu einem besseren Ort machen

(Mvslim.com). Seit geraumer Zeit machen Lebensmittel und Kosmetika, die nach islamisch-rechtlichen Regeln produziert werden, Schlagzeilen in aller Welt. Globale Marken wollen die muslimischen Märkte mit ihren zertifizierten Produkten anzapfen. Inmitten […]

IZ+

Weiterlesen mit dem IZ+ (Monatsabo)

Mit unserem digitalen Abonnement IZ+ (Monatsabo) können Sie weitere Hintergrundbeiträge, Analysen und Interviews abrufen. Gegen einen Monatsbeitrag von 3,50 € können Sie das erweiterte Angebot der Islamischen Zeitung sowie das ständig wachsende Archiv nutzen.

Abonnenten der IZ-Print sparen beim IZ+ Abo 50%.

Wenn Sie bereits IZ+ Abonnent sind können Sie sich hier einloggen.

* Einfach, schnell und sicher bezahlen per Paypal, Kredit-Karte, Lastschrift oder Banküberweisung. Das IZ+ Abo verlängert sich automatisch um einen Monat, wenn es nicht vorher gekündigt wurde. Sie können ihr bestehendes Abo jederzeit auf der Mein Konto-Seite kündigen.

, ,

Identitäre Verzweiflung

(iz). In Stralsund stimmte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf den kommenden Bundestagswahlkampf ein. Mit zwei entscheidenden Sätzen positioniert sich die Rede Merkels in ihrem konservativen Lager. Zum einen sei das „Volk jeder, der in diesem Land lebt“ und zum anderen, so erklärte sie weiter, sei „die CDU nicht für zentrale Lösungen“, sondern glaube, dass die Dinge vor Ort gelöst werden müssten.
Mit beiden Bestimmungen dürfte sie Lob und Tadel einfahren. Das Dilemma für die Kanzlerin ist greifbar: Sie will sich abgrenzen von einer völkischen Volksinterpretation, in einem Bekenntnis zu einem „Wir“, das nicht exklusiv gedacht ist, gleichzeitig fügt sie aber auch eine nationale Komponente ein, die im Zeitalter der Zentralisierungen für die verunsicherte Klientel auch so etwas wie Heimat stiften will.
Nach der Wiedervereinigung steht die aktuelle Flüchtlingskrise für eine weitere Zäsur der bundesrepublikanischen Geschichte. Nach der Integration der Ostdeutschen in ein Deutschland in einem vereinigten Europa, geht es nun um den Umgang mit dem Zuzug Hunderttausender Immigranten. Wieder stehen die Deutschen vor einer ihrer wiederkehrenden Fragen: Wer sind wir eigentlich?
Gerade Muslime dürften wohlwollend zur Kenntnis nehmen, dass ihre Kanzlerin nicht der Versuchung erliegt, einem groben Nationalismus das Wort zu reden. Aber, sie steht nicht alleine in der Partei, vielen anderen Parteivertretern geht die vaterländische Rhetorik der Parteichefin nicht weit genug. Gerade die Gegnerschaft zum Islam, obwohl nur ein Bruchteil der Flüchtlinge ihn wirklich praktiziert, ist dabei für viele Konservative zu einem wichtigen Identitätsmerkmal geworden.
Fakt ist, die Folgen der größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte für Demokratie und Gesellschaft, das ökonomische Klima der Globalisierung überhaupt, haben auch die Konservativen im Land zutiefst verunsichert. Man sollte dabei nicht vergessen, dass die Bewältigung der Bankenkrise zur Entstehungsgeschichte der konservativen Konkurrenzpartei zur Regierungspartei, der AfD, geführt hat.
Inzwischen geht es aber im ganzen konservativen Lager vor allem um die Position gegenüber der Zuwanderung und – im Kern – um das künftige Verhältnis zum Islam. Es gehört zur Tragik, dass die Dramatik der Flüchtlingskrise und das unterschwellige Verlangen der Deutschen, sich wieder ihrem eigenen Gefühl des Identitätsverlustes stellen zu müssen, zusammenfallen. Die Gefahr darin beschrieb der Philosoph Kurt Hübner: „Identitätsverlust bewirkt Neurosen, und Neurosen sind bekanntlich keine besonders gute Grundlage für ein friedliches Miteinander.“
Längst sehen sich die Muslime in Deutschland einer politisierten Debatte ausgesetzt, die im Ergebnis Muslime in „verdächtige Islamisten“ oder „harmlose Esoteriker“ einteilt. Hinzu kommen so hitzige wie kontroverse Ausführungen um die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland. Zudem hat die Identitätskrise der größten türkischen Verbände die Debatte verkompliziert. Viele türkischstämmige Muslime sind zwar längst deutsche StaatsbürgerInnen, aber auch über ihre Organisationen mehr oder weniger stark mit der Türkei vernetzt.
Während die deutsche Gesellschaft unter einem natürlichen Veränderungsdruck steht, stagnieren einige der Verbände im Organisationsmodus der 1970er Jahre. Nach wie vor sind sie ethnisch abgegrenzt und nicht wirklich vorbereitet für die aktuelle Lage. „Die alten Organisationsformen funktionieren nicht mehr richtig, die neuen sind noch nicht da“, mag man denken, wenn man die ­aktuellen Debatten über den Status der DITIB nachvollzieht.
Im Ergebnis treffen sich unterschiedliche Fragen nach der Rolle von Identität in der modernen Gesellschaft, die heute von muslimischen und nichtmuslimischen Akteuren beantwortet werden müssen. Für das künftige Zusammenleben sind diese Fragen nach dem „Wer sind wir“ elementar. Der amerikanische Sozialpsychologe Clay Routledge beschreibt das Problem wie folgt: „Identitätspolitik macht die Beziehungen zwischen Bevölkerungsgruppen schwieriger, weil die jeweiligen Gruppenmitglieder fortlaufend an die trennenden Identitätsmerkmale erinnert werden.“ Wissenschaftliche Untersuchungen belegen zudem, dass die Betonung einer bestimmten Identität eine Opfermentalität in den Gruppen begünstigt. In den sozialen Medien lässt sich dieser Trend gut beobachten. Nach dem Trauma der terroristischen Anschläge in Europa, die von Muslimen durchgeführt worden sind, betonen Muslime, nach der Distanzierung von religiös motiviertem Terror, nunmehr verstärkt ihre eigene Opferrolle, fühlen sich – natürlich mit guten Gründen – gesellschaftlich diskriminiert und selbst verfolgt.
Aber, bei allem Verständnis über die Empörung gegenüber islamfeindlichem Rassismus, Muslime sollten auch erkennen, dass sie selbst zunehmend in einer Identitätspolitik verfangen sind, die exklusive Züge trägt und zum Teil ebenso wie die rechte Identitätspolitik auf ethnische oder völkische Komponenten setzt. Wie lange noch können, um nur ein Beispiel zu nennen, islamische Organisationen selbst an der ethnischen Trennlinie als Identitätsmerkmal festhalten?
Gerade die Jugendverbände der islamisch-türkischen Organisationen haben dies erkannt. Sie sind in Deutschland angekommen, sie sind die Basis der künftigen Community und wollen hier in Deutschland mitentscheiden. Dies schließt natürlich ein gutes Verhältnis zu muslimischen Ländern nicht aus. Wichtiger noch aber als die künftigen Organisationsformen ist das Verständnis dieser jungen Muslime über die eigene Identität. Sie entwickeln einen Lebensstil, der islamische Lebenspraxis mit erfolgreicher Partizipation in Berufs- und Gesellschaftsleben verbindet. Hier wird auch das Bekenntnis der Bundeskanzlerin für einen offenen „Volksbegriff“ positiv als eine Chance vernommen.
Aus muslimischer Sicht jedenfalls lässt sich die Frage nach der eigenen Identität nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe reduzieren. Die eigene Identität ergibt sich vielmehr aus dem Sprachvermögen, dem prophetischen Vorbild und der islamischen Lebenspraxis an sich. Heute sind sich Muslime bewusst, dass sie auf die Eigenschaft, Bürger zu sein, in einem modernen Staatswesen nicht verzichten können. Sie müssen nun auch erkennen, dass sie als Subjekte an Diskursen teilnehmen und durch sie definiert werden. Es liegt an ihnen selbst, auch eigene Debatten anzustoßen oder sich an gängigen Fragestellungen zu beteiligen.
Einer der größten Mängel der bestehenden Verbandslandschaft liegt wohl an dem Unvermögen, sich in den typisch deutschen Debatten, sei es die Frage nach der Technik, die soziale Frage oder eben die Frage nach der deutschen Identität, Gehör zu verschaffen. Der türkisch-deutsche Schriftsteller Zafer Senocak findet für den Sprachverlust drastische Worte: „Die Sprache der muslimischen Verbandsvertreter und der Geistlichen gleicht dem Morsealphabet auf einem sinkenden Schiff. Die gleichen Töne überall, die vorfabrizierten Floskeln, inhaltliche Leere der Gedanken.“
Auch wenn man es weniger hart als Senocak formulieren will, intellektuell ist die Führungsebene vieler Verbände nach wie vor zu stark auf ihre ehemaligen Heimatländer bezogen. Die Publikation von Presseerklärungen ersetzt nicht die Macht der öffentlichen Rede. Gerade hier, in der Debattenfähigkeit, zeigt sich aber, ob man wirklich in Deutschland angekommen ist. Überfällig sind inhaltliche Beiträge, die die ökonomischen und sozialen Lösungsansätze des Islam betonen und die Sicht auf die Rolle der Muslime im geistigen Leben hierzulande verändern.
Wo immer aber das nationale Pathos erklingt und den Inhalt ersetzt, sei es bei Deutschen, Türken oder Arabern, empfiehlt es sich, genau nachzufragen, was denn wirklich gemeint ist. Es ist kein Zufall, dass nationalistische Überzeugung meist mit einem Mangel an Bildung zusammenfällt.
Bei Vertretern von identitären Bewegungen (aller Couleur) macht man oft die Erfahrung, dass es ihnen auf Nachfrage gerade schwerfällt, wirklich sinnvoll zu begründen, was ihre eigene Identität positiv ausmacht. Der romantisierende Blick in die Vergangenheit beantwortet noch nicht, wie man in den modernen Konsumgesellschaften, die sich weltweit durchsetzen, Kultur und Solidarität bewahren will.
In diesen Tagen veröffentlicht der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer ein für diesen Kontext wichtiges Buch, das sich um die berühmte Frage „Was ist deutsch?“ dreht.
Auf – bezeichnenderweise – beinahe 1000 Seiten stellt der Gelehrte die Widersprüche, Herausforderungen und Veränderungen der Geschichte deutscher Selbstbestimmung vor. Man würde sich wünschen, ganz nach dem Vorbild Goethescher Forderung nach einer Weltliteratur, dass dieses Buch eine breite Debatte stimuliert. Die kritische Frage, „Was ist türkisch?“, oder „Was ist arabisch?“, müsste ergänzend herangezogen werden, um in einer künftigen, bunteren Gesellschaft bedeutende Gemeinsamkeiten und ein neues Wir-Gefühl auszuloten.
Borchmeyer erinnert in seiner Übersicht nicht zuletzt an die klassische Sicht: „Deutsch-Sein heißt eigentlich übernational, heißt europäisch, heißt weltbürgerlich denken. So ist es nämlich in allen klassischen Definitionen des Deutsch-Seins der Fall gewesen.“
Nimmt man diese Formulierung ernst, fällt auf, dass in dieser Definition „Deutsch-Sein“ und „Muslim-Sein“ ohne jeden Sinnverlust auswechselbar sind. Vielleicht treffen sich hier die Bemühungen der Muslime, ihre Mitte zu finden, mit dem Ideal eines vereinigten Europas. Wie immer die Identitätsdebatten sich weiter entwickeln, Muslime werden wohl kaum auf Seiten derjenigen stehen, die einen Rückfall in das Zeitalter der Nationalstaaten befürworten.

, , ,

„Den Menschen Wärme spenden“

(iz). Laut dem Berliner Senat sind in Berlin über 10.000 Menschen wohnungslos. Schätzungen zufolge leben von ihnen bis zu 6.000 auf der Straße. Genaue amtliche Zahlen gibt es dazu nicht, […]

IZ+

Weiterlesen mit dem IZ+ (Monatsabo)

Mit unserem digitalen Abonnement IZ+ (Monatsabo) können Sie weitere Hintergrundbeiträge, Analysen und Interviews abrufen. Gegen einen Monatsbeitrag von 3,50 € können Sie das erweiterte Angebot der Islamischen Zeitung sowie das ständig wachsende Archiv nutzen.

Abonnenten der IZ-Print sparen beim IZ+ Abo 50%.

Wenn Sie bereits IZ+ Abonnent sind können Sie sich hier einloggen.

* Einfach, schnell und sicher bezahlen per Paypal, Kredit-Karte, Lastschrift oder Banküberweisung. Das IZ+ Abo verlängert sich automatisch um einen Monat, wenn es nicht vorher gekündigt wurde. Sie können ihr bestehendes Abo jederzeit auf der Mein Konto-Seite kündigen.