Brennpunkt Berlin oder wie man in der modernen Stadt wohnt

Berlin

(iz). Nach der Silvesternacht geriet Berlin wieder einmal in die Schlagzeilen. Mehr als hundert junge Menschen wurden während der Krawalle kurzzeitig festgenommenen. Sie hatten unter anderem Sprengkörper auf Krankenwagen und Feuerwehrleute geworfen. Auf einigen Straßen und Plätzen herrschte einige Stunden lang die Anarchie. Gegen die Verdächtigen wurde überwiegend wegen Brandstiftung, Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz, Landfriedensbruchs sowie tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte ermittelt. 

In den Talkshows der Republik rätselten Experten über die Hintergründe der Gewalt und das Ressentiment der Gewalttäter gegen die öffentliche Ordnung. „Wer anderen die Erniedrigung wünscht, will den Ort verwüstet sehen, an dem sie integer bei sich wären“, schrieb einst Peter Sloterdijk über das Phänomen der Ausschreitungen von Minderheiten in der modernen Großstadt.

Die Hauptstadt ist keine einfach zu fassende Metropole. Über Jahrzehnte war die Stadt geteilt, bis sie wieder rund um eine neu geschaffene, imaginäre Mitte ihre Einheit wiederfand. Man sucht vergeblich nach einem Zentrum wie in London oder Paris, viel mehr besteht Berlin aus Stadtteilen, die jeweils unterschiedliche soziale Lagen repräsentieren. Besucht man Grunewald, Mitte, Neukölln oder Marzahn wird einem schnell bewusst, dass es das Berlin eigentlich nicht gibt. Dennoch stiftet die Stadt eine Identität. Viele junge Menschen, mit oder ohne Immigrationshintergrund sehen sich selbst zunächst als BerlinerInnen. Dabei spielt die Herkunft eine untergeordnete Rolle, ist die Stadt doch von jeher kosmopolitisch.

Es wäre ein Rückschritt, wenn die Silvesternacht von Berlin, wie es einige Politiker forderten, dazu führen würde, von den Vornamen der Menschen abzuleiten, ob sie echte Berliner BürgerInnen sind oder nicht. Die Lebensleistung der ZuwandererInnen ist in dieser Stadt überall dokumentiert. Nicht nur der berühmte Kebab-Laden ist eine Erfindung von Einwanderern, sie sind auch als Arbeitskräfte unverzichtbar und der neue Mittelstand hat tausende Jobs in der Stadt geschaffen.

Für die Entdeckung von Berlin braucht man Jahre. Ich erkunde immer wieder die verschiedenen Bezirke mit dem Auto, der Straßenbahn und zu Fuß, laufe durch Parks und Grünanlagen, fahre auf Betonpisten an Wohnsilos vorbei, erlebe die kleinstädtische Atmosphäre im Kiez, bestaune die alte Größe unter den Linden und flaniere durch die Konsumtempel der Stadt. Irgendwo zwischen Gropiusstadt und Grunewald, Charlottenburg und Marzahn frage ich mich manchmal: ist Berlin eigentlich eine schöne Stadt? Zu einem klaren Urteil kommt es naturgemäß nicht.

Wenn der Schriftsteller Cees Nooteboom Recht hat, dass eine Stadt wie ein Buch ist, und der Reisende sein Leser, dann ist diese Metropole mit all ihren verschiedenen Seiten keine Kurzgeschichte. Es gibt so viele Ansichten auf diese Stadt, dass sich eine gewisse Reizüberflutung einstellt, die sich aus dem Übermaß des Angebots und der Flut von Menschen, seien es Passanten, Konsumenten, Arbeitende, Touristen oder Flüchtlinge ergibt. Ein Gang durch die Straßen sammelt unzählige Augenblickseindrücke, die wir – vermutlich unbewusst – immer wieder in unser Bild von der Stadt einordnen. Der Eindruck von Schönheit und Trostlosigkeit wechselt sich dabei ab. Aber, Berlin, Gott sei Dank, bietet dem Wanderer auch immer wieder seine Ruhepole an, eine Bank im Park, ein kleines Kaffee, eine Moschee oder irgendeine andere ruhige Ecke.

Natürlich muß man sich auf diesen Stadtrundgängen, die fortlaufende Bewegung erfordern, einem bekannten Dilemma stellen. Der Philosoph Giorgio Agamben beschreibt es so: „Der zeitgenössische Mensch kehrt abends nach Hause zurück, und ist völlig erschöpft von einem Wirrwarr von Erlebnissen – unterhaltenden oder langweiligen, ungewöhnlichen oder gewöhnlichen, furchtbaren oder erfreulichen, ohne dass auch nur eines davon zur Erfahrung geworden wäre.“

Agamben mag Recht haben, aber Berlin zeigt auch die andere Seite der Medaille. Die Stadt ist ein einmaliger Erfahrungsort, ein großes Mahnmal, in der sich die machtvolle Begegnung von abgründigen und beeindruckenden Geschichten, Siege und Niederlagen, manifestiert. Wir Zeitgenossen, an Frieden und Wohlstand gewöhnt, sind hier nur stille, im Grunde dankbare Beobachter, die das ungeheure Leid vergangener Geschichte nur erahnen können. Zumindest diese Einsicht nimmt jede(r) BesucherIn als eine Erfahrung mit, denn Geschichte und Geschichten hat die Stadt an jeder Ecke zu bieten. 

Um nur ein Beispiel zu nennen: In unmittelbarer Nachbarschaft des Gropiusbaus blickt man auf Reste der Mauer und ein Museum, das sich der „Topographie des Terrors“ widmet. Die Trennung von Ordnung und Ortung, die der Jurist Carl Schmitt, als Wesenszug des Nihilismus definiert, wird hier dramatisch erfahrbar. Die Organisation der Ideologie schuf diese Orte ohne Recht, denen man auf dem Berliner Stadtgebiet immer wieder begegnet. Diese Spuren deuten darauf hin, dass der Mensch für seine historischen Untaten einen Preis bezahlen muss: Die Wunden der Vergangenheit, die ehemaligen Grenzen, die Bausünden und die oft planlos erscheinende Stadtentwicklung ergeben bis heute ein Bild der Zerrissenheit. Die moderne Architektur, die den Ost- und Westteil der Stadt zusammen wachsen lässt oder Baulücken füllt, folgt in den meisten Fällen nur dem ökonomischen Kalkül der effizienten Nutzung.

Der Anthropologe Marc Augé bietet eine begriffliche Unterscheidung an, die den Blick auf eine moderne Großstadt wie Berlin tiefer ausfallen lässt. In seinem Essay „Nicht-Ort“ beschreibt er die Zunahme von sinnentleerten Funktionsorten, wie beispielsweise Flughäfen, U-Bahnen, Flüchtlingslager, Supermärkte oder Hotelketten. Es handelt sich um keine anthropologischen Orte, man ist nicht heimisch in ihnen. Diese Räume stiften keine individuelle Identität, haben keine gemeinsame Vergangenheit und schaffen keine soziale Beziehungen.

Ein Spaziergang durch die neue Mitte am Potsdamer Platz, entstanden in der Wildwestzeit nach der Wende, lässt daran denken, ob es sich hier um einen dieser beschriebenen Nicht-Orte handelt. Es ist ein belebter Stadtteil, rund um einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt entstanden. Hier entstanden Hotels, Kinos und die Hauptzentralen diverser Unternehmen. Das Sony Center, mit seiner weit sichtbaren Dachkonstruktion, die einen japanischen Berg symbolisieren soll, stellt eine spektakuläre Ingenieurleistung dar.

Im darunter liegenden Hauptraum, dem sogenannten Atrium strömen die Besuchermassen in die Kinos, Museen und Wohnungen des riesigen Gebäudes. 

Der Begriff Atrium kommt möglicherweise vom lateinischen ater, was so viel wie rauchgeschwärzt bedeutet. In diesem Raum befand sich ursprünglich der aus einer offenen Feuerstelle bestehende Herd, der die Decke schwärzte. Der Raum diente als Speiseraum, Arbeitsraum und Aufenthaltsraum der Hausbewohner. Im Sony Center wird der Raum von einem groß dimensionierten Bildschirm dominiert, um den sich die Zuschauer versammeln und die Werbung und Beiträge der Unterhaltungsindustrie anschauen. Das Gebäude, das in dieser Form in jeder Großstadt der Welt stehen könnte, ist auf diese Weise in die globale Ordnung des Internets eingebunden. Ein neuer Typus, den man in der Stadt beobachten kann, ist der Phoneur, der sich mit Hilfe mobiler Technologie im Stadtraum bewegt.

Die Rückbindung an die Berliner Vergangenheit wird in der neuen Mitte durch eine architektonische Kuriosität gewährleistet. Wie in einem Schaukasten sind Säle des ehemaligen Hotel Esplanade in das Ensemble integriert. Das Hotel war zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein sozialer Treffpunkt für den Kaiser, Politiker und Künstler. In seinen Berliner Erinnerungen staunt der Schriftsteller Cees Nooteboom über den Anblick: „Hinter Glas etwas vom früheren Kaisersaal, aber es ist so ähnlich wie der zweifache Tod aufgespießter Schmetterlinge in einer Vitrine, sie hätten sich längst aufgelöst haben müssen, doch sie sind noch da. Nur fliegen können sie nicht mehr.“

Wie wohnt man in der modernen Stadt? Diese Frage beschäftigte schon Antoine de Saint Exupéry (Die Stadt in der Wüste): „Ich habe eine große Wahrheit entdeckt: Diese: dass die Menschen ein Heim haben, und dass sich der Sinn der Dinge für sie wandelt je nach dem Sinn ihres Hauses …“ Um das soziale Verhalten und die soziale Lage der Berliner zu verstehen, muss man schlicht untersuchen, wie sie leben. Zum Beispiel in der, in den 70er Jahren erbauten Gropiusstadt.

Das Viertel wurde durch ein Buch (1978) berühmt: „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo.“ Mit drastischen Worten beschreibt Christiane F. darin ihre damalige Drogenkarriere und die Sozialisierung in dem Neubauviertel. Am Gropiushaus kann man über die Visionen des Architekten Walter Gropius nachdenken, seine Idee von Häuserfabriken und Wohnungen, die am Fließband erstehen. Der Bruch mit den alten Traditionen des Bauens begründet er mit der Notwendigkeit einer neuen Wohnform für den „einheitlichen Erdenbürger“. Seine Grundüberzeugung war einfach: er glaubte „daß der Mensch, (…), vom biologischen Standpunkt aus nur eine geringe Menge an Wohnraum benötigt, zumal wenn diese betriebstechnisch richtig organisiert wird.“ In ganz Deutschland finden sich Spuren dieses Rationalismus. Die neuen Bautechniken, Berlin ist voll davon, wurden im Nachkriegsdeutschland kontrovers diskutiert. Ein Kollege des Baumeisters, Adolf Behne, fasste die Kritik zusammen: „Der Mensch wird zur berechneten Figur, seine Bedürfnisse werden auf das Funktionieren reduziert und zum Wohnen erhält er einen Reisekoffer, aus dem jegliche Form von Individualität und Gefühlsleben ausgesperrt ist.“

Die Wohnungsnot und der sich daraus ergebende Mangel an sozialer Zirkulation, gehört zu den dringendsten Problemen Berlins. Im Jahre 1951 hielt der Philosoph Martin Heidegger einen Vortrag mit dem Titel „Bauen, Wohnen, Denken“. Für den Denker ist das Bauen keine Frage der angewandten Technik. Das Wohnen ist für ihn die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind. „Wir wohnen nicht, weil wir gebaut haben, sondern wir bauen und haben gebaut, insofern wir wohnen, das heißt als Wohnende sind.“ Heideggers provokante These lautet somit: „Die eigentliche Not des Wohnens zeigt sich nicht erst im Fehlen von Wohnungen.“ Das Dasein ist Teil einer Einheit, die der Philosoph das “Geviert“ nennt, eine Verknüpfung von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen. „Die Sterblichen sind im Geviert, indem sie wohnen“, trägt er vor. Echte Bauwerke fügen in der Konsequenz dieses Denkens den Menschen in einen philosophischen Kontext ein.

Die Zukunft des Wohnens wird heute, in Zeiten des Wohnungsmangels und der hohen Mietpreise, heftig diskutiert. Viele, gerade junge Leute in Berlin, beklagen steigende Nebenkosten und berichten über ihre vergeblichen Versuche eine alternative Wohnung zu finden. Der Bau eines eigenen Hauses ist für die meisten Menschen sowieso unbezahlbar geworden. Sogar die Umsetzung einer alten Bauhaus-Idee, kleine bezahlbare Wohnflächen mit Gemeinschaftseinrichtungen zu ergänzen, wird diskutiert.

Die Frage, wie neue soziale Bänder die Menschen miteinander verbinden, ist damit noch nicht gelöst. Der zivilisierte Mensch von heute strebt eigentlich nach der Möglichkeit, auf menschliche Unterstützung zu verzichten. Peter Sloterdijk spricht gar von einem „bloßen atomistischen Haufen von Individuen“. Er definiert egosphärische Formen: „Das Apartment der Ort, an dem die Symbiose der Familienmitglieder, die seit unvordenklichen Zeiten die primären Wohngemeinschaften bilden, aufgehoben wird, zugunsten der Symbiose des alleinlebenden Individuums mit sich selbst und seinem Environment.“

Wenn der Satz „Jeder ist eine Insel“ in den modernen Großstädten für die Mehrheit der Populationen nahezu wahr geworden ist – was heißt dies dann, für die Möglichkeit Gesellschaft zu denken? Tatsächlich versucht die Politik zu verhindern, dass Berlin sich zu einem Sammelsurium von Parallelgesellschaften entwickelt. Die Wohnungsfrage ist nur eine Dimension des Problems. Die Stadt muss aber auch echte Orte fördern, in denen soziale Bänder entstehen können. Hier liegt auch das eigentliche Potential von Moscheeanlagen, die mit ihren Dienstleistungen die Nachbarschaft in einen positiven Kontext setzen.

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