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Debatte: Muslime sind keine Rasse

„Muslime können und sollten eine anspruchsvolle Rassismustheorie besitzen. Und die verstecken Wege ansprechen, auf denen sich Vorurteile zeigen können. Sie sollten auch die Art und Weise kennen, in denen Ungleichheiten generationsübergreifend – und zwischen verschiedenen Lebensbereichen – als Folge von Missgunst, Selbsttäuschung, Unfähigkeit und Unwissenheit bestehen können. Eine solche Theorie sollte sie jedoch nicht dazu treiben, ihren Glauben an Gott, die Seele oder das Jenseits in ironische Ferne zu rücken.“

Antimuslimische Vorurteile sind ein großes Problem, dem heute alle Muslime auf die eine oder andere Weise ausgesetzt sind. Wir werden untergraben, herausgefordert und ins Visier genommen. Wie wir dieser Herausforderung gegenüberstehen, wird in das Gewebe unserer Seelen eingehen – ob wir das wollen oder nicht.

(Renovation). Unglücklicherweise reagieren viele Intellektuelle auf das antimuslimische Vorurteil (mehrheitlich als Islamophobie bezeichnet) mit Argumenten, deren Annahmen nicht nur im Widerspruch zum Islam stehen, sondern zu Religion insgesamt. Ein wachsender, wenn nicht dominanter Trend in der akademischen und aktivistischen Literatur formuliert Muslimfeindlichkeit als Form von Rassismus. In diesem Ansatz ist das Vorurteil nicht nur Phänomen mit einer rassistischen Dimension. Vielmehr gilt Islamophobie demnach als Form des Rassismus, wurzelt in ihm oder sollte in seinem Rahmen studiert werden.

Die Formulierung „Islamophobie ist antimuslimischer Rassismus“ hat bestenfalls die Absicht, auf bestehenden rechtlichen Schutz für ethnische Minderheiten zurückzugreifen. Das ehrenwerte Ziel ist dabei der Schutz verletzlicher Menschen vor Rassismus, der als Sorge um die nationale Sicherheit, Kultur oder eine „Kritik an Ideen“ getarnt ist. Aber die Reduzierung von Islamophobie auf Rassismus verwirrt unser Verständnis der wirklichen Motive hinter antimuslimischen Vorurteilen und hängt von missbräuchlich verwendeten – oder konfusen Ideen – wie „Rassifizierung“ ab, die für viele Leute kaum zu begreifen sind.

Schlimmer als das: Der konzeptionelle Apparat, der „Islamophobie ist Rassismus“ begründet, wandelt Islam in eine bloße, kulturelle Markierung nicht-weißer Menschen. Eine Chiffre, die spirituell, intellektuell und moralisch inaktiv ist. Der ausschließlich „rassistische“ Rahmen (in einer Welt, in der Menschen durch viele Arten von Unvernunft, Egotismus und Fanatismus motiviert werden) erweckt den Eindruck, Islam sei nur deshalb interessant oder herausfordernd, insofern er eine Domäne nicht-weißer Menschen sei. Religion wird so zu einem weiteren sozialen Faktor einer Welt, in der menschliche Angelegenheiten auf Rasse, Klasse, Geschlecht und Sexualität reduziert sind.

Um es deutlich zu sagen: Ich weise keine Formulierungen zurück wie „Islamophobie oder Rassismus überschneiden sich signifikant“ oder „Rassismus ist ein Hauptbestandteil von Islamophobie“. Sie waren einmal die Norm in der Beschreibung, wie sich Islam und Ethnie überschneiden. Mein Einwand richtet sich gegen jene theoretisierenden Versuche, wonach jegliche Islamfeindlichkeit als Rassismus zu verstehen sei. Oder (was auf das Gleiche hinausläuft) auf die Ableitung, dass die einzige relevante Form antimuslimischen Vorurteils einen rassistischen Charakter hat.

Die meisten verwenden „Rassismus“, um eine Handlung oder Haltung zu beschreiben, die Vorurteile, Diskriminierung oder Feindschaft gegen das Mitglied einer anderen (als solcher wahrgenommenen) „Rasse“ aufgrund Aussehen oder Herkunft zum Ausdruck bringt. Nach diesem alltäglichen Wortverständnis ist Rassismus ein Fehler im Charakter des Rassisten. Implizit können seine Unwissenheit und Vorurteile vielleicht durch die Kultivierung von Wissen, Empathie und gutem Willen korrigiert werden. Aber nun bedeutet Rassismus unter Soziologen, Anthropologen, Juristen, Philosophen und Aktivisten viel mehr (oder gar etwas ganz anderes). In diesem erweiterten Sinne gilt Rassismus als Struktur oder System. Demnach ist er nicht nur eine Frage der Absicht, sondern ist auch (oder vielleicht vorrangig) eine von Ursachen und Wirkungen. Einkommensunterschiede können gewisserweise rassistisch sein, ohne dass dazu auf persönlicher Ebene eine Absicht besteht, denn Rassismus ist Eigenschaft eines Systems oder einer Struktur.

Ein Motiv für diese Ausweitung von Rassismus über die individuelle Absicht hinaus war das vorgestellte Scheitern von Leuten, die subtilen Wege zu verstehen, wonach tief gehende Ungleichheiten anhielten, selbst nachdem ausdrücklicher Rassismus im Großteil des öffentlichen Lebens inakzeptabel wurde. Einige Gelehrte und Aktivisten haben behauptet, dass das Projekt aus der Bürgerrechtsära für ethnischen Universalismus und Gleichheit vor dem Gesetz gescheitert sei. Und dass genau die Gesetze und andere Maßnahmen, die angeblich zur Bekämpfung von Rassismus gedacht seien, als rechtlicher Schirm verwendet würden, um Rassendiskriminierung auf verdeckte Weise wirksam aufrechtzuerhalten. Gesellschaften mögen die meisten ausdrücklichen und extremen Rassismen aus der Öffentlichkeit verbannt haben. Aber rassistische Diskriminierung funktioniere weiterhin innerhalb und dank der „farbblinden“ und „post-ethnischen“ Strukturen. Viele Akademiker und Aktivisten gelangten zur Ansicht, dass Rassismus kein Problem sich verändernder einzelner Geister sei und dass es inkorrekt sei, Rassismus entweder als unvernünftig oder verwirrt zu behandeln. Rassismus sei kein Problem schlechter Menschen, die unvernünftig innerhalb eines gerechten und rationalen Systems operierten. Das System selbst war rassistisch und von Rassismus abhängig.

Gemeinsam mit dieser Betonung von strukturellem Rassismus besteht der Glaube, dass Rassismus nicht unabhängig von anderen Formen der Unterdrückung behandelt werden könnte, welche das System ausmachen: Rassistische, frauenfeindliche und klassizistische Diskriminierung bilden so eine Matrix der Unterdrückung. Es gebe ein System.

In der alten Vorstellung waren all diese Formen von Vorurteil und Diskriminierung abzulehnen. Sie unterschieden sich aber voneinander und konnten dementsprechend analysiert werden. Der neue Ansatz zu diesen Kategorien (angefangen mit Ethnie und Geschlecht) sieht sie nicht als getrennt, sondern als sich überschneidende Hierarchien der Unterdrückung. Beispielsweise sei es im Falle schwarzer Frauen unmöglich, Rassismus und Sexismus voneinander zu trennen. In der Praxis würden sich beide verstärken. Daher sei die Erfahrung von Unterdrückung durch schwarze Frauen nicht bloß als Rassismus hier und Sexismus dort beschrieben, sondern als ganz eigene Realität.

Intersektionalität (wie dieser Ansatz bekannt wurde) ist die natürliche Verlängerung dieser Bewegung in Richtung von Strukturen und System. Eine große soziale, wirtschaftliche und politische Struktur könne gleichzeitig rassistisch, frauenfeindlich und klassistisch sein. Und zwar auf sich gegenseitig verstärkenden Wegen, die nicht einfach vor die Füße eines spezifischen Individuums gelegt werden könnten.

Wie fügen sich Muslime als religiöse Gruppe in die Vorstellung von strukturellem Rassismus und der Intersektionalität von Unterdrückung ein? Während Islam keine Rasse ist, könne behauptet werden, dass Muslime nichtsdestotrotz „rassifiziert“ werden könnten. Es ist ein umstrittenes Konzept, das in akademischen Kreisen im Zuge des graduellen In-Verruf-Kommens (nicht Verschwinden) von Doktrin der biologischen Überlegenheit und Differenz entstand. Es führte (in einigen Zirkeln) zur Verschiebung von Rasse hin zu Kultur als Markierung für die Überlegenheit einer Gruppe.

Weiße Menschen konnten so nicht mehr offen eine biologische Überlegenheit behaupten, sondern eine überlegenere Kultur beanspruchen, die sie fortschrittlicher, entwickelter und zivilisierter mache. Diese kulturelle Überlegenheit wurde dann zur Rechtfertigung der Politik von Herrschaft und Ausgrenzung herangezogen. Dieses Phänomen wurde von einigen als kultureller Rassismus bezeichnet. Mit dem Argument, dass Identitäten wie „arabisch“ und „muslimisch“ auf eine Weise ausgeschlossen und diskriminiert werden könnten, die expliziten Rassismus widerspiegele. Und dass diese Gruppen daher auch ohne eine artikulierte Vorstellung von Rasse „rassifiziert“ werden können. In dieser Sicht könne „Muslim“ so behandelt werden, als handle es sich dabei um eine ethnische Kategorie, ohne dass dieses es explizit sei.

Es besteht eine Schwierigkeit in der Anwendung dieses Konzepts auf Muslime. „Rassifizierung“ stammte aus der früheren Vorstellung von ethnischer Formierung und bezog sich auf die Wege, auf denen ethnischen Gruppierungen konstruiert werden und sich im Laufe der Zeit wandelten. Das sind nicht irgendwelche Gruppierungen, sondern ethnische. Diese enthalten im Kern eine Vorstellung von körperlicher Differenzierung. Eine rassebezogene Identität kann nicht auf solche physischen Unterschiede reduziert werden. Aber ohne sie verliert die Idee einer „rassischen Gruppe“ ihre Bedeutung.

Bevor wir untersuchen, wie „Muslime“ eine ethnische Identität sein könnten, darf eine schwerwiegende Folge der Vorstellung einer „Rassifizierung“ nicht unerwähnt bleiben. Erinnern wir uns, dass, während das System rassistisch sein soll, es ebenso frauenfeindlich, homophob und klassistisch sei. Wenn der neue Ansatz zur Islamophobie uns veranlasst, Islamophobie durch die Linse des Rassismus zu verstehen oder die Muslime als „rassifizierte“ Gruppe zu betrachten, verbleiben Frauenfeindlichkeit und Homophobie in ihren eigenen unabhängigen Kategorien. Muslime werden „rassifiziert“, aber Schwule nicht „religionisiert“. Werden Gruppen beispielsweise „gegendert“? Wir können sagen „Islamfeindlichkeit ist Rassismus“, aber nicht „Frauenfeindlichkeit ist Rassismus“ oder „Rassismus ist Homophobie“. Rassismus und Sexismus können sich demnach überschneiden, denn Ethnie und Geschlecht können nicht reduziert werden. Und diese Nicht-Reduzierbarkeit bedeutet demnach, dass Rassenunterdrückung und Geschlechtsunterdrückung nicht als Formen voneinander behandelt werden dürfen.

Die Art und Weise, in der Islam in den Rahmen der Intersektionalität gebracht wird, führt kein weiteres Parameter (das der religiösen Vorurteile) in die existierende Matrix von Unterdrückung ein. Vielmehr wird Religion in die bestehende Hierarchie eingefügt, indem man das Konzept von „Rassifizierung“ benutzt. In dieser Sichtweise stellen nur „Rassen“, Geschlechter, Klassen und sexuelle Orientierungen wirkliche Gruppen dar. Religiöse Vorurteile sitzen auf dem Schoß von Rassismus und haben keinen eigenen Platz am Tisch der sich überschneidenden Hierarchien.

Warum? Wenn Islamfeindlichkeit eine Form von Rassismus ist, von welcher Form ist Rassismus abgeleitet?

Die intellektuellen Grundlagen sowohl für die Ausweitung des Rassismus auf Strukturen und Wirkungen als auch für die Behandlung von Rassismus, Sexismus, Klassismus und Homophobie als die einzigen wirklichen Verflechtungsfäden in einer Unterdrückungsstruktur sind im Wesentlichen postmodern. So wuchs die Kritische Rassentheorie (Critical Race Theory/CRT im US-Original) aus den Kritischen Rechtsstudien (CLS). Sie basierten auf der Arbeit von Denkern in der Bewegung der kritischen Theorie (und anderen Formen von Philosophien mit marxistischen Wurzeln). Allerdings legten sie den „wissenschaftlichen“ Anspruch des Marxismus ab und nahmen eine neue Denkweise an, die sich nicht nur auf Klasse fokussierte, sondern eine allgemeine Kritik von „Kultur“ und „Identität“ beinhaltete.

Postmoderne Denker misstrauen im Allgemeinen Wahrheit und Objektivität und sehen den Anspruch auf objektives Wissen als Ausdruck eines Willens zur Macht oder eines anderen Triebs. Hinter den Behauptungen von Wahrheit und Moral verberge sich immer der Wunsch zu dominieren, der Impuls, Vernunft und Universalität als Kontrollmittel zu verwenden. Menschen seien Produkt ihrer kulturellen Bedingungen. Sie drückten ihre Kultur nicht aus, sondern ihre Kultur drücke sie aus. Wenn also jemand an Wahrheit oder das Gute glaubt, seien diese Überzeugungen per Definition nicht Ergebnis einer sich selbst bewussten menschlichen Seele, die fähig ist, aus sich herauszutreten und sich über die Umstände zu erheben. Sondern sie seien nur Teil einer Identität, die von den Strukturen geformt wurde, in denen man aufgewachsen ist.

Das ist eine eindeutige Vision von der Welt. Tatsächlich bieten die Kritische Theorie, Foucaults Genealogie, Derridas Dekonstruktion, Lacans Psychoanalyse und andere Spielarten der Postmoderne nicht nur eine neutrale Methode der Kritik, die Muslime und andere Gläubige zur Problemlösung nutzen können. Zu glauben, dass die Wirklichkeit so ist, wie es im Qur’an heißt, während man Grundfragen des Menschen mithilfe der Methoden von Foucault, Lacan oder Derrida nachgeht, heißt bestenfalls in einem Zustand extremer Spannung zu leben.

Man glaubt an Gott, aber widmet den eigenen rationalen und nachdenkenden Verstand einer Denkweise, die vom Glauben abhängt, dass Er nicht existiert. Man glaubt, dass man seine Seele wandeln und das Gute wählen muss, während man argumentiert, dass der innerste Sinn des Guten von sozialen Strukturen der Dominanz und der Beziehung zwischen „Körpern“ abhängt. Menschen können mit allen möglichen Widersprüchen leben, aber diese gehören zu den konsequentesten.

Obwohl postmoderne Denker den Anspruch von Wahrheit und moralischer Objektivität verwerfen und einem Modus der Handlung den Vorzug geben, brauchen sie definitive Antworten auf letzte Fragen und ein unerschütterliches Festhalten an ihren Überzeugungen. Ihr Versäumnis, den vorliegenden Selbstwiderspruch bei der Argumentation gegen die Vernunft oder der Verpflichtung zum moralischen Relativismus zuzugeben, zwingt uns nicht, Ideen anzuhängen, die bestenfalls zusammenhanglos sind. Gegen die Wahrheit zu argumentieren oder sich einem moralischen Relativismus zu verpflichten, bedeutet eine Behauptung von objektiver Wahrheit und der Moralität der eigenen Position.

Postmodernisten haben tatsächlich eine klare Vorstellung von dem, was Realität ist und was nicht. Aufgrund dieser Annahme deuten sie die Welt und stellen moralische Ansprüche. Es ist keinesfalls trivial, dass kein einziger der Philosophen an der Wurzel des „kulturellem Rassismus“ und der „Intersektionalität“ Gott oder die Existenz der Seele anerkannte. Alle sahen den Menschen als biologische Maschine an, die seinsvergessen in einem unbewussten Universum verschrieben waren, und glaubten, dass diejenigen, die solche Angelegenheiten der menschlichen Natur und des Schicksals meiden, unfehlbar auf die Autorität derjenigen verweisen, die das tun.

Solche Denker wollen nichts von einer Seele hören, die ihre Selbstbezogenheit überwinden kann, oder von Unglück, das eine Prüfung Gottes ist, oder von der Unmöglichkeit der vollkommenen Gerechtigkeit in dieser Welt oder davon, dem Böse Gutes zu erwidern. Postmodernisten haben sich einer Sprechweise über solche bleibenden Lehren verschrieben, wonach diese nichts als Täuschungen oder Tricks seien, die der Erhaltung von Herrschaft dienen. Einem System, in dem die Reichen von den Armen nehmen, Männer von Frauen und Weiße von People of Colour (PoC). Sie glauben, sie würden Leute (oder „Körper“) befreien. Aber sie haben auch unterschiedliche Antworten auf letzte Fragen. Sie glauben, man kann nur realistisch und anspruchsvoll über Rassismus (und andere soziale Missstände) sein, wenn man aufhört, religiöse Lehren ernst zu nehmen.

Religiöse Lehren sind ernsthaft. Zu ihren relevanten Aspekten gehört die feste Überzeugung, dass Menschen wahre Vernunft und Moralität entwickeln können. Der Mensch hat eine Seele, die zu Gutem und Bösem fähig ist. Sie kann ihren Egoismus überwinden, um nach der Wahrheit zu greifen und um das Richtige zu wählen; selbst, wenn viele daran scheitern. In den Augen von Postmodernisten sind solche Ansichten bestenfalls veraltete. Für sie ist das Ego nicht das niedere Selbst, sondern das einzige. Was traditionelle Religion als Geist oder Selbstbewusstsein nennen würde, sind für sie Erzählungen der Mächtigen für die Machtlosen. Die postmoderne Idee vom Selbst mündet in einer Umkehr der Beziehung von Vernunft und Leidenschaft. So wird der Gegensatz von rational und irrational bedeutungslos.

In der postmodernen Sichtweise handelt Rassismus vorrangig von Systemen und Strukturen, denn diese seien die wirkliche Ursache dessen, was wir naiv als individuelle Vorteile bezeichnen. Gebildet werden sie durch materielle Bedingungen, nur unsere Impulse erzeugen solch veraltete Vorstellungen von Wahrheit und Richtigkeit. Religion könne demnach keine echte Ursache menschlichen Verhaltens sein, denn sie beschäftigt sich mit Wahrheit und Rechtschaffenheit. Ideen, die bloße Ableitungen von Impulsen zur Dominanz anderer ethnischer Gruppen, zur Unterwerfung von Frauen, zur Aneignung von Reichtum oder ähnlicher „realer“ Faktoren seien.

Der postmoderne Zugang zu Problemen schafft Denkmuster, die schleichend die Seele vergiften. Wenn man eine Form von irrationalem Egoismus wie Rassismus oder religiöser Vorurteile nur als Produkt von Identität betrachtet, das nur durch Macht kontrolliert werden kann, hört man auf, die Möglichkeit menschlichen Wachstums und Verstehens ernst zu nehmen. Wenn der Reflex im Umgang mit menschlichen Problemen darin liegt, sie alle als Funktionen einer soziopolitischen Struktur zu sehen sowie Menschen nur in Hinblick ihrer unausweichlichen „Identität“, was bleibt dann von der Vorstellung des spirituellen Lebens im Islam? Und was bleibt von der Reinigung der Seele, dem Wachstum von Liebe zu Gott und dem Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, und der Vertiefung des Gewissens? Durch das Antworten auf Vorurteil und Hass als quasi-mechanischer Unterdrückungsmatrix bestärkt man in sich eine Haltung, die besagt, dass Menschen bloße Produkte ihrer Kultur seien. Und dass der einzige Weg zum Wandel in Macht liege. Alles wird Politik. Und nur Zyniker können anspruchsvoll sein.

Solche heimtückischen mentalen Gewohnheiten sind schlimm genug. Aber weit schlimmer ist es, wenn die postmoderne Kritikmethode sich explizit auf die Religion selbst bezieht. Wenn beispielsweise die Botschaft des Islam in der postmodernen Reaktion gegen die liberale „Farbenblindheit“ gefangen ist. Im Qur’an und im Leben des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, werden Menschen aufgerufen, über Hautfarbe und Stammeszugehörigkeit hinauszublicken, und Leute anhand ihres Verhaltens und ihrer Herzen zu beurteilen.

Muslime haben Recht mit der Aussage, dass ihre Religion Rassismus verabscheute. Und sie sind korrekt, wenn sie auf den Propheten, Allahs Heil und Segen auf ihm, verweisen, der jede Überlegenheit auf irgendeinem Konzept von Rassismus ausdrücklich ausschloss. Die Geschichte von Rassismus und Stammesdünkel unter Muslimen kann die islamischen Lehren über Rassismus genauso wenig ändern wie die Präsenz von Alkoholismus, seine Lehren über den Alkohol ändert.

Rassismus ist eine Krankheit, von der Muslime alles andere als immun sind. Doch hat ihre Religion ein Heilmittel dagegen. Die qur’anische Botschaft ist in jedem Fall keine farbenblinde, sondern eine Feier der Reichhaltigkeit und Vielfalt unter den Menschen. Traurigerweise wird Muslimen, die den Anti-Rassismus und Anti-Tribalismus des Islam loben, manchmal vorgeworfen, sie verschleierten das Problem weißer Überlegenheit. Aber seine Lehren sind nicht die Zusammenstellung eines Systems, das seine Fortdauer sichern will, indem es den universalistischen Diskurs als Feigenblatt benutzt. Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, lehrte das wirklich. Islam ist in seinen Lehren über Rassismus tatsächlich universalistisch.

Wenn es um Rassismus geht, sind Muslime nicht auf naive Slogans wie „Liebe überwindet Hass“ beschränkt. Hass und Unwissenheit sind Formen von Selbstbezogenheit. Aber auch Stammesdünkel, Gier und Eifersucht sind das. Wir sollten eine tiefgreifende Lehre der menschlichen Natur nicht aufgeben, weil einige Philosophen dieser Tage behaupten, sie allein hätten herausgefunden, wie Menschen sich organisieren können, um ungerechte Systeme zu schaffen, die sie für gerecht halten. „Und wenn man zu ihnen sagt: ‘Stiftet kein Unheil auf der Erde!’ sagen sie: ‘Wir sind ja nur Heilstifter’.“ (Al-Baqara, Sure 2, 11)

Als am erschreckendsten wird im Qur’an die Kategorie von Menschen beschrieben, die glaubt, sie handele richtig, aber dies in Wirklichkeit nicht tut. Und das erstreckt sich auf Ansprüche wie Farbblindheit oder ethnische Gleichheit. Das Verlangen nach Überlegenheit ist ein tiefer Teil des Egos. Die Sufis sagen: Die letzte Untugend, welche die Seele der Aufrichtigen verlässt, ist das Verlangen nach Kontrolle und Führung. Wir brauchen die Postmodernisten nicht, um uns das zu sagen, noch sollten wir es vergessen.

Muslime können und sollten eine anspruchsvolle Rassismustheorie besitzen. Und die verstecken Wege ansprechen, auf denen sich Vorurteile zeigen können. Sie sollten auch die Art und Weise kennen, in denen Ungleichheiten generationsübergreifend – und zwischen verschiedenen Lebensbereichen – als Folge von Missgunst, Selbsttäuschung, Unfähigkeit und Unwissenheit bestehen können. Eine solche Theorie sollte sie jedoch nicht dazu treiben, ihren Glauben an Gott, die Seele oder das Jenseits in ironische Ferne zu rücken. Sie sollten sich daran erinnern, dass der Diskurs über Rassifizierung, Intersektionalität usw. nicht nur eine rein theoretische oder wertneutrale Methode der Strukturanalyse ist. Er leitet sich ab von einem düsteren, bedeutungslosen und falschen philosophischen Bild der Welt – ganz gleich, ob diese Weltanschauung bewusst wahrgenommen wird oder nicht. Diese Ideen haben akademische Felder wie Recht, Soziologie, Anthropologie, Geschichte und vergleichende Literaturwissenschaft durchdrungen. Und von dort aus beeinflussten sie Aktivisten, Journalisten, Menschenrechtsorganisationen und Denkfabriken. Heute fanden sie ihren Weg in die Definition antimuslimischer Vorurteile und – daraus folgend – in die Definition von Islam.

Die Wirkung dieser philosophischen Ideen kann am krassen Gegensatz zwischen dem Bericht des einflussreichen Runnymede Trust von 1997 und von 2017 abgelesen werden. Beide Studien kamen von der gleichen Organisation und beleuchten den Wandel im Umgang mit antimuslimischer Engstirnigkeit. Der Bericht von 1997 ordnete seine Ergebnisse zur anti-muslimischen Borniertheit um Ideen wie „Feindseligkeit und Vorurteile“ und definierte Bestimmungsgrößen der Diskussion aufgrund von „offenen“ und „abgeschlossenen“ Sichtweisen des Islam. Neben seinem Augenmerk auf das Schaffen von Stereotypen und Unwissenheit merkt der Text auch an, dass „Islamfeindlichkeit in Großbritannien häufig mit Rassismus vermischt ist (…). Eine enge Sichtweise auf Islam hat die Rechtfertigung solchen Rassismus zur Folge“. Die Rolle von Rassismus war wichtig, aber sicherlich nicht das dominante Thema in dem Bericht von 1997. Im Text von 2017 nun – wie im Großteil des heutigen Diskurs über Islamophobie – wurde der vorherige Ansatz über Bord geworfen und die Definition von 1997 aufgehoben. Nun heißt es wie folgt: „Definition: Islamophobie ist anti-muslimischer Rassismus.“

Das aktuelle Papier rechtfertigt seine Neudefinition teilweise so: „Unter Soziologen ist es Allgemeingut, über verschiedene Formen von Rassismus zu sprechen sowie über ‘Rassifizierung’ und sogar über ‘Rassismus ohne Rassen’. Die Vorstellung, Rasse ist ein soziales Konstrukt, ist heute bekannter und wird auch außerhalb des akademischen und politischen Spektrums bestätigt.“ Über andere mögliche Definitionen heißt es in dem Bericht: „Sich nur auf antimuslimischen Hass (oder auf antimuslimische Vorurteile und Diskriminierung) zu beziehen, lässt die weit verbreitete (oder strukturelle) Art und Weise, wie rassistische Ungleichheiten fortbestehen, nicht vollständig erkennen.“

Warum sollten „ethnische Ungleichheiten“ und das Beharren auf sie über anderen Arten von Diskriminierung stehen? Hieraus ergibt sich eine Frage: Uns wird gesagt, es sei falsch, antimuslimischen Rassismus „antimuslimisches Vorurteil“ zu nennen, weil er Rassismus nicht vollständig erfasst. Wie wurde vorher festgelegt, dass wir es nur mit anti-muslimischem Rassismus zu tun haben oder dass der einzige relevante Rassismus strukturell ist? Die neue Definition hebt die alte auf; einfach, weil es als richtig angesehen wird.

Während es der Fall sein mag, dass einige Soziologen über „strukturellen Rassismus“, „Rassifizierung“ oder „Rassismus ohne Rassen“ sprechen, so ist es auch der Fall, dass die Öffentlichkeit – zum Besseren oder Schlechteren – diese spezialisierten Vorstellungen kaum versteht. Sie fährt damit fort, Rassismus in seinem Alltagsgebrauch zu verwenden. Müssen Menschen beispielsweise ihre Vorstellung von „Wahrheit“ und „Bedeutung“ ändern, weil einige Philosophen sagen, dass Wahrheit „das, was nützlich ist, zu glauben“ oder besteht diese Bedeutung aus den „Wahrheitsbedingungen“ eines Satzes? Sollte man versuchen, Politik auf Basis solcher dunklen Definitionen formulieren? Oder sollte man auf der Basis dessen arbeiten, wie Worte von den fähigen Sprechern der Sprache benutzt werden? Die Leute wissen längst, was Vorurteil, Bigotterie, Stereotype und Voreingenommenheit sind. Und sie werden eine Definition begreifen, die in solchen Begriffen spricht.

„Rassifizierung“ ist hoch umstritten; selbst in jenen Bereichen, in denen sie von Bedeutung sein kann. Wird sie aber auf Religion angewandt, handelt es sich um eine Methode aus dem Stegreif, religiöse Intoleranz in eine der Kategorien einzuteilen, die man zu akzeptieren bereit ist – entweder Rasse, Geschlecht, Klasse oder sexuelle Orientierung. Es ist eher schwierig, Beispiele für die sogenannte Rassifizierung von Muslimen zu finden, die nicht klarer und genauer als „Stereotypisierung“ oder „Voruteil“ verstanden werden kann. Alle Fälle von Stereotypen, Schubladendenken, Vorurteil und Klischees über Muslime werden automatisch als „Rassismus“ oder „Rassifizierung“ neu klassifiziert. Aber das ist ein Fehler, denn „Rassifizierung“ dreht sich um „Rasse“. Aber Muslime sind keine solche – und niemand glaubt, dass sie es seien. Der Begriff „Rassifizierung“ ist nur dann sinnvoll, wenn jemand auf einer bestimmten Ebene meint, die betreffende Gruppe sei „rassisch“ unterschiedlich. Sind alle Formen von Sektierertum Fälle von „Rassifizierung“?

Die Vorstellung von „Rasse als soziales Konstrukt“ ist nur dann sinnvoll, wenn wir diese Frage beantworten können: ein Konstrukt wovon? Etwas einfach ein „Konstrukt“ zu nennen ist wie das Etikett „Illusion“: Es muss ein Konstrukt oder eine Illusion von etwas sein? Die Fata Morgana ist ein Trugbild von Wasser, nicht Bäumen. Bezeichnet man „Rasse“ als etwas Konstruiertes, heißt das nicht, dass Menschen andere nicht in Gruppen einteilen können. Schließlich könnte man Leute nach der Form ihres Daumennagels aufteilen und ihnen Eigennamen geben. Damit ist gemeint, dass Klassifizierung nach „Rasse“ keine wichtigen oder sich daraus ergebenden Unterschiede zwischen menschlichen Gruppen erfasst.

Aber für Rassisten sind „Rassen“ kein Konstrukt. Für diese sind sie echt und bedeutungsvoll. Gibt es keine oberflächlichen Unterschiede (wie Hautfarbe) finden sie andere, verborgene (Größe des Gehirns, Schädelform, DNS-Anteile oder nur ein vager Sinn für Abstammung). Im Kern hat „Rasse“ immer einen vermuteten Aspekt von biologischer oder körperlicher Differenzierung. Diese körperlichen Unterschiede werden häufig nachträglich aus dem Stegreif unterstellt, um bestehende Hierarchien zu rechtfertigen. Aber ohne den Glauben an solche eingebildeten Unterschiede gibt es weder „Rassen“ noch „rassifizierte“ Gruppen.

Tatsächlich ist „Rasse“ ein soziales Konstrukt. Na und? Religionen sind keine bloßen Zusammenschlüsse menschlicher Körper. Die Anwendung von „Rasse als soziales Konstrukt“ auf religiöse Intoleranz und Bigotterie ist ein Kategorienfehler. Das ist eine Idee (wie „Rassifizierung“ oder „rassische Formierung“), die nur in ihrer eigenen relevanten Domäne von Bedeutung ist. Sie betrifft Leute, die immer noch irgendwie an der Vorstellung festhalten, wonach solche Unterschiede bestünden und dass körperliche/biologische Spielarten eine Rolle spielten. Sie können uns beim Verständnis von Islamophobie nur insofern helfen, da die betroffenen Eiferer Rassisten sind und ihr Hass auf Muslime eine Ableitung ihres Hasses auf andere Menschengruppen sind. Andernfalls müssen wir zunächst davon ausgehen, dass jede anti-muslimische Feindseligkeit Rassismus sei, bevor der Begriff „Rasse als soziales Konstrukt“ für das Verständnis von Islamfeindlichkeit relevant wurde.

Gegner von Muslimen „Rassisten“ zu nennen, kann ein wirksames Argument im Auge der Öffentlichkeit sein. Bedeutet das aber, dass der Rassismus-Vorwurf immer wahr oder sinnvoll sein wird? Christen predigten 14. Jahrhunderte lang gegen Muslime? Waren das alles Rassisten? Philosophen haben seit der Renaissance das traditionelle Christentum in ähnlicher Weise verspottet, wie sie es mit Islam tun. Kann Rassismus das Ganze umfassend erklären? Gewiss einiges, aber alles?

Rassistisch motivierte Menschen, die Islam oder Muslime angreifen, verbergen sich häufig hinter Aussagen wie „ich kritisiere nur Ideen“ oder „manche Werte sind besser als andere“. Sie leugnen vielleicht auch die Existenz einer Kategorie wie Islamophobie. Wollen wir an einer bedeutungsvollen Vorstellung des Islam festhalten, die tatsächlich aus einer Reihe von Ideen und Werten besteht, dann ist die Möglichkeit, dass ein Rassist seinen Rassismus dahinter verbirgt, ein Risiko, mit dem wir leben müssen. Zumindest dann, wenn wir unsere spirituelle Integrität bewahren wollen.

Mir ist klar, dass Muslime verletzlich sind, sich in Verteidigungsstellung befinden und erschöpft davon sind, sich ständig erklären zu müssen. Rassismus sowie dumme, ignorante und grausame Bigotterie sind oft der Grund für dieses Trommelfeuer. Das heißt aber nicht, dass man automatisch jegliche anti-muslimische Feindseligkeit als rassistisch einstufen sollte. Die Ad-hoc-Anrufung von „Rassifizierung“ zur Ermöglichung solcher Pauschalurteil ist keine gute Lösung.

Sollte man glauben, das Kopftuch werde nur als „sichtbarer Marker“ einer „rassischen“ Ablehnung feindlich behandelt. Gibt es nichts in der spirituellen und intellektuellen Botschaft des Islam, was eine große Menge an Leuten als Idee bedrohlich finden? Wenn der Qur’an die grassierende Feindseligkeit verschiedener Gruppen gegenüber der frühen muslimischen Gemeinschaft beschreibt, ist das alles einfach Rassismus? Was wäre die Bedeutung von „euch eure Religion und mir meine Religion“ (Al-Kafirung, Sure 109, 6), wenn es nur um biologischen oder kulturellen Rassismus geht? Bekämpfte Abu Lahab seinen Neffen, den Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, weil seine Gefährten „rassifiziert“ waren? Wenn der Qur’an immer wieder sagt, dass gläubige Gemeinschaften im Laufe der Geschichte angegriffen wurden, weil sie sagten „unser Herr ist Allah“, handelt es sich um kulturellen Rassismus?

Wie wissen von der gemeinsamen Erfahrung, dass Menschen zu irrationalen Bindungen und Feindschaften aus vielen Gründen fähig sind. Und doch soll Rassismus der einzige Grund für Vorurteile gegenüber Islam und Muslimen sein?

Muslime, die (bewusst oder nicht) den Diskurs der Kritischen Rassetheorie und verwandte Ansätze übernehmen, müssen sich daran erinnern, dass die Quellen dieser Ideen sich überhaupt nicht mit Religion beschäftigten. Sie drehen sich um Rasse, Geschlecht, Sexualität und Klasse … Punkt. Wenn sich Theoretiker und Aktivisten nur mit Islam als Eigentum von Nicht-Weißen sowie als einen Aspekt von nicht-weißer Subjektivität oder Identität beschäftigen, ist das ihre Sache. Man sollte seine Religion nicht durch den postmodernen Schredder jagen müssen, um Unterdrückten zu helfen oder sich von Unterdrückung zu befreien. Muslime müssen die Probleme dieser Welt in ihrem eigenen intellektuellen Rahmen handhaben. Erfahrung in weltlichen Dingen muss nicht die höchsten Verpflichtungen kosten. Dass Muslime Feindschaft von verschiedenen Seiten erfahren (oder mindestens darüber denken müssen), ist alltäglicher Fakt. Wie wir uns dem stellen, wird uns als Menschen unweigerlich ändern – zum Besseren oder Schlechteren.

Damit diese dauerhafte Aufmerksamkeit für Konzepte und ihre Ursprünge nicht als zu abstrakt gilt, sollten wir „Rassifizierung“, „strukturellen Rassismus“ und „Rassismus ohne Rassisten“ umkehren. Muslime könnten auf den „strukturellen Anti-Theismus“ der Universitäten und des intellektuellen Lebens verweisen, der häufig als eine Maschinerie des „Anti-Theismus ohne Anti-Theisten“ funktioniert. Uns wurde gesagt, dass die farbenblinde und post-rassische Gesellschaft Rassismus maskiert und verlängert. Was aber wäre, wenn Muslimen sagen, dass der Anspruch auf eine religions-neutrale Gesellschaft nur den Bestand eines wütenden Szientismus, Materialismus und Nihilismus sichert, welche die eigentlich dominanten Religionen sind. Wissenschaft mag keine Religion als solche sein, aber sie wurde fromm gemacht. Wir werden manchmal gebeten, uns bewusst zu werden, wie Mikroagressionen und subtilen Ausschlüsse Minderheiten betreffen. Aber Muslime können auf eine intellektuelle und künstlerische Kultur verweisen, die es schwierig oder gar unmöglich macht, sich an Gott zu erinnern und ein inneres Leben zu entwickeln. Das ist eine Kakophonie metaphysischer Mikroaggressionen.

Ich will überhaupt nicht mit einem solchen Jargon über die Schwierigkeiten der Welt zu sprechen. Ich möchte nur die Tatsache hervorheben, dass Theorien und Definitionen nicht neutral sind und dass sie sich notwendigerweise an endgültigen Verpflichtungen orientieren, die nicht immer allgemeingültig sind. Ich zweifle stark daran, das beispielsweise irgendein Anhänger von Foucault sein Gebiet als „strukturell anti-theistisch“ oder Darwinismus als seine dominante Religion bezeichnen würde. Solche Konzepte wären voller Voraussetzungen, die sie nicht akzeptieren könnten. Sie würden verstehen, dass die Annahme eines Diskurses über die „Religionisierung“ von Wissenschaften oder den strukturellen Anti-Theismus der akademischen Welt sie zu bestimmten Voraussetzungen verpflichten würde; selbst wenn diese Voraussetzungen nicht sofort offensichtlich oder explizit diskutiert wurden.

Uns sollte bewusst sein, dass es gefährlich sein kann, die Pferde scheu zu machen. Wahr ist, dass Rassismus – ignoranter, egoistischer, grausamer Hass, der auf irreversiblen biologischen Unterschieden beruht – lebendig und eine der Kräfte ist, die das Böse auf der Welt hervorbringen. Ich wage sogar, zu behaupten, dass Rassismus in vielen Fällen, eine Hauptkomponente von Feindseligkeit gegenüber Muslimen ist. Daher kann die Definition von Islamophobie als „Rassismus“ als Annäherung funktionieren. Aber wenn man Dinge als „rassistisch“ bezeichnet, die es nicht sind und es eine hoffnungslose Neudefinition von „Rassismus“ erfordert, um fast jeden Gruppenhass einzuschließen, verliert der Vorwurf seine Macht. Denn er klingt nicht wahr und wird den Hauch von Zweckmäßigkeit in sich tragen. Nicht nur wird das nicht helfen, nicht-rassistische Motive hinter Islamophobie zu verstehen, die absolut entscheidend sind. Es wird uns auch die Fähigkeit entziehen, ihre tatsächliche rassistische Komponente zu identifizieren und mit ihr umzugehen.

Aus ähnlichen Gründen glaube ich, dass die Bezeichnung „rassistisch“ für jeden anti-muslimischen Hass von anderen Minderheiten als parasitär und opportunistisch empfunden wird. Hier denke ich insbesondere an die USA. Afroamerikaner (Muslime und Nichtmuslime) können verärgert sein, dass viele Muslime das soziale Kapital nutzten, das die Afroamerikaner in jahrzehntelangen Kämpfen aufgebaut haben, ohne sich um den Unterschied zwischen tatsächlicher rassistischer Überlegenheit und anderen Formen von Bigotterie, Intoleranz und Vorurteilen zu kümmern.

Ganz abgesehen davon: Hat der Versuch, Islamfeindlichkeit als Rassismus neu zu definieren zu guten Ergebnissen geführt oder Bewusstsein geweckt, was nicht auch anders und besser möglich gewesen wäre? Wir dürfen nicht vergessen, dass Vorurteile gegen Muslime lange vor diesen neuen Definitionen abgelehnt und bekämpft wurden. Verschiedene religiöse Führer haben sich ernsthaft – und manchmal erfolgreich – um die Reduzierung von antireligiösem Hass bemüht. Internationale Menschenrechtsorganisationen nehmen religiöse Diskriminierung seit langem als eigenständige Kategorie ernst. Muslime in Amerika sollten nicht in die Hände von Islamfeinden fallen, die Islam eben als etwas anderes als eine Religion definieren wollen. Vielmehr sollten sie handeln, um den breiten Schutz des ersten Verfassungszusatzes (d.h. der Schutz der freien Religionsausübung), die im Laufe der Zeit aufgebaut wurden, um Glaubensbekundungen zu schützen. Man kann auf dieser Geschichte aufbauen, anstatt sie abzuwerfen.

Im Qur’an wird die heidnische Gesellschaft und Religion der vorislamischen Araber als „Dschahilijja“ beschrieben. Das umfasst sowohl Unwissenheit als auch schlechten Charakter. Dschahil ist eine Person, die den Unterschied zwischen richtig und falsch in beiderlei Hinsicht nicht verstehen kann. Aber die Dschalijja war nicht vollkommen schlecht: Islam bewahrte und ehrte das Gute dieser Gesellschaft. Und Menschen, die individuell ignorant und schlecht waren, konnten Wissen erlangen und ihren Charakter verbessern.

Im Angesicht von Rassismus, Entwürdigung von Frauen, Unterdrückung der Armen, Folter, Exil und Tod griff der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, niemals auf Argumente wie „strukturelle Dschahilijja“ oder „Dschahilijja ohne Dschahils“ zurück. Er war politisch versiert, aber kein Zyniker. Muslime gaben niemals ihren Glauben auf, dass Menschen fähig sind zu Wissen und Güte, dass Allahs Wille überragend ist und dass Er jeden rechtleiten kann. Sie müssen eine Sicht der menschlichen Natur zurückweisen, in der die Begriffe Vorurteile und Ignoranz zunichte gemacht werden, weil Urteil und Wissen eigentlich nur Formen des Willens zur Macht seien. Denkt man so, wird man unausweichlich glauben, dass man nur überwinden und nicht lehren kann. Dass man nur besiegen oder besiegt werden kann. Auf lange Sicht wird das nur das schlechteste, nicht das beste, in den Menschen hervorbringen.

Das Essay erschient am 6. Februar 2020 im amerikanischen Magazin „Renovatio“ des Zaytuna Colleges.

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„Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren“

Wiedersehen auf der Münchner Sicherheitskonferenz: Der frühere Außenminister Steinmeier kehrt als Bundespräsident auf die große weltpolitische Bühne zurück. Und er teilt in viele Richtungen aus. Bericht von Michael Fischer und Carsten Hoffmann

München (dpa). Es dauert nur wenige Sekunden, bis Frank-Walter Steinmeier auf das zu sprechen kommt, auf das viele im Publikum warten: Deutschlands außenpolitische Verantwortung. Vor sechs Jahren hatte er auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine denkwürdige Rede zu diesem Thema gehalten. „Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren“, sagte er damals im Einklang mit dem damaligen Bundespräsident Joachim Gauck, der sich in einer Art Ruckrede für mehr deutsche Einmischung in die Weltpolitik einsetzte.

An diesem Freitag warten alle darauf, dass Steinmeier Bilanz zieht. Tut er aber nicht. Das Wort Verantwortung kommt zwar 17 Mal in seiner 30-minütigen Rede vor. Der Blick zurück auf die vergangenen sechs Jahre fehlt aber. Steinmeier will nicht beurteilen, was er selbst bis 2017 als Außenminister oder andere nach ihm getan oder nicht getan haben. Er schaut lieber auf die Gegenwart und in die Zukunft.

Steinmeiers Bestandsaufnahme fällt ziemlich düster aus: „Wir werden heute Zeugen einer zunehmend destruktiven Dynamik der Weltpolitik. Vom Ziel einer internationalen Zusammenarbeit zur Schaffung einer friedlicheren Welt entfernen wir uns von Jahr zu Jahr weiter.“ Seine Kritik an den Verantwortlichen für diese Lage macht er für einen Bundespräsidenten ungewöhnlich konkret:

– Russland wirft er vor, „militärische Gewalt und die gewaltsame Verschiebung von Grenzen auf dem europäischen Kontinent wieder zum Mittel der Politik“ gemacht zu haben.

– Chinas beschuldigt er, das Völkerrecht zu brechen und nennt das Vorgehen Pekings gegen Minderheiten im eigenen Land verstörend.

– Aber auch den Bündnispartner USA bezichtigt er, der „Idee einer internationalen Gemeinschaft“ über Bord geworfen zu haben.

Die eigentliche Botschaft seiner Rede richtet sich aber an Europa. Und da kommt er dann auch wieder auf die deutsche Verantwortung zu sprechen: Deutschland sollte sich „der größten Verantwortung zuwenden, die unserem Land zukommt: das geeinte Europa zusammenzuhalten“.

Dabei mahnt er ein realistischeres Selbstbild der deutschen Politik an. „Deutschland glaubt oft, hilfsbereit und solidarisch zu handeln, während andere uns vorwerfen, nationale Interessen zu verfolgen“. Das gilt zum Beispiel für die deutsch-russische Pipeline Nord Stream 2, die von Deutschland vorangetrieben, von den meisten anderen Europäern aber abgelehnt wird.

Eine Ruckrede, wie sie Gauck vor sechs Jahren gehalten hat, sind Steinmeiers Ausführungen aber nicht. Gauck hat mit seinem Ruf nach einer stärkeren deutschen Rolle in der Welt eine Debatte angestoßen, die bis heute anhält. Steinmeier macht deutlich, dass ihm der Ton dieser Debatte inzwischen missfällt, weil er zu stark auf das Militärische gerichtet ist.

„Den Verlust von Diplomatie, der Verlust von tragenden Säulen unserer Sicherheitsarchitektur, von Rüstungskontrollverträgen und internationalen Abkommen, den können wir nicht durch Panzer, Kampfjets und Mittelstreckenraketen kompensieren.“ Ohne eine allgemeine Respektierung des Völkerrechts und einer Sicherheitsstrategie, die alle integriert, „werden wir uns in einigen Jahren – zum Schaden aller – weltweit totrüsten“, mahnt er.

Das dürften sie in der Partei, für die Steinmeier mal Vizekanzler war, gerne hören. Eine andere klare Ansage des Bundespräsidenten wird der SPD dagegen missfallen. Steinmeier stellt sich klar hinter das Ziel der Nato, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben.

Das wird wiederum Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) freuen, die das Ziel bis 2031 erreichen will. Die SPD hat noch nicht eingewilligt. Auch die bald scheidende CDU-Chefin hat am Freitag ihren ersten Auftritt als Verteidigungsministerin in München. Neu ist auch: Sie gilt nicht mehr als potenzielle Nachfolgerin von Kanzlerin Angela Merkel. Zusammen mit dem US-Verteidigungsminister Mark Esper bekennt sich Kramp-Karrenbauer noch vor dem offiziellen Beginn der Konferenz zu einer gemeinsamen Fortsetzung des Kampfes gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Viel mehr aber auch nicht.

Und so bleiben die Details einer neuen deutschen Rolle – mehr Verantwortung, wo es sein muss auch militärisch – an diesem ersten Tag der Sicherheitskonferenz unpräzise. Mehr wird die Größe und Notwendigkeit des Schritts beschrieben, als dass sich ein deutscher Politiker dazu aus der Deckung wagen würde.

Konkret wurde Steinmeier in Bezug auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der zuletzt die Nato für „hirntot“ erklärt und mehr europäische Eigenständigkeit gefordert hat. Steinmeier hält ihm entgegen: „Die Europäische Union allein kann die Sicherheit aller ihrer Mitglieder bei allen Fortschritten noch auf lange Sicht nicht garantieren. Und auf die EU allein zu setzen, hieße Europa in die Spaltung zu treiben.“ Eine klare Distanzierung von dem Franzosen. Macron hat an diesem Samstag in München die Gelegenheit, Steinmeier zu antworten. Dann tritt er zum ersten Mal bei der Sicherheitskonferenz auf.

Die NATO in der arabischen Welt

MÜNCHEN/BERLIN (GFP.com). Kurz vor der heute beginnenden Münchner Sicherheitskonferenz bemühen sich die westlichen Mächte um Schritte zur Konsolidierung ihres Einflusses im Nahen und Mittleren Osten. Berlin treibt die Umsetzung der Beschlüsse der Libyen-Konferenz voran, um seine Stellungen in dem nordafrikanischen Land zu stärken und die dortigen Positionen Russlands und der Türkei zu schwächen. Die NATO-Verteidigungsminister wiederum haben beschlossen, den Einsatz des Kriegsbündnisses im Irak auszuweiten.

Erst kürzlich hatte das Parlament in Bagdad den Abzug der auswärtigen Truppen gefordert; die NATO-Staaten sind nun bemüht, die irakische Regierung zur Aushebelung des Votums zu drängen. Zudem sind weitere Maßnahmen in der arabischen Welt geplant, insbesondere in Jordanien und in Tunesien. Scheitern die Bemühungen, dann stehen den westlichen Mächten schwere machtpolitische Rückschläge in dem arabischen Staatenring um Europa bevor. Der Leiter der Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hat angekündigt, der beginnende Abstieg des Westens werde zu den Themen der diesjährigen Tagung gehören.

40 Staats- und Regierungschefs in München
Zur diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz, die am heutigen Freitag beginnt, werden in der bayerischen Landeshauptstadt ungefähr 800 Teilnehmer erwartet, darunter rund 40 Staats- und Regierungschefs sowie etwa 100 Außen- und Verteidigungsminister. Die Eröffnungsrede ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorbehalten; am morgigen Samstag wird Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erwartet. Kommen werden die Außenminister der USA, Russlands, Chinas und Irans, daneben unter anderem die US-Minister für Verteidigung und für Energie.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, die im vergangenen Jahr aufgetreten war und sich demonstrativ gegen US-Vizepräsident Mike Pence positioniert hatte, wird in diesem Jahr nicht teilnehmen. Konferenzleiter Wolfgang Ischinger hat sich bemüht, den nordkoreanischen Vize-Außenminister Kim Song Gyong zur Teilnahme zu bewegen; dazu wird es allerdings trotz anfänglicher Zusage der nordkoreanischen Regierung nicht kommen. Ischinger hat vor, Pyöngyang im kommenden Jahr erneut einzuladen.

Nachfolgetreffen zur Libyen-Konferenz
Im Vorfeld hatte Ischinger betont, auf der Sicherheitskonferenz werde die Debatte um den beginnenden Abstieg des Westens eine Rolle spielen. In München wird es freilich zugleich auch um westliche Bestrebungen gehen, den Abstieg zu bremsen oder zu verhindern. Ein Beispiel bietet das für Sonntag geplante Nachfolgetreffen zur Berliner Libyen-Konferenz. Mit der Libyen-Konferenz hatte die Bundesregierung versucht, sich im Rahmen der internationalen Bemühungen, den Krieg in Libyen zu beenden, an die Spitze zu setzen und dem stark gewachsenen Einfluss Russlands und der Türkei in dem Land entgegenzutreten.

Moskau und Ankara bestimmen schon den Gang der Dinge in Syrien, wo die USA sowie die Mächte der EU nach dem Beginn der Unruhen im Jahr 2011 eigentlich eine prowestliche Regierung ins Amt bringen wollten; damit scheiterten sie. Bisher hat die Berliner Libyen-Konferenz lediglich zu einem stolz verkündeten, aber überaus brüchigen Waffenstillstand geführt; die Aufrüstung der beiden Hauptkriegsparteien durch äußere Mächte, zumeist sehr enge Verbündete Berlins und Washingtons, dauert an. Erst am Mittwoch hat sich der UN-Sicherheitsrat auf Drängen der Bundesregierung die Berliner Libyen-Resolution zu eigen gemacht. Zuletzt hatte auch die NATO Unterstützung angeboten.

NATO-Truppen nach Mittelost
Bemühungen, die westlichen Stellungen zu konsolidieren, sind aktuell auch mit Blick auf den Irak im Gang. Dort hatte das Parlament nach dem US-Drohnenmord an dem iranischen General Qassem Soleimani den Abzug der ausländischen Truppen gefordert. Käme es dazu, dann müssten sich die westlichen Mächte aus einem weiteren Land der arabischen Welt zurückziehen. Entsprechend setzen sie die irakische Regierung massiv unter Druck, das Parlamentsvotum auszuhebeln. Obwohl Bagdad noch keine Entscheidung getroffen hat, nimmt die NATO bereits eine Ausweitung ihrer Aktivitäten im Irak in den Blick.

Hintergrund sind die Bestrebungen der USA, die eigenen Truppen aus dem Nahen und Mittleren Osten weitgehend heimzuholen, um sie für den Machtkampf gegen China zur Verfügung zu haben. An ihre Stelle sollen nun NATO-Truppen treten. Dies hätte aus US-Sicht den Vorteil, trotz der eigenen Abzugspläne eine relative Kontrolle über die Militärpräsenz der anderen westlichen Staaten in Mittelost zu behalten. Entsprechend hat US-Präsident Donald Trump kurz nach dem Drohnenmord an Soleimani verlangt, die NATO solle sich „stärker am Prozess im Nahen Osten … beteiligen“.

Ausweitung des Irak-Einsatzes
Die Weichen dafür haben die NATO-Verteidigungsminister auf ihrem gestern zu Ende gegangenen Treffen in Brüssel gestellt. So hieß es etwa, diejenigen NATO-Staaten, die sich bislang nur im Rahmen der Anti-IS-Koalition an der Ausbildung irakischer Soldaten beteiligten, könnten dies in Zukunft im NATO-Rahmen tun. Im Auftrag der NATO sind bislang um die 500 Soldaten und Zivilpersonen im Irak stationiert, darunter gut 200 Militärausbilder sowie 300 weitere Soldaten für die Logistik und den Schutz der eigenen Kräfte.

Zu denjenigen Ländern, die sich bisher einer Entsendung ihrer Militärs im NATO-Rahmen verweigern, gehört Deutschland; Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat am Mittwoch explizit bekräftigt, an dieser Position festhalten zu wollen – zumindest vorläufig.[6] In der Tat gibt das bestehende Bundestagsmandat für die Entsendung deutscher Soldaten ihre Unterstellung unter NATO-Kommando nicht her.

Arabische NATO-Partner
Aus der NATO hieß es zudem, denkbar sei nicht nur die Ausweitung des Einsatzes im Irak, wo die westlichen Staaten derzeit Soldaten in Camp Taji und in Camp Besmaya bei Bagdad sowie in Arbil im kurdischsprachigen Norden des Landes stationiert haben; deutsche Militärs sind in Camp Taji und in Arbil präsent. Nach einer Ausdehnung des Einsatzes auf weitere Landesteile könne die NATO ihre Aktivitäten in weiteren Ländern der arabischen Welt intensivieren; dies gelte etwa für Länder wie Jordanien und Tunesien, in denen bereits jetzt Soldaten ausgebildet werden.

Erst Mitte Januar hatte NATO-Generalsekretär Stoltenberg den jordanischen König Abdullah II. in Brüssel zu umfangreichen Gesprächen empfangen. Jordanien sei, hieß es damals bei dem Bündnis, „einer der engsten globalen Partner der NATO“; man habe eine lange Geschichte praktischer Zusammenarbeit, die „vom Balkan bis nach Afghanistan“ reiche. Bereits im Mai vergangenen Jahres hatte Stoltenberg den damaligen tunesischen Außenminister Khemaies Jhinaoui ebenfalls in Brüssel empfangen und Schritte zum Ausbau der Kooperation beschlossen. Dabei ging es nicht zuletzt um die Interoperabilität der Streitkräfte, also de facto um die Anpassung an NATO-Standards.

Innere Widersprüche

Unerwartete Widerstände gegen umfassendere NATO-Aktivitäten in der arabischen Welt zeichnen sich allerdings ausgerechnet in einigen Ländern Osteuropas ab, die als engste Verbündete der USA in Europa gelten. Dort heißt es, Aktivitäten im Süden seien geeignet, die NATO vom Machtkampf gegen Russland abzulenken; Letzteres befürworte man nicht. Debatten darüber sind auch auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz zu erwarten, die an diesem Freitag in der bayrischen Landeshauptstadt beginnt.

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Auch die Lehre sollte sich zu Wort melden

(iz). Nina Mühe ist Ethnologin und Projektmanagerin bei CLAIM, welches es sich zur Aufgabe gemacht hat, bundesweit Organisationen zu vernetzen, die sich mit dem Thema Islamophobie beschäftigen. Aus dieser Zusammenarbeit sollen Betroffene leichter Zugang zu Beratung und Lösungswegen finden sowie organisiert werden. Wir unterhielten uns mit Frau Mühe über das Projekt, die organisatorischen Aspekte und Herausforderungen mit Blick auf Politik und Gesellschaft.

Islamische Zeitung: Liebe Frau Mühe, Islamfeindlichkeit oder Islamophobie befinden sich spätestens seit 9/11 im Sprachgebrauch der Muslime. Und sie werden auch behandelt. Bisher gab es bei aber uns eine Diskrepanz zwischen der Debatte und entsprechenden Aktivitäten, wenn wir das Beispiel von CAIR in den USA nehmen. Ist CLAIM der Versuch, diese Lücke zu schließen?

Nina Mühe: CLAIM ist kein muslimisches Projekt. Es gibt Muslime, die bei uns arbeiten, sowie Nichtmuslime. Der Träger ist die Mutik GmbH, die von der Mercator Stiftung gefördert wird. Zusätzlich wird es vom Bundesministerium für Familie, Senioren und Frauen (BMFSFJ) unterstützt. Die Mittel kommen aus dem Bundesprogramm „Demokratie leben“. CLAIM ist der Versuch, Islamfeindlichkeit gesellschaftlich aufzugreifen beziehungsweise sichtbarer zu machen sowie sie in verschiedene gesellschaftliche Bereiche und Debatten hineinzutragen. So haben wir das mit dem Tag gegen antimuslimischen Rassismus versucht.

Bei uns nehmen beispielsweise muslimische Projekte teil. Wir haben erst einmal versucht, festzustellen, wer bundesweit zu Islamfeindlichkeit arbeitet. Dabei geht es nicht darum, ob die Akteure Muslime, Nichtmuslime oder Ehrenamtler sind. Wir haben uns bemüht, einen Überblick über die Landschaft zu bekommen – wobei uns sicherlich noch einiges entgangen ist.

Zuerst haben wir uns zum Ziel gesetzt, die zum Thema arbeitenden Projekte zu vernetzen und so in ihrer Arbeit zu unterstützen. Es gibt solche, wie Inssan in Berlin oder FAIR International in Köln, die ausschließlich zum Thema arbeiten. Es gibt zusätzlich Antidiskriminierungs- und Bildungsprojekte, die sich auch hiermit beschäftigen sowie auch große Träger wie die Arbeitsgemeinschaft Evangelische Jugend AEJ in Deutschland, wo es auch Aktivitäten gegen Islamfeindlichkeit gibt. Wir haben alle mit ins Boot genommen, weil es dann doch nicht so viele sind.

Insofern es um muslimische Ansätze geht, fällt auf, dass es wenige sind. Es gibt ja auch bei „Demokratie leben“ einen großen Bereich für Islamfeindlichkeit. Der ist nicht so umfangreich wie die Radikalisierungsprävention, aber man kann auch hier Projekte nur zu diesem Thema beantragen. Muslimische Vereine sind noch nicht sehr stark in diesem Thema drin. Es gibt wenige Ansätze, die sich konkret damit beschäftigen.

Islamische Zeitung: Wollen Sie zukünftig stärker in der Bildungs- und Aufklärungsarbeit tätig sein oder beinhaltet CLAIM auch die Option für Lobbyarbeit sowie das Gespräch mit eher islamkritischen Akteuren einzugen?

Nina Mühe: Eher Letzteres. CLAIM ist ja kein Modellprojekt, sondern soll sich im Rahmen von „Demokratie leben“ ein bundeszentraler Träger werden. Es ist keine direkte Strukturförderung, aber auf dem Weg dahin. Das BMFSFJ fördert stellenweise Ansätze, die auf diesem Themenbereich bundesweite Aufgaben übernehmen sollen. Und CLAIM ist der Ansatz, dem bei der Islamophobie diese bundeszentrale Aufgabe zukommt. Wir selbst machen weniger direkt Bildungsprojekte. Wir haben aber Mitglieder in unserem Netzwerk, die das tun, und die dazu Unterstützung brauchen. Diese können wir auf einer koordinierenden Ebene geben, was den einzelnen Projekten nicht möglich ist.

Wir sehen uns aber eher als eine koordinierende Stelle. Sie versucht, die Themen zusammenzubringen, die den einzelnen Trägern wichtig sind und die sie nicht in ihrer eigenen Arbeitszeit leisten können. Hier besteht großer Bedarf. Ein Thema ist zum Beispiel die Frage der Sichtbarmachung von Islamfeindlichkeit und hier die Stimme zu erheben, wenn wieder einmal ein Politiker etwas sagt. So wie beim Tag gegen antimuslimischen Rassismus geht es uns nicht nur um reaktives Handeln. Wir wollen das Thema aktiv in die öffentliche Wahrnehmung tragen. Das ist den Einzelprojekten in ihrem Zeitrahmen nicht möglich.

Ein weiterer Punkt, der ebenfalls mit Lobbyarbeit zusammenhängt, ist fehlende Wahrnehmbarkeit von Antidiskriminierungsdaten. Das findet derzeit weder umfassend noch lokal statt. Seit Anfang 2017 werden von der Bundesregierung islamfeindliche Straftaten gesondert erhoben und dargestellt. Die Zahl der 1.075 Fälle macht nur einen Bruchteil dessen aus, was real stattfindet. Wir haben aber keine Aussagen zu Dunkelziffern und zu Diskriminierungsfällen. Denn nicht alle sind sofort strafrechtlich relevant. Bundesweit gibt es viele Projekte, die auch Antidiskriminierungsarbeit machen. Jedes hat seine einzelnen Fallzahlen, aber es gibt derzeit keine Chancen – beispielsweise, wenn ein Journalist fragt –, klare Aussagen zu machen. Bei diesem schwierigen und komplexen Thema wollen wir versuchen, so viel Fortschritt zu erzeugen, dass eine Sichtbarkeit der Diskriminierung ermöglicht wird. Dazu brauchen wir die ganzen Organisationen, die hier am besten zusammenarbeiten. Es ist unsere Aufgabe, eine Kooperation zu koordinieren.

Andererseits wollen wir versuchen, die erlangten Erkenntnisse an Politik und an Öffentlichkeit weiterzugeben.

Islamische Zeitung: Wer ist Ihr erhofftes Zielpublikum Ihrer Arbeit?

Nina Mühe: Eigentlich geht es uns um alle möglichen Segmente des Publikums. Zum einen zielen wir auf Projekte ab, die zu Islamfeindlichkeit arbeiten, und mittelbar auf die Betroffenen von Diskriminierung. Mit Kampagnen wie dem Tag gegen antimuslimischen Rassismus, dessen Koordinierung wir jetzt von RAMSA übernommen haben, möchten wir eine breitere Öffentlichkeit erreichen. Natürlich gehören politische Entscheidungsträger auch zu unserer Zielgruppe.

Islamische Zeitung: Gibt es eine Zeitvorstellung, ab wann CLAIM seinen vollen Arbeitsumfang erreicht haben wird?

Nina Mühe: Wir sind ja an das Programm „Demokratie leben“ gebunden, weil unsere Hauptförderung von dort kommt. Die momentane Phase endet 2019. Es gibt Projekte, die haben 2015 angefangen und sind auf fünf Jahre angelegt. Wir konnten erst Ende letzten Jahres beginnen und haben eine dementsprechend kürzere Zeit, in der wir uns auch als sichtbarer Träger aufstellen müssen. Wir machen viele Dinge parallel. So arbeiten wir jetzt noch an einer Publikation und bereiten für November eine Fachtagung vor. Wir möchten in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen erkennbar werden.

Unsere jetzige Zielmarke ist Ende 2019, wir hoffen aber auf eine Verlängerung ab 2020. Die bundeszentralen Träger sollen dauerhaft gefördert werden. Vor Kurzem wurde bekannt, dass „Demokratie leben“ weiterlaufen soll. In welcher Form wir weitergefördert werden, ist unklar, wir erhoffen für uns schon eine längerfristigere Perspektive. Wir müssen auch für die Organisationen möglichst viel leisten, damit denen auch klar wird, dass diese Art der Vernetzung für sie und die Zielgruppe einen Mehrwert ergibt.

Islamische Zeitung: Sie sprachen mehrfach von Förderung durch die öffentliche Hand. Nun unterliegen Sie ein Stück weit auch dem Wohlwollen von Politik. Wie würden Sie denn eine solche Arbeit weiterführen, sollte es eine andere politische Konstellation in Deutschland geben? Es hat stellenweise von Einzelnen Kritik gegeben, dass sich Projekte wie das Ihrige an den Staat wenden. Sind solche Befürchtungen für Sie komplett von der Hand zu weisen?

Nina Mühe: Prinzipiell ist es natürlich immer so, dass man in gewisser Weise vom Fördermittelgeber abhängig ist. Für uns ist es aber so, dass bei „Demokratie leben“, und momentan auch im Ministerium, eine große Unterstützung für unser Themenfeld herrscht. Von daher bekommen wir auch die nötige Unterstützung. Prinzipiell ist eine gewisse Abhängigkeit immer da. Allerdings heißt es auch im Ministerium, dass es an eine gewisse politische Neutralität gebunden ist. Die geförderten NGOs hingegen dürfen in einem gewissen Rahmen schon Positionen vertreten wie die Haltung zu einzelnen Parteien. Es gibt eine weitgehende Freiheit, sich so äußern zu können, wie man will.

Momentan ist das total positiv. Sollten sich die politischen Konstellation ändern, müsste man sich tatsächlich überlegen, sich auf andere Weise unabhängig zu machen sowie Förderung zu finden, die mehr Freiheiten gibt. Wir haben auch keine Probleme damit, dass wir durch die politische Abhängigkeit nur mit bestimmten Leuten arbeiten könnten. Hier gab es keine Einflussnahme, mit welchen Projekten wir zusammenarbeiten können oder was wir fördern. Das sind unsere Entscheidungen. Das Ministerium war bei unserer Pressekonferenz sowie dem ersten Vernetzungstreffen dabei, um zu zeigen, dass es tatsächlich hinter dem Thema steht.
Wenn es uns in den nächsten Jahren gelingt, die Relevanz der Islamfeindlichkeit nachzuweisen, dann ist die Frage nach zusätzlichen oder alternativen Förderungen vielleicht auch noch einmal einfacher.

Islamische Zeitung: Prinzipiell verfolgen Sie einen inklusiven Ansatz bei zukünftigen Partnern?

Nina Mühe: Wir haben erst einmal geschaut, was es bundesweit an Projekten gibt. Man kann aber nie alle kennen. Es mag Bundesländer geben, die man nicht so übersieht und in denen Projekte nicht so stark im Internet zu finden sind. Wir sind sehr offenen für Vernetzungen mit weiteren und freuen uns, wenn sich weitere dem anschließen. Langfristig möchten wir gerne auch mehr mit anderen Akteuren zusammenarbeiten, die über den engeren Kreis des Themas hinausgehen. Wir brauchen dafür eine breite gesellschaftliche Allianz.

Islamische Zeitung: Es ist ja nicht so, dass es nicht in allen politischen Parteien auch islamophobe Positionen oder Vertreter gäbe. Hegen Sie hier zukünftige Erwartungen an einen Austausch mit der Politik?

Nina Mühe: In unseren Projekten haben sich jene, die konkret zum Tag gegen antimuslimischen Rassismus arbeiten, noch einmal auf einer Webseite und dem Hashtag #keinplatzfürhass zusammengefasst. Dieser Hashtag wurde beispielsweise von Claudia Roth oder Cem Özdemir aufgegriffen. Es gibt auch PolitikerInnen, die schon erreichbar sind. Manche sind sowieso schon dafür empfänglich. Wir versuchen erst einmal, mit jenen anzufangen, die offener für uns sind. Wir wollen aber auch so bald wie möglich mit jenen ins Gespräch kommen, die vielleicht kritischer sind.

Islamische Zeitung: Gerade in den letzten Tagen eskaliert in Deutschland die Lagerbildung, die sich am Thema Flucht kristallisiert. Bisher tendieren Muslime dazu, diese nachvollziehen. Sie haben das Gefühl, sie seien in einem Lager besser aufgehoben als in dem anderen. Gehört es nicht auch zu einer erfolgreichen Antidiskriminierungsarbeit zu schauen, wo es Überschneidungen mit dem gibt, was man das konservative Lager nennen könnte?

Nina Mühe: Ich sehe schon, dass dies teilweise bereits geschieht. Es gibt ja Politikerinnen wie Cemile Gioussef mit einem muslimischen Bezug in der CDU. Das ist sicherlich in vielen Bereichen schwieriger als bei der Linken oder den Grünen. Ich denke auch, dass es in allen Parteien eine Spaltung gibt zu den Themen Islamfeindlichkeit, Muslime oder Integration muslimischer Strukturen in die Gesellschaft. Es gibt in allen Parteien Menschen und vielleicht auch Gruppen, die Muslimen und der Integration muslimsicher Strukturen in die Gesellschaft – Stichtwort Staatsverträge – offen eingestellt sind, die aber insbesondere gegen Islamfeindlichkeit und die Diskriminierung von Muslimen sind. Erfahrungsgemäß sind es zuerst einmal Politiker aus der Linken, die sich für das Thema – beispielsweise anhand des Tages gegen antimuslimischen Rassismus – von selbst stark machen. Aber wir müssen unser Anliegen breit bei allen Parteien vorbringen. Es ist wichtig, zu wissen, welche Personen und Kreise bereit wären, eine solche gesellschaftliche Allianz mitzutragen. Das können auch große kirchliche Träger oder andere einflussreiche Akteure sein, die wir hierzu miteinbinden wollen.

Islamische Zeitung: Gehen wir einmal vom 11. September 2001 als Wegscheide für islamfeindliche Diskurse aus, dann gibt es eine deutliche Vermischung der Themenkreise Islam/Muslime einerseits und andererseits Außenpolitik, Sicherheitspolitik, Migration und Integration. Ist es für eine erfolgreiche Antidiskriminierungsarbeit nicht auch nötig, wo es möglich ist, sauberer zwischen den Phänomenen zu trennen?

Nina Mühe: Jein. Aus meiner momentanen Perspektive beschrieben würde ich sagen, dass es in Bezug auf Diskriminierung leicht unterschiedliche Blickrichtungen gibt. Wenn man spezifisch seinen Fokus auf antimuslimischen Rassismus legt, dann gibt es auch Menschen, die gar keine Muslime sind, die trotzdem unter Islamfeindlichkeit, unter dieser Form von Rassismus leiden. Beispielsweise sind es Christen aus Syrien oder Menschen, die gar nicht religiös sind, aber trotzdem aufgrund von antimuslimischem Rassismus diskriminierend behandelt werden. Hier findet eine Ethnisierung und Religionisierung von Personen statt, die gar nichts damit zu tun haben. Insofern ist es wichtig zu sagen, dass Religion in dem Bereich nur als Teil von Kultur gesehen wird. Als solcher wird sie auf rassistische Art und Weise Menschen zugeschrieben.

Die Begriffe werden alle identisch verwendet, obwohl es aus wissenschaftlicher Sicht anders gelagerte Blickrichtungen gibt. Es gibt Projekte bei uns, die eher von Islamfeindlichkeit sprechen, wenn eher die Religion diskriminiert wird. Wo es beispielsweise konkret darum geht, ob eine Frau mit Kopftuch unterrichten darf oder nicht. Hier ist antimuslimischer Rassismus nicht auszuschließen, da sich die Konzepte und Begriffe sehr stark überlappen. Es gibt auch Gründe dafür, warum wir Islamfeindlichkeit gegen Islam als Religion speziell in den Fokus nehmen sollten. Gerade in der links-antirassistischen Ausrichtung gibt es trotzdem oft eine starke Islamfeindlichkeit, die aus einer Distanz zu und Kritik an Religion stammt. Sie fokussiert sich speziell auf den Islam als besonders problematische Religion. Sie richtet sich besonders gegen Menschen, die als religiös auftreten. Es gibt ja sogar Menschen mit einem muslimischen Migrationshintergrund, die religionsfeindliche Bezüge gegen praktizierende Muslime haben.

Islamische Zeitung: Diese Rassifizierung findet ja nicht nur im antimuslimischen Diskurs statt, sondern auch im innermuslimischen. Auch Muslime blicken manchmal durch eine ethnische Brille. So wird der Erfahrungshorizont von Muslimen ohne Migrationserfahrung oder -hintergrund an den Rand gedrängt.

Nina Mühe: Ich habe versucht, diesen Aspekt vorher aufzugreifen. Es ist eine Frage der Tendenz, ob man antimuslimischen Rassismus betont oder Islamfeindlichkeit. Bei Letzterem sind auch Menschen inbegriffen, die keinen Migrationshintergrund haben beziehungsweise nur dann als Muslime wahrgenommen werden, wenn sie Kopftuch tragen oder bei der Arbeit beten wollen. Und dann eben auch in erster Linie anhand der religiösen Praxis diskriminiert werden.

In einer Antidiskriminierungsperspektive ist das Problematische daran, dass sich das nicht sauber trennen lässt. Denn in der Mehrheit der Fälle geht es hier um Fälle von Mehrfachdiskriminierungen. Eine arabische Frau mit Kopftuch wird eben aus verschiedenen Gründen diskriminiert – einmal als Frau, dann aufgrund ihrer Religion und schließlich wegen ihres ethnischen Hintergrunds. Diese Punkte verstärken sich gegenseitig und lassen sich aus einer Antidiskriminierungsperspektive nicht sauber trennen.

Dennoch finde ich es wichtig, die Diskriminierung aufgrund der Religion mit im Blick zu haben. Und eben auch Menschen, die seit Generationen deutsch-deutsch sind und die nicht rassistisch ausgegrenzt werden, wenn sie nicht praktizieren, auch mit ihm Blick zu haben. Es handelt sich um Rassismus, aber nicht ausschließlich auf ethnischen Zuschreibungen begründet, sondern hier handelt es sich eben auch um eine spezifisch antiislamische Religionsfeindlichkeit. Sie kommt bei vielen Akteuren zum Tragen, die sich vielleicht sonst nicht rassistisch äußern würden.

Islamische Zeitung: Manche Muslime blenden bei den Themen Rassismus oder Diskriminierungserfahrungen eigene blinde Flecken aus. Bisher dominieren immer noch Organisationsformen, die von einer ethnischen „Reinheit“ ausgehen, die es in der Mehrheitsgesellschaft so eigentlich nicht mehr gibt. Nicht nur in Deutschland machen Minderheiten – Sinti und Roma, Schwarze oder Konvertiten – Rassismuserfahrungen innerhalb der muslimischen Gemeinschaften. Kann man sich überhaupt erfolgreich gegen Rassismen wehren, wenn man sie nicht in den eigenen Reihen thematisiert?

Nina Mühe: Idealerweise sollte das Hand in Hand gehen. Je mehr man sich mit dem Thema befasst, desto mehr werden dann vielleicht auch andere Diskriminierungsformen Thema. Aus unserer Perspektive würde ich sagen, dass wir uns natürlich damit befassen, unabhängig davon, ob Muslime oder als Muslime Wahrgenommene selbst auch Täter von Diskriminierung sein können. Auf diesem Arbeitsgebiet geht es nicht darum, dass man sich nur für die einsetzt, die in keiner Form jemals diskriminiert haben. Dann wäre sie nicht möglich. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn Gruppen, die sich stärker mit Islamfeindlichkeit beschäftigen, mit ihrem Engagement eine stärkere Innenschau verbinden.

Islamische Zeitung: Es hat bisher im deutschsprachigen Raum kaum Wortmeldungen aus der islamischen Lehre zum vorliegenden Themenkomplex gegeben. Wäre es eine Bereicherung für Sie, würden muslimische Gelehrte das Thema aktiv aufgreifen?

Nina Mühe: Das würde einen wichtigen Beitrag dazu leisten, das Thema stärker ins Bewusstsein zu rücken. Vor allem die Kenntnis davon unter Muslimen zu vergrößern. Sie wissen natürlich um Islamfeindlichkeit, da tagtäglich jemand ihr Opfer wird. Es fehlt aber ein Bewusstsein dafür, wie man mit ihr umgehen kann. Was mache ich denn, wenn ich islamfeindlich diskriminiert werde? Muss ich das immer hinnehmen? Kann ich mich dagegen wehren? Wenn ja, wie? Wo habe ich Unterstützungsmöglichkeiten? Und warum ist es wichtig, dass ich nicht fatalistisch sage, ein Handeln würde sowieso nichts bringen? Ich sollte meinen Fall irgendwo, beispielsweise bei Inssan, melden, damit er statistisch auftaucht. Damit können wir all die Fälle, von denen Muslime täglich in ihrem Umfeld hören, sichtbar machen. Ansonsten sind sie der Gesamtgesellschaft so nicht bewusst und auch nicht gewahr.

Das war der eine Grund. Der andere besteht darin, dass hiermit auch eine Art von Empowerment (Ermächtigung) verbunden ist. Wenn ich mir dessen bewusst bin, dass das, was mir geschieht, ein struktureller Rassismus in der Gesellschaft ist, projeziere ich das weniger stark auf mich persönlich und muss mich weniger verstecken oder unterordnen. Oft ist es ja so, dass von Diskriminierung Betroffene – beispielsweise wegen Kopftuch – sich in vielen Lebensbereichen eher zurückziehen werden. Oder sich nur in jenen Branchen und nur auf jene Stellen bewerben, wo sie davon ausgehen können, dass sie nicht diskriminiert werden. Oder Wohnungen nur in bestimmten Vierteln suchen, wo sie hoffen können, nicht ausgegrenzt zu werden. Hier findet ein Rückzug statt. Mit einem gestärkten Selbstbewusstsein aber und dem Wissen um die gesellschaftliche Dimension von Islamfeindlichkeit können die Betroffenen sagen: Das ist nicht mein Problem. Dann können sie sich Untersützung suchen, dem zu widerstehen.

Es gibt ganz viele wichtige Gründe, warum gerade muslimische Vereine, TheologInnen oder Gelehrte sich auf jeden Fall äußern sollten.

Islamische Zeitung: Liebe Frau Mühe, wir danken Ihnen für das Interview.

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Razzien bei vermuteten rechten Gefährdern

Planten mehrere Rechtsextreme Anschläge auf Politiker, Asylbewerber und Muslime? Für Festnahmen haben die Ermittler noch nicht genug in der Hand. Aber sie gehen mit Razzien gegen die Verdächtigen vor.

Karlsruhe (dpa). Der Generalbundesanwalt geht seit dem Freitagmorgen mit Razzien in sechs Bundesländern gegen eine mutmaßliche rechtsterroristische Vereinigung vor. Im Zentrum der Ermittlungen stehen fünf namentlich bekannte Personen, wie die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe mitteilte. Es gebe den Anfangsverdacht, dass sie sich zusammengeschlossen hätten, um Anschläge auf Politiker, Asylbewerber und Muslime zu begehen. Diese Idee sei aber noch nicht näher konkretisiert worden. Festnahmen gab es zunächst nicht.

Die Anschlagspläne sollten den Angaben zufolge dazu dienen, bürgerkriegsähnliche Zustände herbeizuführen und „die Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu erschüttern und letztlich zu überwinden“. Acht weitere Personen verdächtigt die Bundesanwaltschaft, die Vereinigung unterstützt zu haben. Sie hätten zugesagt, finanzielle Unterstützung zu leisten, Waffen zu beschaffen und an künftigen Anschlägen mitzuwirken, hieß es.

Ein Anfangsverdacht reicht nicht aus, um beim Ermittlungsrichter einen Haftbefehl beantragen und Verdächtige in Untersuchungshaft nehmen zu können. Die Ermittler dürften aber darauf hoffen, durch die Durchsuchungen mehr gegen die Gruppe in die Hand zu bekommen. Denkbar wäre auch, dass sich die Beschuldigten zu den Vorwürfen äußern.

Die Vereinigung soll seit September 2019 bestanden haben. Die Durchsuchungen dienten dazu, „die bestehenden Verdachtsmomente zu objektivieren“, wurde weiter mitgeteilt. Insbesondere solle geklärt werden, ob die Verdächtigen sich bereits Waffen oder „sonstige Gegenstände zur Anschlagsbegehung“ beschafft hätten.

Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios und des SWR handelt es sich bei den Beschuldigten um Männer zwischen 20 und 50 Jahren. Dem Bericht zufolge tauschten sie die Idee von den Anschlägen und Fotos selbstgebauter Waffen in einer Chatgruppe aus. Darauf sei das Bundesamt für Verfassungsschutz aufmerksam geworden.

Die Durchsuchungen fanden an insgesamt 13 Orten in Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt statt. Federführend beauftragt sei das Landeskriminalamt Baden-Württemberg. In Bayern sei außerdem die Wohnung einer nicht tatverdächtigen Person durchsucht worden.

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) wollte sich am Vormittag in Düsseldorf zu den Maßnahmen äußern.

Die großen Datensauger im Netz

Mannheim (dpa). Populäre Smartphone-Apps, die in ihrem Segment besonders erfolgreich sind, greifen laut einer Studie vermehrt auf sensible Nutzerdaten zu und geben diese auch eher an Dritte weiter. Die Forscher hatten dazu die öffentlich zugänglichen Daten für Android-Apps im Google Play Store ausgewertet, weil sie dort die von der App eingeforderten Berechtigungen relativ einfach und vollständig einsehen können.

Fehlender Wettbewerb in einem bestimmten Segment hänge direkt mit dem Sammeln sensibler Nutzerdaten zusammen, heißt es in der Studie des ZEW Mannheim, der Universität Zürich und der Universität von East Anglia. Als Beispiel führten die Wissenschaftler den Bereich der „Aufräum-Apps“, die auch „Cleaner-Apps“ genannt werden, an.

Unter den knapp 1.800 Programmen in diesem Segment rage die kostenlose App „Clean Master“ als Marktführer mit einem Marktanteil von rund 60 Prozent heraus. Die App frage insgesamt elf Berechtigungen ab, die in die Privatsphäre der Nutzerinnen und Nutzer eingreifen. Unter anderen wolle die App den Standort wissen, was für die Funktionalität der App nicht notwendig sei. Die Forscher stellten bei ihrer Untersuchung weiter fest, dass diese App Daten an mehrere Dritte weitergebe, darunter Werbepartner und Analysefirmen.

Die Daten weisen darauf hin, dass knapp ein Drittel der weit mehr als 30.000 identifizierten Markt-Segmente hochkonzentriert seien. „Es dominieren also lediglich ein oder zwei Apps in dem jeweiligen Markt. Zudem zeigt sich, dass mehr als die Hälfte aller Apps Zugriff auf mindestens eine Berechtigung hat, die in die Privatsphäre eingreift.“

„Das vermehrte Sammeln von Daten und der damit verbundene Verlust an Privatsphäre von Nutzerinnen und Nutzern hängt mit der Marktmacht einer App zusammen“, erklärte Reinhold Kesler, Wissenschaftler an der Universität Zürich, Ko-Autor der Studie und zuvor im ZEW-Forschungsbereich Digitale Ökonomie tätig. „Daten nehmen auch im Markt für mobile Applikationen immer mehr die Rolle eines Zahlungsmittels ein.“

Eine Verteidigung der Mogul

Der Riesenstaat Indien befindet sich derzeit in einer schwierigen Phase. Nach der Blockade Kaschmirs und der Abschaffung seiner begrenzten Autonomierechte provozierte die jüngste Gesetzesreform der hindunationalistischen BJP unter Premier Modi landesweite Proteste. Opposition und Muslime sehen darin einen weiteren Schritt zur Entrechtung muslimischer Bürger. In diesen Zusammenhang ­gehören seit Jahren auch die Versuche hinduistischer Propagandisten, die ­eigene Geschichte einer radikalen ­Revision zu unterziehen. Das Ziel: das muslimische Erbe Indiens entweder zu leugnen oder zu leugnen.

(iz). Indien erlangte 1947 nach langem Freiheitskampf gegen den britischen Imperialismus seine Unabhängigkeit. Deswegen und wegen eines Mangels an historischem Wissen nehmen wir jede Eroberung als Koloni­sierung wahr. Sie wird von Professor Harbans Mukhia wie folgt beschrieben: „Regierung eines Landes und seiner Menschen, jetzt im Namen und in erster Linie zum wirtschaftlichen Nutzen einer Gemeinschaft von Menschen, die in ­einem fernen Land leben.“

Die Mogul kamen nach Indien als ­Eroberer, aber wurden zu Indern und blieben keine Kolonisatoren. Sie verschmolzen ihre individuelle sowie wie ihre soziale Identität mit Indien und wurden, so Mukhia, zu einem seiner ­untrennbaren Bestandteile. Eine Folge war der Aufstieg einer bleibenden Kultur und Geschichte. Prof. Mukhia geht weiter und ist der Ansicht, dass die Frage der Mogul als Fremde bis vor Kurzem kein Thema war. So sehr hatten sie sich in das Land integriert, dass sie sich zu eigen gemacht hat.

Dafür gab es auch keinen Anlass, denn nach Akbar wurden alle in Indien geboren. Viele ihrer Mütter kamen von den Radschputen und ihr „Indisch-Sein“ war gelungen. Babur marschierte in Indien auf Bitten von Daulat Khan Lodi ein. Er gewann das Königreich von Delhi, indem er 1526 die Armee von Ibrahim Khan Lodi bei Panipat besiegte. Damit wurde der Grundstein für das Mogulreich gelegt. Die meisten Mogul schlossen Heiratsbündnisse mit indischen Fürsten, insbesondere den Radschputen. Sie gaben ihnen hohe Ämter und üblicherweise hatte der Kakhhawa-Radschput von Amber den höchsten militä­rischen Posten in der Armee inne.

Es war dieses Gefühl der Verbundenheit mit den Mogul, das die Sepoys antrieb, die 1857 im ersten Krieg für Indiens Unabhängigkeit kämpften. Sie wandten sich dem alternden und machtlosen Kaiser, Bahadur Schah, zu und krönten ihn als Herrscher von Hindustan und kämpften unter seinem Banner.

Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert war das Mogulreich das reichste und mächtigste Gebiet der Welt. Der französische Reisende François Bernier, der im 17. Jahrhundert nach Indien kam, schrieb: „Gold und Silber kommen aus jedem Viertel der Welt nach Hindustan.“ Das ist kaum überraschend, da die Mogul durch den Ausbau von Straßen, Binnenschifffahrt, Meeresrouten, Häfen und die Abschaffung vieler Zölle und Steuern die Wirtschaft ihres Herschaftsgebietes ankurbelten. Es gab einen blühenden Handel mit Fertigwaren wie Baumwollstoffen, Gewürzen, Farbstoffen, Woll- und Seidenkleidung, Salz etc. Die indischen Händler agierten im eigenen Auftrag und nahmen nur Edelmetall als Zahlungsmittel an. Sir Thomas Roe kommentierte das mit den Worten: „Europa blutet, um Asien zu bereichern.“

Dieser Handel befand sich traditionell in den Händen der hinduistischen Händlerklasse, die ihn kontrollierte. Bernier schrieb, dass den Hindus „beinahe ausschließlich der Handel und Wohlstand im Land“ gehörte. Die Muslime besetzten im wesentlichen hohe Verwaltungs- und Armeeposten. Ein von Akbar eingerichtetes effizientes Verwaltungssystem ermöglichte ein gesundes Klima für Handel und Gewerbe.

Dies war es, was die East India Company veranlasste, Handelszugeständnisse vom Mogulreich zu erbitten, es schließlich zu kontrollieren und dann zu ­zerstören. Das Ereignis des berühmten Abflusses von Wohlstand aus Indien begann mit der Ostindienkompanie und nicht mit dem Sultanat von Delhi oder den Mogul. Edmund Burke war der erste, der das in den 1780ern beschrieb. Indien sei, so der bekannte konservative Abgeordnete und Autor sei „radikal und unrettbar ruiniert“ worden durch den „anhaltenden Abfluss“ von Wohlstand durch die Kompanie.

Ökonomische Forschungen machen deutlich, dass die Mogul Indien kein Geld wegnahmen. Wir sollten auch darü­ber reden, in was sie investierten. Sie schufen mit ihren großen Bauten eine Infrastruktur, die auch heute noch unzählige Rupien in die lokale Wirtschaft durch den Tourismus bringen.

Zahlen von Kultusministerien der indischen Bundesstaaten machen deutlich, dass die bekannten Monumente hunderte Millionen Rupien durch den Verkauf von Eintrittskarten einbringen. Dazu gehören das Taj Mahal (210 Mio. Rupien im letzten Jahr), der Qutub-Komplex (100 Mio.) sowie die rote Forte und das Humayuns Grab (beide jeweils 60 Mio.). Der neue Baustil, die indo-­islamische Architektur, übernahm das beste aus beiden Welten.

Sie investierten in das lokale Kunsthandwerk und förderten alte und schufen neue Fähigkeiten in Indien. Swapna Liddle, Direktor vom Indian National Trust for Art and Cultural Heritage ­(INTACH) in Delhi, sagte: „Meiner Meinung nach bestand der größte Beitrag der Mogul für Indien in der Förde­rung der Künste. Ob es sich um Bauten, Kunsthandwerk wie Weben und Metallarbeiten oder bildende Künste wie ­Malen handelte – sie setzten Maßstäbe in Bezug auf Geschmack und Perfektion, die für andere zum Vorbild wurden, und brachten Indien die weltweite Anerkennung für hochwertige handgefertigte Waren, die es immer noch genießt.“

Malereien, Juwelen, Künste und Kunsthandwerke der Mogul sind entscheidende Ausstellungsstücke von westlichen Museen und Galerien. Die meisten ­davon wurden 1857 oder danach von den Briten geplündert. Einige sind auch in Indiens Museen zu sehen.

Die Künste und Literatur blühten. Während neue Werke in der lokalen und der Hofsprache hervorgebracht wurden, gab es auch Übersetzungen aus dem Sanskrit und Persien. Akbar ermutigte die Übertragung des „Ramayana“ und der „Mahabharata“, um Unwissenheit aus dem Weg zu räumen, die zu kommunalem Hass führen könnte.

Dara Shukohs persische Übersetzung der „Upanischaden“, die als „Sirr-e-Akbar“ veröffentlicht wurde, brachte Bernier nach Frankreich. Dort erreichte sie Anquetil Deperron, der sie ins Fran­zösische und ins Lateinische übersetzte. Die lateinische Version wurde vom deutschen Philosophen Schopenhauer gelesen, der durch sie beeinflusst wurde. Er nannte sie „den Trost seines Lebens“. Dieser Wissenstransfer erwecke unter europäischen Orientalisten ein Interesse an post-vedischer Sanskrit-Literatur.

Nicht nur die Mogul-Sultane waren große Bauherren, sondern auch hinduistische Mansabdars und Händler errichteten in vielen Städten Tempel und Dharmshalas; insbesondere in Banaras. Madhuri Desai schreibt in einem enorm gut recherchierten Buch über Bauten in dieser Stadt: „Die Ghats des Flussufers ähneln in erstaunlicher Weise den Festungspalästen der Mogul, die entlang des Jamuma in Agra und Delhi liegen.“

Es ist gefährlich, Geschichte zu ­verallgemeinern – besonders auf lokaler Linien. Während wirtschaftliche Entbehrungen für den einfachen Menschen existierten, wie sie es in jeder Gesellschaft taten und tun, meint Frances W. Pritchett, emeritierter Professor an der ­Columbia University: „Der Eindruck, den man durch die Betrachtung der ­sozialen Bedingungen in der Mogulzeit gewinnt, ist der einer Gesellschaft, die sich auf die Integration seiner vielfältigen politischen Regionen, sozialen Systeme und kulturellen Erbe bewegte.

Die Größe der Mogul bestand zu­mindest teilweise darin, dass der Einfluss ihres Hofes und ihrer Regierung die ­Gesellschaft durchdrang und ihr ein neues Maß an Harmonie verlieh.“

Daher ist es die Behauptung, die ­Mogul hätten Indien geplündert, eine Verfälschung von Tatsachen.

Es ist am besten, Geschichte in ihren Büchern zu lesen, in denen man Fakten erhält, die WhatsApp nicht weiterleitet und in denen Menschen häufig falsche Daten und Informationen gemäß ihrer eigenen Neigungen austauschen.

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Eine Übung in Subjektivität

„Das ist leicht zu dekonstruieren. Und wie Fundamentalismus tendiert es zur inneren Fragmentierung. Diese Vor­stellung besagt: Meine eigene Interpretation ist eine bessere als die der sich langsam bewegenden Gelehrten. (…) Das Ganze wird zur Übung in Subjektivität. Es ist schwierig, Fitra als Grundlage für religiöse Fatwas, Entscheidungen und Urteile zu nehmen, die nicht sofort in Subjektivität absinken. Sie haben nicht die fünf Prinzipien (arab. maqasid) der Schari’a und akzeptieren sie nicht.“

Was ist „liberaler Islam“? Wir reden von Bewegungen, die sich selbst gerne so nennen, und die in den USA ihren Anfang nahmen. Amerika hat der Welt nur die besten Dingen gegeben: zuerst Tabak und dann das…

Die Gefahr des immensen ontologischen Schocks, der von der extremen salafistischen Bewegung ausging (sowie ihr Versuch, den Staat in einen Inquisitionsapparat zu verwandeln, der auf die Leute einschlägt, wenn sie nicht vollkommen sind), führte zu heftigen Abwehr­reaktionen. Sie trieb die Leute in alle möglichen, zur Verfügung stehenden Richtungen.

Einer der Gründe für den Niedergang der Mu’tazila war, dass dem Kalifen Ma’mun ihre Idee von der Erschaffenheit des Qur’an gefiel. Daher ließ er Ahmad ibn Hanbal verhaften sowie foltern und Imam Malik wurde drangsaliert. Diese Gelehrten wiesen seine seltsame Idee zurück. Die Vorstellung eines bestimmten Führers, den Leuten einen voll inqui­sitorischen und strafenden Staatsapparat aufzuzwingen, kennt nur ein sicheres Ergebnis. Die Mehrheit wird davonlaufen und etwas anderes wollen.

Eines der Dinge, die wir heute beo­bachten, ist das Spektakel der verrückten Idee dieser rigorosesten und intensiv fundamentalistischen Form von Religion. Sie wurde den Menschen aufgezwungen und diese wichen in den Ultralibera­lismus aus. Das ist ein menschlicher ­Reflex, aber keine logische oder spirituell nützliche Reaktion, sondern folgt eben unserer menschlichen Natur.

Eine der Folgen dieser Entwicklung lässt sich so darstellen: Vielleicht können wir mit Islamfeindlichkeit (in dieser ­Logik) besser umgehen, wenn wir alles unterschreiben, um dann weniger hassenswert zu erscheinen. Wir sollen diesen Bewegungen zufolge dem dominanten Modell und seiner sozialen Atmosphäre zustimmen sowie schauen, ob wir nicht einigen, seiner gesellschaftlichen Trends bei Themen wie Gender, Transgender oder allen möglichen Sexualitäten folgen können.

Wir haben definitiv nichts mit ­Extremisten zu tun, die solche Wege ­finden. Auch Vorgehensweise ist eine psychologische Reaktion in dem Maße, in dem die fundamentalistische Reaktion eine psychologische ist. Heute ist alles Reaktion auf den Fakt der westlichen Macht. Niemand wird das leugnen ­können.

Beide Optionen bedeuten: Entweder schlägt man sie oder man schließt sich ihnen an. Das Erstere hat nicht funktioniert und endete in der Regel in inner­muslimischer Gewalt. Die andere Möglichkeit ist das Mitmachen. Das Finden eines bequemen Weges, im Islam zu sein, aber noch den Werten derjenigen zu entsprechen, die gerade auf Fox News angesagt sind.

Psychologisch ist es recht leicht als ein Reflex von Menschen zu deuten, die besiegt wurden: wie die einheimischen Bevölkerungen, die im 19. Jahrhundert vom europäischen Kolonialismus überrannt wurden. Am Ende hatte man englische Häuser und Bilder von Königin Viktoria auf dem Kamin. Sie schickten ihre Kinder nach Oxford oder Sandhurst (bekannte britische Militärakademie) und wurde englischer beziehungsweise französischer als Engländer oder Franzosen selbst. Sie fühlten sich als Verlierer. Wenn man sie nicht schlagen kann, schließt man sich den Siegern an. Viele muslimische Eliten sind so. Sie führen langweilige Diskurse darüber, wie westlich sie und wie rückständig ihre Bevölkerungen sind. Im Großen und Ganzen eine unattraktive Elite. Sie ist für einen Großteil der Vehemenz und Rachsucht der Aufstände verantwortlich, die als ­Reaktion auf sie entstanden.

Die Bewegung eines „progressivem ­Islam“ ähnelt dem. Sie ist die Entschlossenheit, sich vom weißen Mann (dem man zustimmt) beruhigend übers Haar streicheln zu lassen und nicht länger der Prügelknabe für die Ideologen des Westens zu sein. FeministInnen und ­AdvokatInnen der neuen Sexualität, um für einen Moment nur frei vom endlosen Bombardement missbilligender Kritik zu leben und sich davon erholen zu ­können.

Und so entstehen diese Trends. Sie sind in der Regel desinteressiert am traditionellen Islammodell. Es besagt, dass sich Authentizität aus dem Respekt für die fortlaufende Diskussion der ­Gemeinschaft ergibt. In dieser kann es lange dauern, bevor spezifische Themen voll verstanden, diskutiert und gelöst sind – insbesondere, wenn sie verwickelt sind und die Umma in Unordnung ist.

Manchmal müssen wir geduldig sein. Manchmal unsere Uneinigkeit mit Leichtigkeit handhaben und sie als unausweichliche Realität einer mehrdimensionalen Gemeinschaft erkennen, die mit kategorisch neuen und seltsamen Problemen konfrontiert wird. Wir sollten von den Gelehrten nicht allzu enttäuscht sein, wenn sie uns keine sofortige und einhellige Rechtleitung zu jeder neuen Sache geben.

Aber progressive Muslime werden im Allgemeinen sagen, die Usul ul-Fiqh seien das kulturelle Produkt einer ­bestimmten Art von ‘abassidischer Welt. Und heute würden wir in einer anderen leben. Sie werden die Schriften unterschiedlich, und auf Grundlage dessen auslegen, was sie für eine heute angemessene Methodik halten. Häufig überschneidet sich dieses Vorgehen mit der fundamentalistischen Sichtweise. Diese tendiert zu Ibn Taimijjas Annahme, ­wonach die Gelehrten selbst in ihrer Übereinkunft nicht notwendigerweise Recht hätten. Und dass der einfache Gläubige durch seine Fitra wahrscheinlich korrekter sei.

Wenn Fitra nun eine Art protestantisches Prinzip bei Ibn Taimijja ist, ist das ein sehr einflussreicher, aber eben auch subversiver Ansatz: Denn die Fitra des einen muss nicht die des anderen sein. Lebt man unter dauerhaftem Beschuss in einem Kriegsgebiet, dann ist die Fitra desjenigen, der wie ich im sicheren Cambridge lebt, davon verschieden. Und so könnte Offensichtlichkeit des Textes in diesem Denken eine andere sein. Dieses Missverständnis von Fitra ist die Basis vieler Verirrungen unseres Zeitalters.

Daher versucht man in Brunei, jede Art dieser reformistischen Subversion kleinzuhalten. Es ist ein kleines Land, funktioniert reibungslos und seine ­jungen Leute melden sich nicht freiwillig für irgendwelche verrückten Abenteuer in Übersee. Es ist dort illegal, Bücher einzuführen, in denen Ibn Taimijja sogar nur in einer Fußnote erwähnt wird. Die Begründung ist: Das ist das Fundament all jener Subversionen. Diese Regelung kommt direkt aus dem Büro des Muftis.

Viele ‘Ulama könnten meinen, das ginge zu weit. Aber dieses Prinzip lässt die Übereinkunft der Gelehrten beiseite und kehrt zum eigenen Verständnis ­davon zurück, wie der frühe Islam angeblich wirklich war. Und man könnte so hypothetisch behaupten, damals hätte man die Rechtmäßigkeit der Homoehe oder aller, neuer Geschlechter anerkannt.

Das ist leicht zu dekonstruieren. Und wie Fundamentalismus tendiert es zur inneren Fragmentierung. Diese Vor­stellung besagt: Meine eigene Interpretation ist eine bessere als die der sich langsam bewegenden Gelehrten. Und manchmal gibt es gar keine Übereinkunft. Meine eigene Deutung der Maqasid der Schari’a mag sowieso eine andere sein als die des Intellektuellen, der neben mir auf dem Podium sitzt, oder von jemandem in San Francisco, der an neuen Theorien bastelt. Das Ganze wird zur Übung in Subjektivität. Es ist schwierig, Fitra als Grundlage für religiöse Fatwas, Entscheidungen und Urteile zu nehmen, die nicht sofort in Subjektivität absinken. Sie haben nicht die fünf Prinzipien (arab. maqasid) der Schari’a und akzeptieren sie nicht.

Eines der Charakteristika der fundamentalistischen Bewegung und des neuen „progressiven Islam“ ist, dass beide häufig tiefgehend zerstritten sind und sich untereinander an die Gurgel gehen. Was sie zu bieten haben, dürfte am Ende spirituell nicht sonderlich erfüllend sein. Eine meiner Schülerinnen betrachtet sich als Teil dieser Bewegung. Sie meint, es sei wirklich interessant, beim Freitagsgebet in der gleichen Reihe wie die Männer zu beten und dabei ­keinen Hijab zu tragen. Sie mag die äußere Form dessen bekommen, nach der sie sich sehnt. Aber gibt es hier echten spirituellen oder moralischen Fortschritt? Ich glaube nicht, dass diese Schülerin das behaupten könnte. Man lässt sich am Ende vom Zeitgeist treiben. Das ist aber nicht Ziel oder Inhalt prophetischer Religion.

Nicht auf dieser und in dieser Welt ­beschränkt ist Islam kein Beliebtheitswettbewerb. Es zählt nicht wirklich, was eine säkulare und profane, materialis­ti­sche und durch Konsum getriebene Welt von uns denkt. Wir können hoffen, dass ihre besten Leute etwas von uns nehmen. Aber der Konsens der Materialisten ist, dass sie keine Religion mögen. Ihnen gefällt nicht einmal die nominell eigene, bis sie zu etwas Formlosen umgestaltet wurde.

In unserem Festhalten an Prinzipien sind wir wie der Sauerteig, er lässt den Teig aufgehen. Wir liefern so den spiritu­ellen Dünger. Wir sind hier, um Geschenke zu bringen, nicht um konform zu gehen oder um wütend im öffentlichen Raum zu agieren – was in sich eine Art hoffnungsloser, nihilistischer und dämonischer Einflüsterung der Verzweiflung ist. Nein, wir müssen besser sein. Und wir müssen volle Bürger aufgrund dessen sein – oder zumindest, dass wir zum Besseren aufrufen. Das ist die Herausforderung, die auf uns wartet.

Wir brauchen ein ganzheitliches, muslimisches Selbst. Denn dann will man zu uns kommen. Das jedoch, ist noch nicht passiert. Noch tragen wir in uns keinen Geist, sondern Turbulenzen, unsere Egos, Ressentiment und Rachsucht.

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Gruselfilm und Heldenreise

(iz). Ob Christopher Tolkien Sam Mendes’ „1917“ noch gesehen hat, ist nicht bekannt. Der Sohn des Schöpfers des „Hobbit“ und des „Herrn der Ringe“ starb am 16. Januar 95-jährig in Südfrankreich. Die Verfilmungen der Werke seines Vaters im Action- und Superheldenstil hat er vehement kritisiert. 1917 hätte womöglich seine Zustimmung gefunden. Denn auch wenn der Film nichts mit Fantasy zu tun hat, steckt in ihm mehr Tolkiensches als in den Tolkienfilmen Peter Jacksons.

„1917“ firmiert nicht nur als Antikriegsfilm (was längst ein beliebtes Whitewashing-Label ist), es ist einer. Das Schicksal des Gefreiten Schofield, der sich im Frühjahr 1917 durchs Niemandsland des „Alberich-Rückzugs“ (so der Codename der deutschen Obersten Heeresleitung) kämpft, um einer abgeschnittenen britischen Einheit den rettenden Befehl zu überbringen, knüpft, so lernen wir im Abspann, an das Schicksal des Lance Corporal Alfred Mendes an, der dies seinem Enkel, dem Regisseur, erzählte. Sam Mendes wurde mit „American Beauty“ berühmt, das Impressive, Abschattende, Panoramatische liegt ihm. Und so vollbrachten er und sein Kameramann, der längst ebenso berühmte Roger Deakins, das Wunder, „1917“ so zu drehen, als bestehe es aus einem einzigen Schnitt. Single-Take nennt man diese Technik, viel wurde und wird über sie im Zusammenhang mit diesem Film geschrieben.

Natürlich ist es das nicht. Natürlich wurde auch „1917“ geschnitten, aber die Kamera folgt immer der Hauptperson, Schofield, der sich erst widerwillig seinem Kameraden Blake (der erhält eigentlich den Auftrag) anschließt, um dessen Befehl dann loyal im Alleingang auszuführen, nachdem Blake auf ihrem Weg durchs Niemandsland von einem abgeschossenen deutschen Flieger erstochen wird. Der Weg durchs dieses Niemandsland – die Deutschen unter Hindenburg und Ludendorff gaben Anfang 1917, nach den vergeblichen, furchtbar verlustreichen Schlächtereien von Verdun und an der Somme, ihren Frontvorsprung auf, um sich zur finalen, für Frühjahr 1918 angesetzten Offensive zu sammeln –, er gleicht der Fahrt durch eine Geisterbahn, der Reise Bilbo Beutlins durch den Nachtwald. Kein Horrorfilm, aber ein Gruselfilm, das ist „1917“ über weiteste Strecken, aber gerade das nimmt dem Film nichts von seiner Größe, nein, es verleiht sie ihm erst.

Jeder Mensch ist doch völlig allein, heißt es in Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ an der Stelle, an der der Erzähler das hilflose Sterben ­seiner Großmutter mitansieht. Mendes’ „1917“ ist die Visualisierung einer schier unfasslichen, überwältigenden Alleinheit und damit der conditio humana schlechthin. Eine Heldenreise und ­Höllenreise, ein Tolkienscher Horrortrip, deren größte Fährnis aber keine Orks und Nachtwölfe sind, auch nicht die paar versprengten Deutschen, die sorgsam drapierten Sprengfallen, die abysmalen Granattrichter, sondern die Weite und Wüstheit dieser Mondlandschaft schlechthin. Braun in braun, grau und grau zieht sich das Bild, Erde und Schlamm, Pfützen und Dreck. Wir sehen die fetten Ratten in den verlassenen Unterständen, geplatzte Pferdekadaver, von Fliegenschwärmen umlagert, Krähen, die an Leichen herumpicken, Pyramiden aus Geschosshülsen in einer aufgegebenen Artilleriestellung. Nie war Hässlichkeit auf der Leinwand so schön.

Die Reise des Lance Corporal Schofield in die Unterwelt, so hätte womöglich ein Evelyn Waugh diese Geschichte genannt. Liebhaber des englischen Humors fühlen sich an das Ende von „Blackadder“ erinnert, der Kultserie der 1980er, die Rowan Atkinson, Hugh Laurie und Stephen Fry mit einem Schlag berühmt machte, an jene berühmte letzte Szene, als endlich das unausweichlich wird, dem die vier Helden sechs Folgen lang ausgewichen waren: das going over the top, der Sturmangriff, der natürlich in einem Massaker enden muss, und so wird das Bild der über den Rand des Schützengrabens nach draußen stürzenden Männer eingefroren, während das todbringende Geratter der Maschinengewehre einsetzt, um überzugehen in sanfte, trauernde Klavierakkorde.

„1917“ sagt viel über den Westen – und über die Welt. Es ist nicht das imperiale, imperialistische England, das sich hier feiert, es ist aber auch nicht das chauvinistische, eroberungssüchtige Deutschland, das hier invehiert wird (das wäre zu wohlfeil, weil es sich von selbst versteht). Es ist die Ausgeliefertheit an die weite, wüste Welt, das Ins-Nichts-Gestellt-sein, worum es diesem Film geht, aber nicht im exaltierten und blasierten Sinne Heideggers, der nie an der Front war, sondern in jenem brutal existenzialistischen Sinne Adams, der von Gott als Erster – und als Einzelner in die Welt hineingeschaffen wurde. „Adam“, schreibt John Eldredge in „Wild at heart“, „wurde außerhalb des Gartens erschaffen, in der Wildnis. Im 2. Kapitel des Buches Genesis wird es ganz deutlich gesagt: Der Mann wurde im Ödland erschaffen, im Busch. Er entstammt dem ungezähmten Teil der Schöpfung. Erst später wird er in den Garten Eden gebracht.“

Der Schock, den der Erste Weltkrieg über die westliche Welt brachte, war, so paradox es klingt, größer als der des zweiten, wenngleich dieser mit ungleich größerer Brutalität geführt wurde und ungleich mehr Opfer forderte. Wer den Zweiten Weltkrieg erlebte, konnte sich, und sei es nur theoretisch, an den ersten erinnern, er war vorgewarnt und also weniger schockiert. Die Zerstörungen aber, die er brachte, wurden schleunigst weggewischt durch das anschließende gigantische Aufbauwerk, im Westen, aber auch im Ostblock, durch einen nie da gewesenen Wirtschaftsboom und eine beispiellos großzügige Sozialpolitik, die die Staatsmänner in Ost und West nach 1945 implementierten, damit eine Katastrophe wie die von 1939/45 sich nie mehr wiederhole. Der Erste Weltkrieg aber traf das Bewusstsein, das „kollektive“ wie das individuelle, unvorbereitet und blank, er war nicht nur Urkatastrophe, sondern Urtrauma, weil er das ­Urtrauma des In-der-Welt-seins – seine Weltlosigkeit – jäh und grell Wirklichkeit werden ließ.

Die Weltkriege, wie der Klimawandel, sind menschengemacht, was aber jeweils katastrophisch über uns Menschen kommt, ist eben nicht das Menschliche, sondern die Naturreiche. Auch wenn ein Projektil in einen Organismus eintritt, wenn ein Körper aus großer Höhe stürzt oder, wie an einer Stelle im Film, unter Wasser zu ertrinken droht, wirken Naturkräfte. Mendes inszeniert diese Naturkräfte mit der Intensität und brutalen Schönheit eines Ridley Scott. Als Schofield endlich, ausgelaugt und abgekämpft, ohne Helm, ohne Waffe noch Seitenwaffe, beim Devonshire Regiment anlangt, dem er seine lebensrettende Nachricht überbringen soll, ruht eine Kompanie des Regiments gerade aus im Wald und lauscht dem Lied, zaghaft-flehend vorgetragen von einer knabenhaften Stimme, „I am a poor wayfaring stranger“, dessen Sänger davon singt, dass er aus dieser Welt der Schmerzen fortgehe, um seinen Vater zu sehen, in jene „bright world“, jene helle Welt gehe er, in der es keine Krankheit gebe, kein Übel und keine Gefahren. Über den Jordan gehe er, seinen Vater, seine Mutter zu sehen.

Ein merkwürdiges Ebenbild unseres Lebens ist Sam Mendes mit diesem Film gelungen. Wir, die wir in Wohlstand und politischer Sekurität aufgewachsen und zu leben gewohnt sind, finden uns dennoch in „1917“ wieder, und ebenso jene, die aus Krieg, Leid und Hunger den Weg zu uns gefunden haben. Warum? Weil die Gewalt der Naturreiche, denen Gott uns zur Bewährung ausgesetzt hat, unausweichlich und allgegenwärtig ist, es herrsche Krieg oder Frieden.

„1917“ ist seit dem 16. Januar in den deutschen Kinos zu sehen.

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Das ferne Ziel

„Wir rasten durch Mekka in japanischen Taxis. Wir führten internationale Ferngespräche via Telefon. Wir schauten NBA-Spiele auf dem Satellitenkanal und fuhren zur Ebene von ‘Arafat in deutschen Bussen (…). Zur […]

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