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Körperschaftsstatus für islamische Religionsgemeinschaften?

(iz). Der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts für islamische Religionsgemeinschaften war Thema einer Fachtagung in Hamburg. Hierzu hatte die SCHURA Hamburg Karina Berg (Humanistischer Verband Deutschlands), Dr. Raida Chbib (Politik- und Islamwissenschaftlerin Universität Frankfurt/Main), Prof. Gritt Klinkhammer (Religionswissenschaftlerin Universität Bremen) und Prof. ­Mathias Rohe (Jurist und Islamwissenschaftler Universität Erlangen-Nürnberg) als Referenten geladen, um mit Gemeindevertretern und weiteren Interessierten über Chancen und Herausforderungen zu diskutieren.

Neben aktuellen Diskussionen um Moscheesteuer und Imamausbildung war für SCHURA Hamburg Anlass hierfür der in diesem Bundesland seit 2013 bestehende Staatsvertrag: In diesem ist nach 10 Jahren Verhandlungen zu dessen Ergänzung und Änderung festgeschrieben, wobei von der islamischen Religionsgemeinschaft die Erlangung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts angestrebt wird. Wie SCHURA-Vorstandsmitglied Norbert Müller in der Einführung zur Tagung betonte, wolle die SCHURA auf dem mit dem Staatsvertrag eingeschlagenen Weg der institutionellen Anerkennung islamischer Organisation weiter vorangehen, da sich dieser als erfolgreich erwie­sen habe. Da das Thema Körperschaft komplex und vielschichtig sei, wolle man mit dieser Tagung einen Diskussionsprozess auf fundierter Grundlage starten.

Zu den Körperschaften, die erst kürzlich ihre Anerkennung erhielten, gehört der Landesverband Berlin-Brandenburg des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD). Über die Erfahrungen hiermit berichtete deren Landeskoordinatorin Brandenburg, Karina Berg. Auf die Frage, was die Körperschaft gebracht habe, antwortete diese „Zunächst viel Arbeit.“ Nachdem der erste Antrag zunächst abgelehnt wurde, habe das Anerkennungsverfahren über 10 Jahre gedauert. 2018 sei die Anerkennung dann in Berlin erfolgt und 2019 in Brandenburg. Spürbar sei seitdem ein mehr an Prestige für den Verband. Der Körperschaftsstatus werde als ein „Gütesiegel“ wahrgenommen. Es gebe einen politischen und medialen Bedeutungsgewinn aber auch mehr Verantwortung. Man könne mehr Einfluss nehmen, was aber mit ­erheblichen Anforderungen verbunden sei, sich in unterschiedlichen Bereichen positionieren zu müssen. Dagegen führe die Körperschaft nicht automatisch zu einer finanziellen Besserstellung, zumal die Unterhaltung der Struktur mit erheblichen Ausgaben verbunden sei. Man finanziere sich weiter durch die am Einkommen orientierten Beiträge der ca. 13.000 Mitglieder sowie aus Spenden, Erbschaften  und Einnahmen aus sozialen Aktivitäten. Seitens des HVD werde es ausdrücklich begrüßt, wenn auch isla­mische Religionsgemeinschaften wie die SCHURA die Körperschaftsrechte erlan­gen würden. Es sei an der Zeit, dass auch auf dieser Ebene den Kirchen andere ­Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gleichgestellt würden.

Raida Chbib stellte in ihrem Vortrag die Entwicklung muslimischer Institutionalisierung in Deutschland dar. Diese vollzog sich über mehrere Etappen: von der Vereinsgründung für lokale Gebetsräume in den 1960er Jahren über die Bildung ethnisch orientierter Verbände in den Achtzigern, sowie dann Ethnien und Rechtsschulen übergreifenden Landesverbänden nach der Jahrtausendwende, bis zur Kooperation mit dem Staat mittels Staatsverträgen, Beiräten und öffentlich geförderter Projektarbeit. Hier reflektierten sich auch Wandlungen im Verhältnis zwischen Staat und Muslimen von der gegenseitigen Indifferenz bis weit in 1990er Jahre über eine gestei­gerte aber oft auf Sicherheits- und Integrationsfragen fokussierte Wahrnehmung bis zur Kooperation durch Verträge. Für die Zukunft islamischer Institutionalisierung sei wesentlich die Weiterentwicklung zu einem Teil der ­Zivilgesellschaft.

Für Hamburg sah die Frankfurter ­Islamwissenschaftlerin ein fortgeschrittenes Stadium der Institutionalisierung. Dieser beruhe bei der SCHURA einerseits auf einer gelungenen Einbeziehung der unterschiedlichen örtlichen Moscheevereine und andererseits auf einem ­entwickelten Dialog mit Politik und Gesell­schaft. Die Zukunftsanforderungen seien eine bessere Medien- und Öffentlichkeitsarbeit, Nachwuchs- und Frauenförderung, ein breiteres zivilgesellschaftliches Engagement sowie ferner Straffung der Strukturen, Professionalisierung der Arbeit und bessere Finanzierung. Werde die Körperschaft angestrebt, so erforderte dies auch eine we­itere Überwindung von Binnengrenzen sowie mehr Flexibilität gegenüber bundesweiten Dachverbänden.

Gritt Klinkhammer war Verfasserin des religionswissenschaftlichen Gutachtens über SCHURA zum Staatsvertrag. Darin wurde festgestellt, dass es sich bei SCHURA um eine Religionsgemeinschaft handelt aufgrund des Bestehens einer umfassenden Religionspflege nach dem geistigen Gehalt und äußeren Erscheinungsbild des Verbandes. Da die Körperschaft zunächst das Bestehen einer Religionsgemeinschaft voraussetzt, wäre diese Voraussetzung hier schon erfüllt. Aktuell sieht Prof. Klinkhammer Stabilisierung und Ausbau der damals schon bestehenden Strukturen. Weiterhin nicht geklärt sei allerdings die Mitgliedschaftsfrage. Bei einer Körperschaft bedürfe es verbindlicher Angaben über die Mitglieder der Religionsgemeinschaft beziehungswei­se der Mitgliedsvereine. Eintritt und Austritt müssten rechtlich klar geregelt sein.

Mathias Rohe ging in seinem Vortrag auf die Voraussetzungen für die Anerkennung als Körperschaft ein. Neben dem Bestehen einer Religionsgemeinschaft seien dies die Gewährleistung der Dauer und die Rechtstreue des Verbandes. Das Kriterium der Dauer sei eine Zukunftsprognose aufgrund aktueller Gegebenheiten. Der Staat wolle das dauerhafte Bestehen der Verbandsstruktur gewährleistet haben. Hierfür spiele auch das Vorhandensein notwendiger finanzieller Ressourcen eine Rolle. Auch Prof. Rohe verwies auf die Erforderlichkeit von Mitgliederlisten. Er vertrat zudem die Einschätzung, dass in einem Anerkennungsverfahren der Einfluss ausländischer Organisationen eine Rolle spiele, wobei nicht das Bestehen theologischer Autoritäten, sondern ein politischer Einfluss auf die Religion kritisch gesehen würde. Ebenso wichtig wie die Erfüllung rechtlicher Kriterien erachtete Rohe die Etablierung eines Vertrauensverhältnisses. Er empfahl den Muslimen dringend, ihre Prozesse einschließlich interner Konflikte möglichst transparent zu gestalten. Angesichts rauer werdender politischer Auseinandersetzungen werde es zudem immer wichtiger, dass die Muslime für ihre Anliegen gesellschaftliche Verbündete gewännen.

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Den Anderen vorziehen

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Das neue Gesicht der Mangelernährung

Seit Jahrzehnten ist die bildliche Darstellung von Mangelernährung bei Kindern von hungernden Gesichtern geprägt. Gefährlich ausgemergelte Körper vermitteln in Medien und Spendenaufrufen die Dramatik von akutem oder chronischen Hunger. Doch dieses Bild stimmt, so die UN-Kinderorganisation UNICEF, nicht mehr ganz.

(iz). Heute gibt es leider immer noch unzäh­lige Millionen Kinder, die unter Mangelernährung leiden. Während deren Zahlen – mit namentlicher Ausnahme von Afrika – auf jedem Kontinent sinken, nimmt das Übergewicht überall – auch in Afrika – in wesentlich schnellerem Maße als früher zu. Darüber hinaus steigt die Zahl der Heranwachsenden, die falsch ernährt werden und denen es deshalb an essenziellen Nährstoffen fehlt.

Nach Angaben eines umfangreichen Dokuments, das vor Kurzem von der UN-Organisation veröffentlicht wurde, können die drei Negativphänomene – Unter- und Mangelernährung sowie Übergewicht – gleichzeitig in vielen Länder oder sogar Familien zu finden sein. In Fachkreisen wird diese Entwicklung als die dreifache Last der Fehlernährung bezeichnet. Sie kann, so UNICEF, ­Entwicklung, Wachstum und Überleben von Kindern, Volkswirtschaften und ­Gesellschaften bedrohen. Es scheint nicht besser zu werden: Einerseits soll diese Last weiterhin wachsen. Andererseits sei kaum ein Land in den letzten zwanzig Jahren bisher darin erfolgreich gewesen, Übergewicht und Fettsucht zu bekämpften.

In dem Papier „The State of the World’s Children 2019: Children, Food and nutrition“ gehen dessen AutorInnen von ungefähr 200 Millionen Kindern unter fünf Jahren aus. Weltweit erhält ein Drittel aller Kinder – sowie beinahe zwei Drittel aller Kleinkinder im empfindlichen Alter von sechs Monaten bis zwei Jahren – nicht die Nährstoffe, die es für seine Entwicklung braucht. Ein akutes Beispiel für das Leid der Mangel­ernährung bei Kindern ist der von Bürger- und Stellvertreterkrieg zerrissene ­Jemen. Hier leiden rund 19 Millionen Kinder derzeit unter fehlender oder falscher Ernährung. Nach Auswertung von Daten aus den Jahren 2013 bis 2018 litten rund 46 Prozent aller Heranwachsenden im Schulalter unter verlangsamtem Körperwachstum.

Diese wachsenden Formen der Ernährung erhöhen Gesundheitsrisiken für die Kleinen. Insbesondere sind das ärmliche Gehirnentwicklung, schwaches Lernen, zu wenig Immunabwehr, erhöhte An­fälligkeit für Infekte sowie vorzeitiger Tod. Trotz eines wachsenden techno­logischen Fortschritts bei Fragen von Gesundheit und Ernährung habe die Welt den grundsätzlichsten Fakt aus den Augen verloren, denn „wenn Kinder ärmlich essen, werden sie ärmlich leben“, sagte die leitende UNICEF-Direktorin Henrietta Fore. Millionen Kinder würden sich nicht gesund ernähren, „weil sie einfach keine bessere Wahl haben“. Es geht, so Fore, nicht nur darum, dass sie genug zu essen haben, sondern auch darum, dass sie das Richtige zu sich ­nehmen. „Das ist die Herausforderung, vor der wir heute stehen“.

Bereits zum Anfang des Lebens spielt schlechte Ernährung eine Rolle. Insbesondere gilt das für die ersten 1.000 Tage. Obwohl das Stillen längst als lebensrettend gilt – nur 42 Prozent aller Kinder unter sechs Monaten erhalten ausschließlich die Brust –, wird eine wachsende Zahl von ihnen mit Muttermilchersatz gefüttert. Zwischen 2008 und 2013 stieg der Verkauf dieser Mittel um 72 Prozent in Ländern mit einem mittleren Einkommen. Dazu gehören die bevölkerungsreichen Nationen Brasilien, China und die Türkei. Dabei hat das Stillen ausreichend bewiesen, dass es unzählige Vorteile hat. Dazu gehören die Senkung der Sterberate von Säuglingen, die Verringerung von Übergewicht und Fettsucht sowie die Steigerung schulischer Leistungen.

Wenn Kinder das schulpflichtige Alter erreichen, sind sie regelmäßig unge­sunden, industriell verarbeiteten Lebensmitteln ausgesetzt. Etwa 42 Prozent der Jugendlichen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen konsumieren mindestens einmal täglich ein zuckerhaltiges Erfrischungsgetränk und 46 Prozent essen mindestens einmal wöchentlich Fastfood. In einkommensstarken Ländern sind es 62 beziehungsweise 49 Prozent. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist weltweit eine junge Bevölkerung mit chronischem Übergewicht, die auf allen Kontinenten zugenommen hat. Von 2000 bis 2016 stieg der Anteil Kinder über Normalgewicht im Alter von fünf bis 19 Jahren von 10 auf 20 Prozent. Es handelt sich dabei um mindesten 340 Heranwachsende in dieser Altersgruppe. „Das ist ein schockierend schneller Anstieg“, erklärte Laurence Chandy von UNICEF. „Es ist schwierig, irgendeinen anderen Indikator für Entwicklungen zu finden, anhand derer man solche eine rasante Verschlechterung ablesen kann.“

UNICEF sieht veränderte Lebensbedingungen und -weisen als systemische Ursache für diese Entwicklung an. Familien verließen in größerem Maße das Land und werden Stadtbewohner. Mehr Frauen arbeiten und versuchen gleichzeitig, ihre Berufstätigkeit mit ihrer Mutterschaft in Einklang zu bringen. Darüber hinaus spielten auch die ökologischen Veränderungen (Klimawandel, Artenvielfalt, Bodenverschlechterung etc.) eine Rolle.

Einen zusätzlich wichtigen Faktor stellen die veränderten globalen Einkommensverhältnisse dar. Industriell verarbeitete Lebensmittel und Getränke werden immer billiger und sind leichter verfügbar. Das Maß des hohen Übergewichts bei Kindern, das früher das „Privileg“ reicher Länder war, findet sich nun in Staaten mit mittlerem und niedrigem Einkommen – insbesondere in Afrika und Ländern Südasiens. So hatte Vietnam 1999 mit unter 1 Prozent die geringste Rate für Fettleibigkeit weltweit. 2016 lag sie bei fast zehn Prozent. In Südafrika sprang sie von 3,3 auf 24,8 Prozent.

UNICEF hat Empfehlungen einer nahrhaften, sicheren und bezahlbaren Ernährung für Kinder in aller Welt formuliert: Familien zu bestärken, ihre Nachfrage nach ungesunden Lebens­mitteln zu verringern. Lebensmittel­produzent und -händler zu motivieren, gesündere bezahlbare Lebensmittel bereitzustellen. Es braucht genaue, leicht verständliche Etikettierung. Verbesserung der Ernährung durch Schutz von Wasser sowie Verbesserung von Abwassersystemen.

Sollte sich kein nennenswerter Wandel einstellen, wie er von UNICEF gefordert wird, kann sich die Triade aus Mangel- und Fehlernährung sowie Übergewicht beziehungsweise Fettsucht weiter vergrößern. Eine separate Studie, die ebenso vor Kurzem veröffentlicht wurde, der World Obesity Federation, geht davon aus, dass die Zahl fettleibiger Kinder bis 2030 um weitere 100 Millionen steigen wird.

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Werden sich die Dienste ändern?

Das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages trifft sich normalerweise hinter verschlossenen Türen. Die Abgeordneten müssen über das, was ihnen die Chefs der Geheimdienste dort berichten, schweigen. Nur einmal im Jahr tagt das Gremium öffentlich.

Berlin (dpa). Der Kampf gegen Rechtsextremisten wird immer komplexer. Früher war die rechte Szene übersichtlicher. Da gab es prügelnde Stiefel-Nazis, sogenannte Kameradschaften, die NPD und kleine Splitterparteien, die meist nach kurzer Zeit wieder in der Versenkung verschwanden. Heute sieht das anders auf. Seine Behörde beobachte hier eine „Entgrenzung“ zwischen gewaltbereiten Extremisten, rechten Hipstern, Intellektuellen und Neuen Rechten, sagte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, am Dienstag in einer öffentlichen Anhörung des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages. „Die Neue Rechte ist in sich selbst heterogen“, fügte er hinzu.

Das Bundesamt nahm am Dienstag eine neue Hotline mit dem Namen „RechtsEx“ in Betrieb. Hier können sich Bürger mit Hinweisen zu Rechtsextremisten und sogenannten Reichsbürgern melden.

Richtig ist: Die Sicherheitsbehörden haben auf die neue Dynamik in der rechten Szene schon vor Monaten reagiert – teilweise aber erst nach Skandalen und Anschlägen wie dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Unter dem Druck der Verhältnisse, wie die Opposition kritisiert.

Mehrere Abgeordnete lobten die Reformpläne der Geheimdienste in Sachen Rechtsextremismus. Kontrovers wurde es bei der Anhörung lediglich, als der Abgeordnete André Hahn (Linke) Verfassungsschutz-Chef Haldenwang aufforderte, die Aktivitäten seines Amtsvorgängers Hans-Georg Maaßen zu kommentieren. Hahn sagte, Maaßen habe jahrelang „seine schützende Hand über die AfD gehalten“ und trete aktuell mit mehr oder weniger offen rechtspopulistischen Positionen in Erscheinung. Haldenwang reagierte genervt. Er sagte: „Ich bin nicht das Kindermädchen von Herrn Dr. Maaßen. Ich habe auch keinen Einfluss darauf, was er tut und wie er sich öffentlich äußert. Manches erstaunt mich auch.“

Der Militärische Abschirmdienst (MAD) will künftig auch solche Soldaten stärker in den Blick nehmen, bei denen die Schwelle zum Rechtsextremismus noch nicht überschritten ist. MAD-Präsident Christof Gramm sagte, seine Behörde wolle auch bei Bundeswehr-Angehörigen noch genauer hinschauen, bei denen es „Erkenntnisse zu fehlender Verfassungstreue“ gebe. Diese „haben in der Bundeswehr nichts verloren“, betonte er.

Er räumte ein, in der Vergangenheit habe man sich vor allem auf die „schweren Fälle“ konzentriert. Laut Gramm bearbeitet der MAD aktuell rund 500 Verdachtsfälle alleine im Bereich Rechtsextremismus.

Der Fall des Offiziers Franco A. hatte im April 2017 umfangreiche Ermittlungen ausgelöst, weil es den Verdacht gab, er könne Teil einer größeren rechtsextremistischen Gruppe sein. Franco A. hatte sich als syrischer Flüchtling ausgegeben. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, aus einer rechtsextremen Gesinnung heraus Anschläge geplant zu haben. Derzeit prüft der Bundesgerichtshof, ob ihm wegen Terrorverdachts der Prozess gemacht werden kann. Gramm betonte, die durch den Fall Franco A. aufgekommenen Befürchtungen, in der Bundeswehr habe sich eine radikale „Schattenarmee“ gebildet, hätten sich so nicht bestätigt.

Eine besorgniserregende Entwicklung beobachten die Chefs der Geheimdienste auch im Bereich der Spionage. Diese habe inzwischen „ein Niveau erreicht, wie man es seit dem Kalten Krieg nicht mehr erlebt hat“, sagte Haldenwang.

Beispielsweise weiteten sich Spionageangriffe des chinesischen Geheimdienstes in Deutschland auf immer neue Bereiche aus. Während sich Cyberangriffe Chinas früher vor allem auf deutsche Unternehmen und Technologie konzentriert hätten, „so interessiert sich China eben auch für deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik“, sagte der BfV-Präsident. Auch im Bereich der Verteidigungspolitik seien Angriffe festgestellt worden, hinter denen Chinesen vermutet würden.

Trotz der Geländeverluste der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) und dem von den USA verkündeten Tod ihres Anführers Abu Bakr al-Baghdadi sei es zu früh für eine Entwarnung in Sachen islamistischer Terror, betonte Haldenwang. Er warnte: „Der IS ist nicht untergegangen, er ist lediglich im Untergrund.“

Mit Blick auf die Lage in Nordsyrien sagte BND-Präsident Bruno Kahl: „Noch sind die uns bekannten Kämpfer nach unserem Wissen nicht entkommen.“ Es sei aber nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Lage nach dem Beginn der türkischen Militärintervention in dem Gebiet geändert habe. Die Gefängnisse und Lager in Nordsyrien würden jetzt „nicht mehr mit der gleichen Intensität“ bewacht und beobachtet. Deswegen seien Ausbrüche und Befreiungsaktionen nicht auszuschließen.

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Die gefährdete Wahrheit

„Während diese gefälschte Welt heranwuchs, haben wir alle mitgemacht, denn ihre Einfachheit war beruhigend. Selbst diejenigen (die Radikalen, Künstler, Musiker und die Gegenkultur), die meinten, sie würden das System angreifen, wurden tatsächlich zum Teil des Betrugs. Auch sie hatten sich in die Fantasiewelt zurückgezogen. Daher blieb ihre Opposition wirkungslos und alles beim Alten.“ Adam Curtis

„Mit der Umarmung der Subjektivität ging die Schmälerung objektiver Wahrheit einher: die Feier der Meinung über Wissen, von Gefühlen über Fakten.“ Michiko Kakutani

(iz). Nach dem islamischen Verständnis sind die Phänomene dieser Welt häufig in Gegensatzpaaren angeordnet: innen und außen, gut und schlecht, Mann und Frau oder wahr und falsch. Letztere Begriffe sind essenzielle Kategorien in der islamischen Lehre. Im Qur’an tauchen sie daher immer wieder auf und einer der Namen Allahs – Al-Haqq – beschreibt die Wahrheit oder auch den Herrn der Welt als die ultimative Realität.

Das heißt, entgegen des zeitgenössischen Hangs zur Filterblasenschwäche und permanenter Dekonstruktion von Wirklichkeit in viele, kleine Subjektivitätsschnippsel besteht ein Anspruch auf verbindliche Wahrheit und Wirklichkeit. Insofern ist es interessant, wie und warum so viele einflussreiche Stimmen des muslimischen Aktivismus in der Lage sind, einerseits die kosmologische Existenz von Wahrheit beispielsweise in ihrem Gebet zu bestätigen, aber gleich­zeitig im Denken grundlegenden Denkregeln zu folgen, welche die Existenz einer objektiven Wahrheit in Frage stellen.

Das Abdriften in den radikaleren Subjektivismus ist keineswegs das Problem spezifischer Gruppen, sondern entspricht zeitgenössischen Entwicklungen. Die postmoderne Philosophie, so heißt es in dem sehr lesenswerten Buch „Der Tod der Wahrheit: Gedanken zur Kultur der Lüge“ der US-Literaturwissens­chaftlerin Michiko Kakutani, anfänglich Vehikel postmarxistischer Metropolen-Linker, wurde in den letzten Jahren sukzessive von rechten und anderen populistischen Bewegungen übernommen. Kakutani schreibt zwar spezifisch über die Lage in den USA seit dem Siegeszug des Trumpismus. Ihre Erkenntnisse jedoch gehen alle an, denen an Mindeststandards der Objektivität gelegen ist.

Für Kakutani befindet sich der „Relativismus“ seit den Kulturkämpfen der 1960er im Aufwind. Damals sei er von der „Neuen Linken“ und den akademischen Aposteln eines postmodernen Evangeliums vertreten worden. Man sei bestrebt gewesen, die Vorurteile des westlichen, männlich-dominierten und bürgerlichen Denkens bloßzustellen. Sie stellten die steile These auf, wonach es keine allgemeinen Wahrheiten gibt, sondern nur kleinere, personalisierte Wahrheiten; Wahrnehmungen geformt durch kulturelle und soziale Kräfte der jeweils eigenen Zeit. „Seitdem wurden relativistische Argumente von der populistischen Rechten – darunter Kreationisten und Klimawandelleugnern – gekapert, die darauf bestehen, dass ihre Sichtweisen gleichberechtigt neben ‘wissenschafts-basierten’ Theorien Platz hätten.“

Der amerikanische Schriftsteller und Kritiker David Shields beschreibt in seinem neuen Buch „Nobody hates Trump more than Trump“ (2018) den US-­Präsidenten und andere als post-pos­tmo­derne Wiedergänger. Es habe den Anschein, als hätten sie die gesamte fran­­zösische Dekonstruktion nach 1968 übernommen und zur Waffe im politischen Theater gemacht. Und für den kanadischen Kritiker und Journalisten Jeet Heer ist Donald Trump „in fast jeder Einzelheit die perfekte Verkörperung des Postmodernismus“.

Nach Ansicht von William Deresiewicz, einem Kollegen von Michiko Kakutani, leitet sich die englische Ent­sprechung für Tatsache etymologisch von einem Tun ab – das heißt, einer Tat oder Handlung. Erst im 16. Jahrhundert, einem Zeitalter, welches das Herausziehen des neuen empirischen Geistes sah, übernahm es seine gegenwärtige Bedeutung für den „wirklichen Zustand der Dinge“.

Im Falle der USA sowie einen großen Teil Europas herrschen spätestens seit Beginn der Jahrtausendwende Unzufriedenheit, die durch veränderte soziale Normen, demographische Veränderungen, steigende Einkommensunterschiede, die Finanzkrise sowie die gesichtslosen Elemente Globalisierung und Technologie viele Arbeitsplätze insbesondere unter der weißen Arbeiterschaft vernichteten. Das führte zu einem kaum artikulierten Unwillen aber auch neuen Unsicherheiten und Ängsten. Weltweit haben Trump und andere nationalistische Führer wie Le Pen in Frankreich, Salvini in Italien, Duterte auf den Philippinen oder Modi in Indien diese Gefühle der Angst und Entrechtung angeheizt. Was sie bieten, sind Sündenböcke, keine Lösungen.

Für Michiko Kakutani reflektiert die Verachtung des Weißen Hauses für Sachkenntnis und Erfahrung umfassendere Einstellungen, die in die weitere US-amerikanische Gesellschaft eingedrungen seien. Angesichts des „hysterischen Diskurses“ (Lacan), der auch in Europa oft zu verspüren ist, können wir begründet von einer umfassenderen Entwicklung ausgehen. Der Technologieunternehmer Andrew Keen warnte bereits 2007 in seinem Buch „The Cult of the Amateur“ davor, dass das Internet Informationen nicht nur über das wildeste Vorstellungsvermögen demokratisiert habe. Es habe echtes Wissen „mit der Weisheit der Masse“ ersetzt. Dadurch seien die Grenzen zwischen Fakt und Meinung, wohlbegründetem Argument und wildester Spekulation gefährlich vermischt worden.

Ein Jahrzehnt später schreibt Tom Nichols in „The Death of Expertise“ über die willentliche Feindlichkeit gegenüber dem fundierten Wissen. Dieses erwachse sowohl auf der Rechten als auch der ­Linken. Ihm zufolge gelte heute, dass „jede Meinung zu irgendeinem Thema genauso gültig ist wie jede andere“.

Dieses Phänomen ist – hier müssen wir selbstkritisch genug sein – ebenso auf muslimischer Seite zu finden. Es ist schon einige Zeit her, dass im innermuslimischen Gespräch der Rückgriff auf anerkannte Punkte von islamischer Lebensweise und Lehre als konsensstiftendes Mittel gelten konnte. Mehr noch, heute herrscht eine Kakophonie der Meinungen, die noch durch gestiegene Atomisierung des/der Einzelnen vorangetrieben wird. Kurz gesagt: Heute befinden wir Muslime uns in der Moderne in einem Vorgang, der damit enden könnte, dass jede/r schließlich sein/ihr eigene/r Qadi, Imam und Faqih ist. Eine andere Facette dieser Erosion ist die schwindende Bereitschaft des „politischen Islam“, muslimischer „Personen des öffentlichen Lebens“ und des virtuellen Aktivismus, das eigene Sprechen überhaupt noch mit Substanz der islamischen Lehre zu unterfüttern beziehungsweise es an sie binden zu wollen.

Ignoranz sei, so Nichols, längst schick geworden. „Wenn Bürger sich nicht um eine grundlegende Kenntnis in den sie betreffenden Fragen bemühen“, schreibt er, „dann geben sie – ob sie es wollen oder nicht – die Kontrolle über diese ab.“ Verlören Wähler die Kontrolle über, für sie wichtige Entscheidungen, riskierten sie das Kidnapping ihrer Demokratie durch ignorante Demagogen „oder den eher ruhigen und schrittweisen Verfall ihrer demokratischen Institutionen hin zu einer autoritären Technokratie“. In Deutschland sehen wir das am bereits lange bestehenden Ausklinken vieler BürgerInnen aus gesellschaftlichen Prozessen, indem sie auf die Seite von Nichtwählern schlagen. So nachvollziehbar diese Entscheidung angesichts der heutigen, parteipolitischen Malaise sein mag, man gibt die vorhandenen Einflussmöglichkeiten so an andere ab.

Für Michiko Kakutani ist es „ironisch“, dass die populistische Rechte die postmodernen Argumente und die ­Zurückweisung des objektiven Denkens übernommen habe. Und, obwohl sie seit Jahrzehnten an die Linke und sehr elitäre akademische Zirkel angebunden seien, die von Trump und Konsorten verachtet werden.

Warum sollten wir uns für diese oft obskur klingenden Argumente interessieren? Man könne, so die Autorin, mit Sicherheit sagen, dass Trump niemals die Werke von Derrida, Baudrillard oder Lyotard durchpflügte. Und Postmodernisten könnte man kaum für den frei schwebenden Nihilismus in aller Welt verantwortlich machen. „Aber einige ­verdummte Folgerungen ihres Denkens sickerten in die Popkultur ein und wurden von den Verteidigern des Präsidenten gekapert, die seine relativistischen Argumente zur Verharmlosung seiner Lügen benutzen.“

Für die Literaturwissenschaftlerin sind die Anhäufung der Ideen (die unter den breiten Schirm des Postmodernismus ­fallen) entscheidend für den Zusammenbruch anerkannter Narrative des Denkens. Dieses Denken habe sich in Literatur, Film, Architektur, Musik und Malerei als befreiend und „in einigen Fällen als transformativ“ erwiesen. Würden postmodernistische Theorien allerdings auf Sozialwissenschaften und ­Geschichte angewandt, führe das zu beabsichtigten und unbeabsichtigten Ergebnissen, die schließlich durch unsere gesamte Natur schnellen würden. „Es gibt viele Bereiche der Postmoderne und verschiedene Interpretationen, aber im weitesten Sinn leugnen postmoderne ­Argumente eine objektive Realität unab­hängig von der menschlichen Wahrnehmung, die durch die Prismen von Klasse, Rasse, Geschlecht und anderen Variablen gefiltert wird.“

Ob es uns bewusst ist oder nicht: In seiner Zurückweisung jeglicher Möglichkeit von Wirklichkeit und ihrer Erset­zung von Wahrheit durch Perspektive und Blickwinkel, zementiert postmodernes Denken das, sowieso schon vorangetriebene Prinzip des Subjektivismus. Und selbst die Idee von Menschen als potenziell rational und autonom handelnden Einzelnen wird beiseite geschoben, während demnach jeder von uns – bewusst oder unbewusst – durch eine bestimmte Zeit und Kultur determiniert werde. Und so bereitet die vorgeblich „linke“ Postmoderne in ihrer Absage an Vernunft und in Folge sogar von Freiheit den Boden für eine latent „rechte“ ­Tyrannis der „Post-Demokratie“.

Für den Sprachwissenschaftler und streitbaren politischen Denker Noam Chomsky verhindert eine postmoderne Dekonstruktion die Möglichkeit des politischen Handelns. „„Einer der Wege, aufregende, neue Ideen zu haben, besteht darin, alles niederzureißen und zu sagen, alles war falsch. Das war auf vielen Gebie­ten sehr willkommen, denn dergleichen unterminiert engagierten Aktivismus. Das Maß von Unvernunft, das hieraus erwächst, unterminiert die Möglichkeiten für ein wirklich bedeutsames und wichtiges Handeln.“ Rationalität sei ein nötiges Werkzeug, wenn man wirklich etwas erreichen wolle.

Auch der britische Regisseur und Journalist Peter Pomerantsev sieht hinter der grundlegenden Untergrabung von objektiver Wahrheit durchaus auch praktische Interessen. „Putin und Trumps Hintertreibung einer möglichen Feststellung von Realität“, schreibt er, „ist taktisch klug. So entfernen sie den Ort, an dem man rational gegen sie argumentieren könnte.“ So verliere sich Kritik in einem Nebel des Nichtwissens. „Vielleicht ist Putins und Trumps postmodernistische Verachtung objektiver Tatsachen ein Teil ihres Reizes. Fakten sind unangenehme Dinge. Sie sagen dir, dass du sterben wirst, dass du vielleicht nicht gut aussehend, reich oder klug bist.“

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Halle: Der Schmerz schweißt zusammen

(iz). Es geht uns jeden Tag ein bisschen besser“, so Izzet Cagac, der Besitzer des Dönerladens, in dem am 09. Oktober Kevin S. Opfer des rechtsradikalen Terrors wurde. Izzet Cagac möchte den Dönerladen am 16. November wieder eröffnen: Vierzig Tage nach der Tat – diese Zeit gilt Muslimen aus dem türkischen Kulturkreis als Trauerphase, wenn nahe Verwandte verschieden. Die Eröffnung soll, wenn es nach Herrn Cagac geht, mit neuen Besitzern stattfinden. Da er selbst mehrere Dönerladen besitzt, würde er gerne den, in dem der Anschlag verübt wurde, renovieren und den Angestellten, die zur Tatzeit anwesend waren, überlassen. Diese erholen sich derzeit vom Schock. Wenn sie den Laden nicht übernehmen möchten, so kämen sie in einem der anderen Läden unter. Cagac stehe voll und ganz hinter ihnen. Eine Begegnungsstätte schwebt ihm vor, falls sie den Laden nicht übernehmen möchten. Ein Ort, an dem Menschen verschiedener Konfessionen sich begegnen und einander kennenlernen können. Die Kerzen und Schals, die vor dem Laden in Gedenken an die beiden Opfer abgelegt wurden, sollen für einen guten Zweck versteigert werden.

Über seine Zukunft befragt, antwortet Herr Cagac: „Unser Leben in Halle wird weitergehen.“ In einem auf Facebook veröffentlichten und sehr berührendem Text, spricht er über Heimat und was sie ihm bedeutet: „Die Geschichte der Menschheit ist seit ihren frühen Anfängen eine Geschichte von Wanderungen und Wandlungen. Niemand von uns kann behaupten, er und seine Vorfahren seien schon immer hier gewesen. Heimat ist nicht etwas, das wir besitzen, das uns allein gehört, sondern Heimat ist dort wo wir uns mit dem Willen etwas aufzubauen niederlassen, eine Familie gründen, Freunde finden und uns geborgen fühlen. Heimat ist in unseren Herzen.“

Der Schmerz schweiße die Bewohner Halles zusammen. Sogar Afd-Anhängern sei vor Augen geführt worden, wohin der Hass auf Fremde führe. Unterstützung erhalte Herr Cagac von Volk und auch von Seiten der Politik. Der Bundespräsident, Frank Walter-Steinmeier, habe ihm alle Arten von Hilfe zugesagt. Auch die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Franziska Giffey, kam nach Halle. Gemeinsam mit Izzet Cagac haben sie die Synagoge aufgesucht, in die der rechtsradikale Terrorist versuchte einzudringen.

Herr Cagac wünscht sich, dass der Hass ende. Er könne es nicht verstehen, weshalb Angehörige verschiedener Konfessionen sich hassen. Möge sein Wunsch in Erfüllung gehen. (von Ahmet Aydin)

Wer Allah liebt, wird alle lieben,
Ohne dabei auszusieben:
Juden, Christen, Atheisten!
Wer nicht steht zu Zivilisten,
Wird nicht Allahs Freund genannt,
Denn ein Freund hat Hass verbannt;
Menschen hassen ist verboten,
Im Quran wird es geboten
Ungerechtigkeit zu hassen,
Tat verurteil’n, keine Rassen.

Strophe eines Gedichts aus der Mai-Ausgabe der IZ 2016.

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Erziehung nach Srebrenica

(Algoritam). Jüngst wurde die Verleihung des diesjährigen Literaturnobelpreises an den österreichischen Schriftsteller und Dramatiker Peter Handke bekanntgegeben. Handke machte von sich Reden, als er sich offen auf die Seite des serbischen Regimes und seiner Machthaber stellte. In seiner Positionierung pro Belgrad leugnete der Schriftsteller den an den Bosniern begangenen Völkermord. Über den bosnischen Genozid und seine Behandlung sprachen wir mit dem US-amerikanischen Forscher John Cox.

Prof. John Cox ist Professor für ­Geschichte und Globale Studien an der Universität von North Carolina in Charlotte und Direktor des dortigen Zentrums für Holocaust-, Völkermord- und Menschenrechtsstudien. Er schreibt momentan ein Buch über Völkermordleugnung, das 2020 veröffentlicht werden soll. Außerdem überarbeitet er die Neuausgabe seines Buches „To kill a People: Genocide in the Twentieth Century“ (2017).

Islamische Zeitung: Prof. Dr. Cox, Sie studieren und lehren seit vielen Jahren Völkermord- und Holocaust-Studien. Wie bekannt oder unbekannt ist der Genozid an bosnischen Muslimen in akademischen Kreisen des Westens?

Prof. John Cox: Unter Fachleuten in den USA, Europa, Australien und ­Kanada – Orte, an denen Völkermordstudien eingerichtet sind – ist dieser ­Völkermord sicherlich gut bekannt. Dort steht er nicht zur Debatte. Neben anderen wie in Kambodscha oder Ruanda gilt er als eines der wichtigsten Beispiele in der modernen Welt.

Aber jenseits der kleinen Welt der ­Experten und Gelehrten ist er wesentlich weniger bekannt und verstanden. Selbst unter Historikern des europäischen 20. Jahrhunderts (die oft überspezialisiert sind) müsste der Völkermord an den Bosniern deutlich bekannter sein. Ich und andere wollen das ändern.

Unter der allgemeinen Öffentlichkeit gibt es weniger Bewusstsein. Diese Unwissenheit ist unglücklicherweise nicht einzigartig. Weniger meiner Studenten haben vom Genozid in Ruanda (1994) gehört – von anderen Tragödien als dem Holocaust zu schweigen. Und doch denke ich, dass die weitverbreitete Unkenntnis über den bosnischen Genozid in weiten Teilen eine Hinterlassenschaft des beschämenden Verhaltens von US-Politikern und Diplomaten in den 1990ern ist.

Ich habe nie jemanden getroffen, der sagte: „Oh ja, ich erinnere mich an Ruanda. So weit ich weiß, war es sehr komplex, mit Grausamkeiten auf allen Seiten, aber es war kein Völkermord.“ Wenn jemand etwas über Ruanda in den 1990er weiß, dann ist ihm der Völkermord bewusst. Im Gegensatz dazu: Wenn sich ein Amerikaner dunkel an den Jugoslawienkrieg erinnert, dann meint er fälschlicherweise, dass sich das Blutvergießen aus „altem Hass“ ergeben hätte. Denn sie erinnern, dass von ­Clinton, seinem Außenminister und anderen – darunter vielen Medien – gehört zu haben.

Erst in den letzten beiden Monaten nach meiner Rückkehr aus Bosnien habe ich mit verschiedenen Freunden ge­sprochen, die trotz ihrer Bildung meinten: „Das war ein großes Durcheinander. Es ist schwer, einer Seite die Schuld zu geben.“

Zur Klarstellung sollte festgehalten werden, dass alle Völkermorde komplex und voller moralischer Zweideutigkeiten sind. Unweigerlich treten sie in Zeiten von Krieg und Revolution auf – mit ­Kriminellen und Opfern auf allen Seiten. Man kann auf Tötungen von Hutu-Zivilisten durch Tutsi-geführte Truppen, das Leiden vieler Türken während des Ersten Weltkriegs oder die Vertreibung von Hunderten von Serben durch ­kroatische Truppen im August 1995 und andere Gräueltaten gegen serbische Zivilisten verweisen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Völkermorde an Tutsi, Armeniern und Bosniern begangen wurden.

Islamische Zeitung: Sie haben kürzlich Bosnien-Herzegowina besucht, das Land bereist und Leute unterschiedlicher Herkunft getroffen. Was sind ihre Eindrücke vom Krieg, dem Völkermord und der Verherrlichung von Kriegsverbrechern?

Prof. John. Cox: Ich hatte die Ehre, einen Monat in Bosnien zu verbringen, die meiste Zeit in Sarajevo. Ich fuhr nach Mostar, Kroatien und fuhr durch den Osten des Landes, das größtenteils den Bosniern gestohlen wurde, nach Sre­brenica. Begleitet wurde ich von einem neuen Freund, der über 20 Jahre mit dem Institut für fehlende Personen arbeitet.

Die unmittelbaren Eindrücke waren die von einem wunderschönen Land; voller wunderbarer Menschen mit reicher Kultur und Geschichte. Eine Sache, die mir in Gesprächen mit Bosniern immer auffiel, war ihr Verlangen, in der Art multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft zu leben, wie sie einst ­existierte. Die Bindung an das Konzept Merhamet – das mich an die Convivencia des islamischen Spaniens erinnert – war aufrichtig und anrührend; weil es verloren war. Genau wie in Spanien wurde diese Halb-Utopie niemals erlangt, aber die Suche nach ihr repräsentierte das Beste der Menschheit: Ungeachtet aller Unterschiede miteinander in Frieden zu leben. Das ist weit mehr, als nur „tolerant“ zu sein. Ich wurde oft an etwas erinnert, das mir ein bosnischer Überlebender vor 20 Jahren sagte: „Während sich die anderen auf Krieg vorbereiteten, glaubten wir immer noch an den einen Traum.“ Der Traum einer gleichen, vielfältigen Gesellschaft, die Jugoslawien angeblich war.

Ich sah auch weniger erbauliche ­Anblicke und Eindrücke, als wir durch die Republika Srbska fuhren. Ich war entsetzt, aber nicht völlig überrascht, als ich auf der Fahrt durch die Stadt Gacko, die einmal eine große bosnische Mehrheit hatte, aber nun beinahe ausschließlich von Serben bewohnt wird.

Islamische Zeitung: Harte Grenzen existieren nicht zwischen den beiden politischen und administrativen Einheiten, aber klare Grenzen sind in der mentalen Geographie vieler präsent. Was waren die größten sozialen, ­wirtschaftlichen und politischen ­Unterschiede zwischen den beiden Einheiten?

Prof. John Cox: Ich muss einräumen, dass meine Eindrücke oberflächlich ­waren. Weder beherrsche ich die Sprache, noch habe ich mehr als nur einige Wochen in Bosnien-Herzegowina verbracht. Aber ich kam zu einem Gefühl für verdrehte Perspektiven, die sich aus der Weigerung ergibt, die im serbischen Namen begangenen Verbrechen – und die Seele einer Gesellschaft – zu behandeln. Diese Dinge vergiften den eigenen Geist – und den einer Gesellschaft.

Natürlich glauben nicht alle Serben der dummen und rassistischen Propaganda von Dodik & Co. Genauso gab es weiße Südafrikaner, weiße Amerikaner und nicht-jüdische Deutsche, die an Gleichheit glaubten. Aber ich fürchte, dass viele Kroaten und Serben, die Natio­nalismus und Rassismus in den 1990ern ihre Heimat verließen – oder ihre Ansichten änderten. Während­dessen werden jüngere Serben im Geist einer nationalistischen Ideologie erzogen. Ich sah einige Teenager, die auf einem Feld nahe Srebrenicas einen Fußball kickten, wo hunderte Muslime, die nach Tuzla fliehen wollten, am 13. Juli 1995 getötet wurden. Entweder kümmerte sie das nicht oder sie glauben sogar, das Massaker sei angemessen gewesen.

Es gibt noch einen anderen starken Eindruck und Kontrast. Mich beeindruckte die großzügige Haltung, die viele Bosnier zum Ausdruck brachten. Solche Menschen sollten nicht notwendigerweise zu hart beurteilt werden. „Sie wurden von ihren Führern getäuscht und ausgebeutet“, sagten viele Leute.

Islamische Zeitung: Es gab viele ­Versuche kroatischer und serbischer Nationalisten, die Geschichte des ­Bosnienkrieges umzuschreiben. Sie wollen ihn als Konflikt darstellen, an dem alle Seiten gleiche Schuld hätten, und sie wollen Srebrenica als isolierten Genozid darstellen. Wie gefährlich ist solch ein Revisionismus?

Prof. John Cox: Das ist gefährlich; vorrangig deshalb, weil Leugnung zu den sichersten Hinweisen auf genozidale Massaker gehört, wie der Experte Gregory Stanton darlegt. „Die Täter des Völkermords öffnen die Massengräber wieder, verbrennen die Leichen, und ­versuchen, die Beweise zu verbergen … und auch versuchen sie häufig, die Opfer für das Geschehen verantwortlich zu ­machen“, schreibt Stanton. Das ist ­genau, was sich in der serbischen ­Leugnung findet.

2005 wurde ein Video veröffentlicht, auf dem eindeutig Hinrichtungen von Zivilisten zu sehen sind. Begleitet ­werden diese vom Lachen und Witzeln der paramilitärischen Einheit „Scor­pions“, die sie durchführten. „Serbien ist tief geschockt“, sagte Präsident Boris Tadic. „Alle, die Kriegsverbrechen gegangen haben, müssen zur Rechenschaft gezogen werden“, erklärte er. Es schien, die Zeit sei gekommen für eine ehrliche Beschäftigung mit der Vergangenheit.

Aber nein! Eine neue Deutung wurde herausgegeben, die ungefähr so klingt: „Wieder einmal werden wir ungerechtfertigt schlecht gemacht. Wir sehen nur die Tötung einiger weniger Leute. Wo sind die sogenannten 8.000? Und ­überhaupt: das waren einige undiszi­plinierte Soldaten. Es war nicht Teil eines Plans.“

Jelena Subotic schrieb, dass Srebrenica in der öffentlichen serbischen Erinnerung eine Irritation darstellt. Ein weiteres Puzzleteil einer anti-serbischen Propaganda. „Srebrenica dreht sich im öffentlichen serbischen Gedächtnis vorrangig um die Serben.“

Viele Elemente der serbischen Leugnung hat Parallelen in anderen Teilen der Welt, wenn auch nicht immer in solchen Ausmaßen. Würde George Orwell heute leben, würden ihm sicherlich viele Länder einfallen. Er schrieb: „Der Nationalist lehnt nicht nur nicht die von seiner Seite begangenen Grausamkeiten ab. Er hat auch die erstaunliche Fähigkeit, nicht von ihnen zu hören.“

Ich möchte versuchen, die schockierendsten und empörendsten Dinge zu vermitteln, die ich beobachtet habe: Die Gebäude in Rogatica, die wie jene in Auschwitz-Birkenau aussehen und die als Konzentrationslager benutzt wurden. Der Fußballplatz von Nova Kasaba, wo hunderte Männer und Jungen am 13. Juli 1995 abgeschlachtet wurden. Das Lagerhaus von Kravica, das heute noch voller Einschusslöcher ist. Bei keinem dieser besuchten Orte konnte ich irgendeinen Versuch erkennen, die Verbrechen zu verschleiern. Tatsächlich erinnern sie an die Bilder vom Lynchen, die vor ­hundert Jahren in den USA aufgenommen wurden. Junge und alte Weiße – darunter bekannte Mitglieder der ­Gemeinde – lächelten ohne Furcht vor öffentlicher Kritik oder rechtlichen ­Folgen in die Kamera.

Die Feier rassistischer Gräueltaten und Morde ist leider nicht einzigartig. In Italien werden Rudolfo Graziani „Der Schlächter von Äthiopien“ und andere Faschisten gefeiert. Und in meinem eigenen Land wird die Landschaft von Denkmälern für Sklaverei verschandelt. Im Kontext von ­Bosnien ist das irgendwie drohender, da Täter und Leugner direkt hinter den Bergen lauern.

Islamische Zeitung: Was können bosnische Muslime von Juden im Kampf gegen die Leugnung von Völkermord lernen?

Prof. John Cox: Die Leugnung des Holocaust wurde teilweise dadurch ­bekämpft, dass man sich an andere Gemeinschaften wandte und Verbündete fand, die die moralische Klarheit und den Anstand hatten, Stellung zu beziehen. Ich denke jedoch, dass das Wissen über den Holocaust und die Opposition gegen die Leugnung des Holocaust aus verschiedenen Quellen stammt. Es besteht kein Zweifel, dass Rassismus dazu beiträgt, zu erklären, warum das amerikanische und europäische Publikum „weißen“ Opfern mehr Sympathie entgegenbringt als den Kambodschanern, Ruandern, Rohingya-Muslimen oder Uiguren in Xinkiang.

Man sollte daher meinen, dass ein ­europäisches Volk wie die Bosnier auf größere Sympathie etc. stoßen würde. Auf Ihre Frage muss ich antworten, dass Juden und Pädagogen des Holocausts die einzigen sind, die Erfolg im Kampf gegen Völkermordleugnung in den USA und/oder Europa hatten. Ich denke, der Hauptgrund dafür ist, dass Europa und der Westen auf Genozid aufgebaut sind. Westliche Institutionen und Medien ­haben einen Weg gefunden, den Holocaust in ein Narrativ zu verwandeln, der die gesamte westliche Tradition nicht in dem Maße, wie es nötig wäre, mit ­anklagen würde.

Aber unter den führenden Institutionen in den Vereinigten Staaten und dem Großteil Europas gibt es wenig Interesse an der Beschäftigung mit ­Völkermorden in Bosnien, Ruanda, Kambodscha, Bangladesch, Guatemala und anderswo. Da scheint es besser zu sein, sie in wage Erzählungen von „altem Hass“ zu hüllen manchmal den Holocaust als Rechtfertigung für die Invasion des Irak zu beschwören. Und natürlich ist der bosnische Genozid besonders ­beschämend für die europäischen und amerikanischen Führer, die daran beteiligt waren.

Nichtsdestotrotz finde ich immer wieder Studenten und andere anständige Menschen. Wenn sie anfangen, von ­Bosnien zu lernen, wollen sie mehr ­wissen und werden dadurch mithelfen, andere zu erziehen.

Das Interview wurde erstmals auf der Website von Algoritam veröffentlicht.

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Erklärung zur Lage der Uiguren

New York (dpa). Deutschland und eine Reihe weiterer Länder haben China die Unterdrückung der Minderheit der Uiguren vorgeworfen. Die chinesische Regierung solle „von der willkürlichen Inhaftierung von Uiguren und Angehörigen anderer muslimischer Gemeinschaften Abstand nehmen“, hieß es am 29. Oktober in einer gemeinsamen Stellungnahme der Bundesrepublik mit den USA, Großbritannien und 20 anderen Staaten vor den Vereinten Nationen in New York. Das Dokument liegt der Deutschen Presse-Agentur vor.
China müsse seine nationalen und internationalen Verpflichtungen zur Achtung der Menschenrechte und der Glaubensfreiheit einhalten, hieß es darin weiter. Die Regierung in Peking reagierte empört und warf den Ländern vor, „die Fakten zu verdrehen“. „Es zeigt umfassend, dass der Angriff China verleumdet“, sagte Außenamtssprecher Geng Shuang. Mehr als 60 andere Ländern hätten Chinas Maßnahmen in Xinjiang unterstützt und seine Fortschritte in Menschenrechtsfragen gelobt.
Der deutsche UN-Botschafter Christoph Heusgen forderte Peking auch auf, der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet ungehinderten Zugang zu Einrichtungen in dem Land zu gewähren. Chinas Außenamtssprecher entgegnete, dass Xinjiang „offen“ sei. Es seien schon ausländische Diplomaten, Journalisten und Religionsführer eingeladen worden. Für solche Besuche müssten allerdings „manchmal erforderliche Verfahren umgesetzt werden“.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geht davon aus, dass in Xinjiang im Westen Chinas bis zu eine Million Menschen in Umerziehungslagern festgehalten werden, die meisten von ihnen Uiguren. Sie sind ethnisch mit den Türken verwandt und fühlen sich von den herrschenden Han-Chinesen unterdrückt. Nach ihrer Machtübernahme 1949 in Peking hatten die Kommunisten das frühere Ostturkestan China einverleibt. Die Regierung in Peking wirft uigurischen Gruppen Separatismus und Terrorismus vor.
Die Erklärung der 23 Länder wurde am Dienstag vor dem Menschenrechtsausschuss der UN-Vollversammlung verlesen. Bei dem Treffen ging es um die Beseitigung der Rassendiskriminierung. Diplomaten zufolge war Deutschland zusammen mit den USA und Großbritannien bei der Ausarbeitung federführend. Weitere Unterzeichner sind unter anderem Frankreich, Österreich, Belgien, Dänemark, Schweden, Norwegen, Kanada, Australien und Neuseeland.

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Wie geht ­Jugendarbeit in der Moschee?

(iz). Die Art und Weise wie sich junge Muslime in Schule und Öffentlichkeit verhalten wird meist auf den Islam zurückgeführt. Wenn auffällige zusätzlich noch eine bestimmte Moschee besuchen, endet die Ursachenforschung für viele: Das haben „die“ in der Moschee gelernt. Wir haben doch den Moscheereport gelesen… so viel zum gesunden Menschenverstand und zur Wissenschaftlichkeit der Menschen in unserer Gesellschaft. Da fällt mir ganz zynisch Churchills Aussage ein, dass das beste Argument gegen die Demokratie, ein Gespräch mit einem Wähler sei…

Seit 2011 halte ich Vorträge in Moscheegemeinden. Inzwischen habe ich über 250 Vorträge gehalten – und das, was in der Öffentlichkeit besprochen wird, die Art und Weise wie über Muslime gesprochen wird, ist teils wahr, teils Lüge. Gerade in diesen Halbwahrheiten liegt die Brisanz, wie uns unser Dichterfürst, der vielleicht bedeutendste Deutsche der Geschichte, lehrt: „Toren und gescheite Leute sind gleich unschädlich. Nur die Halbnarren und Halbweisen, das sind die Gefährlichsten.“ (Goethe)

Immer und immer und immer immer wieder rufe ich die Jugendlichen in der Moschee dazu auf, Goethe und Schiller zu lesen. Dies tue ich primär in, von der IGMG verwalteten Moscheen, aber auch in Moscheen, die von der DITIB verwaltet werden. Die Moschee ist das Haus Allahs, so lehrt es uns der Prophet. Sie gehört niemandem, sie wird lediglich von jemandem verwaltet. Auch das werde ich nie müde vorzutragen.

Vor allem im Ramadan häufen sich Vorträge. Hier nimmt, wie in Deutschland zur Weihnachtszeit, der Versuch zu, Gott näher zu kommen. Ich halte Vorträge in verschiedenen Städten und die Jugendlichen berichten darüber, wie sie unabhängig voneinander in der Schule, der Ausbildung, im Studium und auf der Arbeit behandelt werden. „Du bist mein Lieblingstürke“ (klingt wie Lieblingshaustier), „du bist anders, aber du bist ja auch eine Ausnahme“ (ein gutes Beispiel könne ja nicht zum Kollektiv gehören, die Mehrheit, von denen lesen wir ja in der Zeitung), „wenn doch alle so wären wie du“. Unabhängig voneinander in verschiedenen Städten auf ganz Deutschland verteilt, höre ich diese Aussagen.

Worüber spreche ich in den Vorträgen? Über Yunus Emre, Goethe, Schiller, Hodscha Ahmed Yesevi, Rumi, Saadi Schirazi, Novalis und und und… doch immer und immer wieder fällt mir nun auf, dass die fundamentalsten Grundlagen der muslimischen Werte nicht bekannt sind: Erst vor kurzem sagte ich, dass auf die Beleidigungen und Unterstellungen, die tagein tagaus auf uns herabregnen von der Mehrheitsgesellschaft, Liebe erwidert werden muss. „Versetzt euch in die Lage eines Menschen, in dessen Umfeld kaum Muslime sind. Selbst keinen Kontakt liest er beständig, dass Muslime an einen Qur’an glauben würden, der es erlaube, Frauen zu belästigen, gegen Wissenschaft sei – und diese Muslime würden angeblich systematisch planen, die Gesellschaft zu unterwandern, um die Macht zu übernehmen?

Was tun wir Muslime in der Regel, wenn solch ein Mensch uns diese Dinge unterstellt? Wir werden wütend und wettern, dass „die Medien“ an allem Schuld seien, Lügenpresse und so weiter. – Wer uns so sieht, wird sich bestätigt fühlen. Was können wir tun, um Vorurteile abzubauen? Anders reagieren.“

Hier sind wir bei Yunus Emre. Einem muslimischen Dichter, der dieser Welt islamische Werte verkündet hat. So wie Goethe als Maßstab für Deutschheit genommen wird, müssen Rumi, Yunus Emre und Ibn Arabi, möge Allah ihren Seelen gnädig sein, als Maßstab für Muslime genommen werden. Yunus Emre dichtete: „Wo wer schlägt, sei händelos, Wo wer beleidigt, dort sei stumm.“

Doch diese Weisheiten reichen nicht, um dauerhaft gewappnet zu sein. Wir müssen ändern, wie wir lernen. Es muss System bekommen. Momentan finden in den Moscheen Deutschland meistens einmal wöchentlich Vorträge statt. In Moscheen auch häufiger, in wenigen finden überhaupt keine Vorträge statt. Die Methode Muhammeds, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, war der Vortrag, das Gespräch. Doch was und worüber wird vorgetragen und gesprochen? Was ist Ziel und Zweck eines Vortrags? BILDUNG. BILDUNG. BILDUNG.

Vor kurzem fragte ich in eine Runde, in der viele saßen, die von Kleinkauf in die Moschee gehen, ob sie wüssten, was „Ihsan“ bedeutet. Ihsan stellt ein Drittel des gesamten Islam dar. Dieser besteht aus Iman (Glaubenslehre), Islam (rituelle Praxis) und Ihsan (Gegenwärtigkeit Allahs im Alltag spüren). Dieser dritte ­Aspekt ist vom Begriff her aber leider unbekannt. Kaum jemand konnte die Definition vom Begriff „Ihsan“ geben. Als ich die Definition der Krone der Weisheit, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, zitierte, kannten alle die Aussage. – An diesem Punkt nun müssen wir ansetzen.

Welche Arten des Wissen fallen in die drei Kategorien: 1. Iman – 2. Islam – 3. Ihsan? Dies muss systematisch gelehrt werden, damit muslimische Jugendliche nicht bloß nach Gutdünken etwas als Islam deklarieren, was sich so nicht darin findet.

Beispiel: Ein Jugendlicher kam das erste Mal zu einem Vortrag. Ich erzählte etwas über Kategorie zwei und drei. Als ich sagte, dass das Gebet dazu da ist, unseren Charakter umzuformen und wir durch bewusstes Beten zu sanftmütigeren Menschen werden müssen, kam die Frage: „Auch Nichtmuslimen gegenüber? Müssen wir nicht hart ihnen gegenüber sein?“ – „Nein,“ erwiderte ich „Sanftmut ist allen Menschen gegenüber geboten.“ Daraufhin zitierte ich den als in Europa „Prophet der Liebe“ bezeichneten würdevollen Rumi: „Das Schwert der Sanftmut ist schärfer als das Schwert aus Eisen; nein, es ist siegreicher als hundert Armeen.“ – Der Jugendliche schaute sehr verdutzt. Bisher hatte er sich sein Wissen im Internet über YouTube angeeignet. YouTube ist die Brutstätte für die größten Dummheiten, die Menschen von sich geben… Facebook ebenso. „Wie kommst du auf diese Meinung?“, frage ich manchmal. Internet lautet die Antwort… Und das sind in den meisten Fällen dann Jugendliche, die das, was in der Moschee gelehrt wird, ablehnen, zum Diskutieren oder lediglich zum Freitagsgebet in die Moschee kommen. Doch Journalisten machen daraus: Person X war in dieser Moschee. Dort hat sie sich radikalisiert… „Der größte Lump im ganzen Lande ist / Mit großer Sicherheit der Journalist.“ Was also sollte in einer ­Moschee gelehrt werden?

Iman – Islam – Ihsan
Dies muss den Jugendlichen beigebracht werden. 1. Wer ist Asch’ari, wer ist Maturidi? Ein bis zwei Punkte, die sie voneinander unterscheiden. – 2. Warum ist eine Rechtsschule verpflichtend? Warum geht es nicht ohne? Was unterscheidet sie voneinander? Das Leben Abu Hanifas, Imam Schafiis, Imam Maliks und Ahmed ibn Hanbals. – 3. Was ist Ihsan? Was bedeutet das Wort? Sufis sagen, Tasawwuf ist die Lehre des Ihsan, warum sagen sie das? Was ist Tasawwuf?

Es gibt Moscheen, in denen Sufi als Beleidigung benutzt wird, während in einer Moschee desselben Dachverbands Sufi ein Kompliment darstellt. Da muss flächendeckend Klarheit geschaffen ­werden.

Was ebenfalls dringend beigebracht werden muss, ist Wissen um die Geschichte der Muslime. Hier verfügt so gut wie kein Jugendlicher über irgendeine Art von Wissen.

Islamische Geschichte
Wie wurde Bagdad zu der Stadt des Wissens? Von hier bezog die spätere euro­päische Metropole Córdoba ihre ­Inspiration – Córdoba wiederum inspirierte Paris, Paris deutsche Höfe.

Wie sah der Alltag im allseits gelobten maurischen Spanien aus? Wie fand dort die Wissensvermittlung statt? Dort wurde sehr sehr lange, bis ins 13. Jahrhundert hinein ohne Madrasa Unterricht erteilt, sondern in Moscheen und bei einzelnen Menschen zu Hause. Letzteres ähnelt der Salonkultur im späteren Europa. Lassen sich daraus Vorbilder für uns heute ableiten? Welche Rolle spielte die Poesie in al-Andalus?

Wie gingen die Seldschuken mit verschiedenen Glaubensrichtungen um? Selbst der Ahlu-s’Sunna zugehörig haben sie Muslimen schiitischen Glaubens eine Madrasa zur Verfügung gestellt? Wie sind sie bestehenden, inneren Streitereien beigekommen?

Wie sah der Bildungsalltag im Osmanischen Reich aus? Welche Rolle spielte die Poesie im Leben der osmanischen Bevölkerung? Warum wird das Osmanische Reich als Zivilisation des Tasawwuf bezeichnet? Wie reagierten die ­Muslime, beispielsweise Süleyman, der Gesetzgeber, auf die Renaissance oder auf die Reformation? Er begrüßte diese. Weshalb?

Deutsche Literatur. Denn diese Literatur macht uns bekannter mit dem Land, in dem wir leben. Über die Literatur werden wir auch etwas über die Geschichte, aber vor allem über die Mentalität lernen. Wir werden die Fähigkeit, uns in unsere Mitmenschen hineinzuversetzen, ausprägen und uns zugleich sprachlich verbessern. Es müssen nicht ganze Bänder durchgelesen werden. Erst ein Überblick über die deutsche Literatur: Welche Epochen gibt? Ausgewählte Auszüge, bedeutende Texte. Dies würde den Jugendlichen sowohl in der Schule als auch im Arbeitsleben zugute kommen. Das Selbstbewusstsein wäre ein ganz anderes!

Dies sind einige Vorschläge, die in einer Moschee je nach Alter und einige je nach Interesse gelehrt werden können. Dies würde muslimischen Jugendlichen dazu verhelfen sich selbst und ihre Umwelt besser zu verstehen.

Außer der üblichen Methode ist es auch möglich, mit einer anderen Methode Wissen zu vermitteln, welche bisher sehr sehr selten bis gar nicht angewandt wurde: Theater spielen. Wie dies aussehen könnte, dem werden wir uns inschallah in der nächsten Ausgabe ­widmen.