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Und ewig lockt die Couch: Sind Familien in der „Aktivitätskrise“?

Fünf Minuten auf dem Rad – und die Puste geht aus. Spielkonsole, TV und Handy scheinen bei manchen Kindern das Toben im Freien abgelöst zu haben. Diesen Eindruck bestätigt nun eine Krankenkassenstudie. Was muss passieren?
Berlin (dpa). Und ewig lockt die Couch: In vielen deutschen Familien kommt Bewegung laut einer Krankenkassenstudie zu kurz. Gleichzeitig verbringen schon kleine Kinder mehr Zeit mit Medien als gut für sie wäre. Das geht aus der AOK-Familienstudie 2018 hervor, die am Montag in Berlin vorgestellt wurde. Die Ergebnisse zu Übergewicht und Bewegungsmangel seien ein „klares Alarmsignal“, erklärte die Krankenkasse. Ein Grund für das Phänomen sei Zeitmangel der Eltern.
Die Untersuchung basiert neben Experteninterviews auf eigenen Angaben von knapp 4.900 Familien mit Kindern zwischen 4 und 14 Jahren. Jede dritte Familie bekennt sich dazu, dass Bewegung in der Freizeit für sie keine oder eher keine Rolle spiele. Und nicht einmal die Hälfte der Familien gab an, mit Kindern täglich zum Beispiel zu Fuß zu gehen oder Rad zu fahren. Besonders inaktiv zeigten sich Familien, in denen die Eltern übergewichtig oder fettleibig sind – dies traf auf mehr als jeden zweiten befragten Elternteil zu.
Nur jedes zehnte Kind sei so aktiv wie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlen – „ein fast skandalöser Befund“, sagte Jutta Mata vom Lehrstuhl für Gesundheitspsychologie der Uni Mannheim, die die Studie wissenschaftlich begleitete. „Man könnte von einer Aktivitätskrise eigentlich sprechen.“ Allerdings fallen die Werte zu diesem Punkt in anderen Untersuchungen höher aus – wenn auch in der Tendenz ähnlich.
Daten aus der Langzeitstudie KiGGS des Robert Koch-Instituts (RKI) etwa zeigen: Auf 60 Minuten mäßige Bewegung am Tag, wie sie die WHO als Minimum empfiehlt, kommt im Smartphone-Zeitalter noch ein Viertel der Kinder und Jugendlichen. Auf ein Pensum von mindestens 90 Minuten Sport pro Woche bringt es gut die Hälfte der Mädchen zwischen 3 und 17 Jahren, bei den gleichaltrigen Jungen sind es rund 63 Prozent.
In die KiGGS-Studie flossen Daten von mehr als 12 000 Kindern ein. Sie zeigt auch: Entgegen der häufigen Annahme ist der Anteil übergewichtiger und adipöser Kinder in den vergangenen Jahren nicht mehr angewachsen – die Zahlen stagnieren laut RKI „auf hohem Niveau“.
Die AOK-Studie schlägt aber auch in Sachen Mediennutzung Alarm: 59 Prozent der Vier- bis Sechsjährigen nutzten Medien länger als die empfohlenen täglichen 30 Minuten, am Wochenende überschreiten diese Grenze sogar 84 Prozent der Kinder aus dieser Altersgruppe. Bei den Sieben- bis Zehnjährigen – hier liegt die Empfehlung bei 60 Minuten – sieht es wenig besser aus.
Dabei müssten Familienmitglieder im durchgetakteten Alltag nicht noch extra Trainingseinheiten einplanen: Expertin Jutta Mata rief vielmehr dazu auf, nach Optionen im Alltag zu schauen: „Also, gibt es einen Weg, den ich zu Fuß gehen kann, gibt es eine Treppe, die ich noch hochsprinten kann, gibt es einen Fahrradausflug, den man machen kann.“
Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, verwies auf die Vorbildfunktion von Eltern, wenn es um gesunde Ernährung, Bewegung und Sport gehe. In der Familienstudie gaben jedoch nur elf Prozent der Eltern an, regelmäßig mindestens 150 Minuten moderat Sport zu treiben – damit verfehlt auch der Großteil der Erwachsenen die WHO-Empfehlungen.

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Seehofers Paukenschlag: Derzeit überschlagen sich die Ereignisse

Berlin (dpa). Die CDU sieht nach wie vor Spielraum für einen Verhandlungskompromiss im verfahrenen Asylstreit mit der CSU. „Wir wünschen uns eine Einigung auf ein gemeinsames Vorgehen“, heißt es in einer am Montag von der CDU nach einer etwa eineinhalbstündigen Vorstandssitzung in Berlin verbreiteten Erklärung.
Der CDU-Vorstand begrüßt in der Erklärung, dass zwischen CDU und CSU am heutigen Montag Spitzengespräche stattfinden werden. „In der Migrationspolitik verfolgen wir dieselben Ziele. Wir wollen die Zuwanderung nach Deutschland ordnen, steuern und begrenzen“, heißt es weiter. „Wir wünschen uns eine Einigung auf ein gemeinsames Vorgehen.“ Grundlage der Gespräche mit der Schwesterpartei CSU sei der Beschluss des Bundesvorstandes vom Vortag. „Dieser bietet viel Raum für gemeinsames politisches Handeln.“
CSU-Chef und Innenminister Horst Seehofer hatte am 1. Juli überraschend seinen Rücktritt von beiden Ämtern angekündigt, nach Beratungen der engsten Parteiführung aber später erklärt, seine Entscheidung von einem Einlenken der CDU abhängig zu machen.
Das von ihm verlangte Spitzentreffen der Unionsführung soll nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur aus Parteikreisen um 17.00 Uhr in der CDU-Zentrale in Berlin stattfinden. An den Beratungen werden demnach von CDU-Seite Kanzlerin und Parteichefin Angela Merkel, Fraktionschef Volker Kauder, die fünf Stellvertreter Merkels sowie Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer teilnehmen.
Die CDU hatte am späten Sonntagabend unmittelbar nach der Nachricht von der ursprünglichen Rückzugsankündigung von Seehofer aus allen Ämtern in einem bei einer Enthaltung angenommenen Beschluss die Unterstützung für den europäischen Kurs von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Asylpolitik betont. CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte bei der Vorstellung des Beschlusses gesagt: „Einseitige Zurückweisungen wären unserer Ansicht nach das falsche Signal an unsere europäischen Gesprächspartner.“ Merkel lehnt die von Seehofer angepeilten Zurückweisungen strikt ab.
In dem CDU-Beschluss heißt es weiter, die von Merkel auf dem EU-Gipfel in Brüssel sowie in bilateralen Verhandlungen getroffenen Beschlüsse, Vereinbarungen und Abkommen böten eine gute Grundlage zur wirksamen Reduktion der Sekundärmigration. Mit „Sekundärmigration“ ist die Weiterreise von bereits registrierten Asylbewerbern in andere EU-Staaten gemeint. Die Verhandlungen müssten zügig fortgesetzt werden, sagte Kramp-Karrenbauer. Es sei Ziel der CDU, die Zuwanderung besser zu ordnen, zu steuern und zu begrenzen. Darin sei man sich mit der CSU einig, sagte Kramp-Karrenbauer am späten Sonntagabend.
Welche Punkte in Seehofers Plan haben das größte Spaltpotenzial?
Sein Streit mit Merkel dreht sich nur darum, wer an der deutschen Grenze abgewiesen werden darf. Das ist Punkt 27 im 63-Punkte-Plan von Seehofer. Er sieht die Zurückweisung von andernorts in der EU bereits registrierten Schutzsuchenden vor. Die Kanzlerin will nicht, dass Deutschland das ohne Vereinbarungen mit den betroffenen Staaten einfach so durchzieht. Wie viele EU-Mitglieder da mitmachen und wie belastbar die von Merkel mit ihnen bereits getroffenen Verabredungen sind, ist aber noch nicht ganz klar.
Alle anderen Vorschläge von CSU-Chef Seehofer sind zwischen den Unionsparteien unstrittig. Das heißt aber noch lange nicht, dass der Koalitionspartner SPD bei allem mitgehen würde. Ein Beispiel: Die SPD will die Möglichkeiten der Behörden erweitern, Ausländern auf die Schliche zu kommen, die falsche Angaben zu ihrer Identität machen – etwa weil sie sich so bessere Chancen im Asylverfahren ausrechnen. Seehofer geht aber noch viel weiter. Er will beschleunigte Asylverfahren für jeden, der keine Identitätsdokumente vorlegt. Und das war in den Jahren 2016 und 2017 die Mehrheit der Antragsteller.
Mehr als jeder fünfte Asylsuchende kommt als sogenannter Dublin-Fall. Das heißt, er müsste seinen Antrag auf Schutz nach den Dublin-III-Regeln eigentlich in einem anderen EU-Staat stellen. Die Rücküberstellung dieser Menschen in das Land, das für sie zuständig ist, funktioniert aber sehr schlecht. Das liegt einerseits an der Überlastung der Behörden hierzulande und Verhinderungsstrategien einzelner Asylbewerber, andererseits aber auch an Verzögerungen in Italien und anderen Staaten, in denen diese Asylbewerber zum ersten Mal nach ihrer Einreise in die EU registriert wurden.
Die „Dublin-Rücküberstellungen“ aus Deutschland gelingen derzeit nur in etwa 15 Prozent der Fälle. Das bedeutet: Die Menschen bleiben dauerhaft hier. Denn wenn die Fristen überschritten werden, fällt die Zuständigkeit für das Asylverfahren automatisch an Deutschland.
Steht eine mehr als 40-jährige Karriere vor dem Aus?
Drohungen und Ultimaten gehören schon lange zu Seehofers politischem Besteck: So lange drohen, bis er vermeintlich einen Erfolg erzielt. So war das beim Streit über das Betreuungsgeld, über die Euro-Rettung oder andere Themen. Konflikten mit der Kanzlerin ging der frühere bayerische Ministerpräsident nie aus dem Weg. Meist gab es aber einen Komromiss – oft um den Preis, dass Seehofer sich am Ende mangelnde Glaubwürdigkeit vorwerfen lassen musste. Seine Partei musste stets mitziehen und so manche Kehrtwende mitmachen. Parteifreunde warfen Seehofer oft einen bisweilen autokratischen Führungsstil vor.
Und nun ist in Erfüllung gegangen, womit bei Seehofers Eintritt in Merkels Kabinett eigentlich zu rechnen war: dass der Dauer-Machtkampf zwischen den beiden irgendwann eskalieren muss. Seit Beginn der Flüchtlingskrise hatte es zwischen den beiden immer wieder gekracht. Das ging so weit, dass Seehofer Merkel einmal eine „Herrschaft des Unrechts“ vorwarf, ihr eine Verfassungsklage in Karlsruhe androhte. Nur mühsam ließen sich die Gräben wieder zuschütten. Mit der jetzigen Notbremse hat Seehofer aber nun wohl sein Karriereende besiegelt.
Nach dem CSU-Debakel bei der Bundestagswahl im Herbst 2017 stand Seehofer schon einmal vor dem politischen Aus. Quasi täglich wuchs der Druck auf ihn, eines seiner Spitzenämter – Ministerpräsident oder CSU-Chef – zu räumen. Das Ende ist bekannt: Seehofer stimmte einer Ämtertrennung mit seinem ewigen Dauer-Rivalen Markus Söder zu, der im März zum bayerischen Regierungschef gewählt wurde. So holte Seehofer sich am Ende die Zustimmung für zwei weitere Jahre CSU-Vorsitz. Und dann ging er tatsächlich auch den nächsten Schritt, von dem er zuvor gesagt hatte, er sei nicht Teil seiner Lebensplanung: Er wechselte noch einmal nach Berlin, als Minister für Innen, Bau und Heimat.
Tatsächlich hatte sich Seehofer damit ein Ministerium der besonderen Art zurechtgezimmert: zuständig für alles von der Inneren Sicherheit bis hin zum ländlichen Raum. Den Fokus legte Seehofer aber vor allem auf die Flüchtlingspolitik. Sein Ziel: als zuständiger Ressortchef, so gut es geht, darüber wachen, dass die Flüchtlingszahlen unter Kontrolle bleiben – auch wenn der schwarz-rote Koalitionsvertrag das CSU-Lieblingswort „Obergrenze“ an keiner einzigen Stelle enthält.
Innenministerium arbeitet weiter am „Masterplan Migration“
Der „Masterplan“ zur Migrationspolitik, den CSU-Chef Horst Seehofer der CSU vorgelegt hat, ist möglicherweise nicht die Endfassung. Die Fassung, die Seehofer am Sonntag präsentierte, habe er „als CSU-Vorsitzender und eben nicht als Bundesminister des Inneren“ vorgelegt, erklärte eine Sprecherin seines Ministeriums am Montag in Berlin. Das Bundesministerium des Inneren (BMI) arbeite noch an dem Papier. „Es wird ein Masterplan erarbeitet und auch laufend fortgeschrieben und weiter abgestimmt (…) und der wird vorgestellt durch das BMI, wenn er vorgestellt wird.“
Nachdem dies von Journalisten zunächst so verstanden worden war, dass es mehrere Konzepte gibt, präzisierte sie später ihre Ausführungen und erläuterte: „Es gibt nur einen Masterplan. Herr Seehofer hat gestern eine Fassung des Masterplans als CSU-Vorsitzender vorab vorgelegt. Eine Veröffentlichung durch das BMI ist noch nicht erfolgt. Gegebenenfalls kommt es vor Veröffentlichung durch das BMI noch zu geringfügigen Anpassungen, die aber den Kern des Masterplans nicht grundsätzlich betreffen werden.“
Seehofers „Masterplan Migration“ war bis zuletzt nur einem engen Personenkreis bekannt. Am Sonntagnachmittag präsentierte der Innenminister ihn dem CSU-Vorstand in München. Demnach will er die Gangart gegenüber Schutzsuchenden deutlich verschärfen.
Unter anderem mit Beiträgen von Anne-Beatrice Clasmann, Christoph Trost, Marco Hadem, Jörg Blank und Nico Pointner.

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Wer ist Mesut Özil?

(iz). Das Vorrundenspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Schweden war an Dramatik nicht zu überbieten. Mit seinem genialen Schuss in letzter Minute wendete Toni Kroos zunächst das Ausscheiden der Kicker ab, er erschuf damit gleichzeitig ein geradezu philosophisches Lehrstück. Ein Ereignis, so schreibt der Philosoph Slavoj Zizek, hat die Macht, die Vergangenheit und die Zukunft völlig neu zu schreiben. Das legendäre Tor schuf plötzlich so ein Momentum, das nicht nur rücklaufend in die Einordnung des Geschehens eingriff, sondern gleichzeitig Team, Trainer und Zuschauer neu erschaffen konnte.
Allerdings währte das Glück kurz. Nach dem endgültigen Ausscheiden gegen Südkorea drehte sich der Wind wieder. Der gleiche Toni Kroos gab nun ungewollt die Vorlage zum Gegentor. Die ehemals als selbstbewusst gefeierten Weltmeister wurden nun der Überheblichkeit bezichtigt und in ihrer Heimat endgültig zum Ziel von Spott und Hohn.
Niederlage und Sieg, Gewinner und Verlierer, Zerrüttung und Aufbruch hingen auch bei dieser Weltmeisterschaft für die Mannschaft am sprichwörtlichen seidenen Faden. Spiele mit dieser Dramaturgie erklären letztlich aber auch die Faszination, die der Fußball, nicht nur für Deutsche die wichtigste Nebensache der Welt, entfalten kann.
Mittendrin – wenn auch im Schwedenspiel nach 26 EM- und WM-Spielen nicht auf dem Spielfeld dabei – war ein genialer Mittelfeldspieler: Mesut Özil. Bundestrainer Joachim Löw ist eigentlich ein bekennender und treuer Fan des Stars, hatte ihn  erstmals auf der Bank sitzen lassen. Nach der verdienten Niederlage gegen die dynamischen Mexikaner hätte der Coach sicher auch jeden anderen der enttäuschenden Mittelfeldspieler austauschen können. Löw entschied sich aus sportlichen Gründen gegen Özil und spaltete mit dieser Entscheidung naturgemäß das Fußballvolk.
Nach dem Spiel stellte der Bundestrainer sofort klar, dass er den Mittelfeldstar auch künftig brauche und Özil, mit einem gemeinsamen Bild mit Marco Reus, dass er die sportliche Entscheidung des Teamchefs – mit untadliger sportlicher Einstellung – akzeptierte. Gegen Korea wiederum gab der Trainer Özil wieder eine neue Chance und führte gleichzeitig die Kritik, er stelle die Mannschaft „politisch“ auf, ad absurdum. Nach dem Ausscheiden der Mannschaft sind nun beide, der Trainer und der Spieler, heftiger Kritik unterworfen. Ob es für die Beiden überhaupt gemeinsam weitergeht ist offen.
Gerade die Gestalt Mesut Özils zeigt, dass die Wahrheit des Spiels nicht mehr nur auf dem Platz liegt. Längst sind die Fußballer zu einer Projektionsfläche geworden; und Teil eines größeren Spiels um Macht und Geld. Für Spekulationen jenseits der sportlichen Leistung bietet sich Özil aus verschiedenen Gründen besonders an. Der junge Mann, der sich aus einfachen Verhältnissen ins Rampenlicht gearbeitet hat, ist nicht nur zur Werbeikone und zum Millionär geworden. Er ist zudem ein Deutscher mit türkischen Wurzeln, der auch gerade deswegen immer wieder massiv angefeindet wird. Während die Mehrheit der Deutschen ihn als Beispiel gelungener Integration begreift, sieht eine lautstarke Minderheit in ihm das Gegenteil. Dümmliche Kommentare zur Aufstellung des Bundestrainers wie von der AfD-Fraktionsvorsitzenden Weidel („AfD wirkt“) sprechen hier Bände.
Unüberhörbar gesellt sich hier eine rassistische Komponente zur Beurteilung seiner Person, der letztlich abgesprochen wird, überhaupt ein echter Deutscher sein zu können. Für diesen Teil der Fangemeinde ist es ausgeschlossen, dass ein deutscher Muslim, der sich nicht scheut, ein Bild seiner Pilgerreise in den sozialen Medien zu verbreiten, selbstbewusst die Nation vertritt. Man ahnte, spätestens wenn man Pfiffe gegen Mesut Özil aus der Menge hörte, dass hier nicht nur der Sport und die Fairness, sondern auch anständiges Verhalten auf dem Spiel steht.
Zweifellos spiegelt die Zusammenstellung der Nationalmannschaft heute veränderte gesellschaftliche Verhältnisse wider. Spieler wie Khedira, Rüdiger oder eben Özil erinnern uns daran. Schaut man sich zum Beispiel die Aufstellung der Mannschaft von 1974 an, sieht man die ganze Dynamik der Veränderung. Damals standen elf, sagen wir „bio-deutsche“, Spieler auf dem Platz, die sich als Individualisten verstanden und – nebenbei erwähnt – erst gar nicht auf die Idee kamen, bei der Hymne mitzusingen.
Spätestens nach dem WM-Titel 1990 und dem Rausch der deutschen Wiedervereinigung änderten sich die Rolle und die Zusammensetzung der Mannschaft. Die nationale Symbolik wurde wieder wichtiger und die Ansprüche an den Auftritt ebenso. Der Fußball sollte nun auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe für ein neues, möglichst harmonisches Deutschlandbild übernehmen. Damit änderten sich auch die Ansprüche an Spieler und Fans.
Es ist kein Zufall, dass sich die Kritik an der Figur Mesut Özils immer wieder daran festmacht, dass er die deutsche Hymne nicht mitsingt. Es gehört zur Politisierung, man könnte auch sagen Instrumentalisierung des Spiels, dass diese individuelle Haltung des Spielers nicht mehr akzeptiert, sondern zunehmend von außen interpretiert wird. Er selbst erklärte immer wieder, dass er in diesem Moment ein stilles Gebet spreche, während Teile der Öffentlichkeit unbedingt ein fehlendes Bekenntnis zu „Einigkeit, Recht und Freiheit“ von den unbewegten Lippen ablesen wollen.
Spätestens seit einem veröffentlichten Bild, gemeinsam mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan, mitten in der WM-Vorbereitung, kämpft Özil wieder gegen den Eindruck an, seine Haltung zu Deutschland sei nur eine Art Lippenbekenntnis.
Natürlich sprangen auch diverse Medien wieder auf diesen Zug auf und versuchen einen Gegensatz zwischen „Halbmond und Schwarz-Rot-Gold“ zu konstruieren. Die Idee, dass Deutschland dem Spieler etwas zu verdanken hat, wurde kaum artikuliert. Ein Phänomen, das mit der fehlenden Anerkennung gegenüber der Lebensleistung von Millionen Immigranten im Land zusammenfällt. Eine der wenigen Ausnahmen war ein Beitrag von Ulf Poschardt in „Die Welt“. „Mit seiner introvertierten Melancholie und seiner existentiellen Sorge im heideggerschen Sinne“, so Poschardt in seiner Reflexion über den Mensch Özil, „ist er deutscher und europäischer als jene Lärm-Patrioten, wie der Sportmensch von der AfD, die ihn jetzt aus dem Team schmeißen wollen“.
Es gehört zu den Charaktereigenschaften des introvertierten Özils, dass er die direkte öffentliche Konfrontation eher meidet. Özil schwieg über die ganze Vorrunde und lief auch nach der Niederlage gegen Korea schweigend und enttäuscht an den Medienvertreter vorbei.
Man versteht den Mann, der von sich selbst sagt, dass er „deutsch denkt und türkisch fühlt“, tatsächlich nach der Lektüre seiner Biographie „Die Magie des Spiels“ besser. Hier wehrt er sich gegen die üblichen Vorwürfe, die seine Karriere begleiten: Es ginge ihm nur um das Geld, er sei abgehoben und seine Entscheidung für die deutsche Nationalmannschaft sei taktischer Natur.
Ein Kapitel zum Thema „türkisch-deutsches Streitobjekt“ und der Kunst, die richtige Entscheidung zu treffen, erklärt in seiner Biographie die diesbezüglich komplizierte Seelenlage. Die Frage, ob Mesut Özil für die deutsche oder türkische Nationalmannschaft auflaufen soll, spaltet bereits 2006 seine ganze Familie. Die von ihm verehrte Mutter ist eher gegen eine Entscheidung für die deutschen Farben, der Vater dafür.
Özil muss sich also wirklich entscheiden und läuft schließlich für das deutsche Team auf. Die Entscheidung, zum türkischen Konsulat zu gehen, und den türkischen Pass abzugeben, erforderte Mut und endete dort in einem Spießrutenlauf. Und, auch dies klingt in Özil lange nach und wird heute schnell vergessen, nationalistische Fans greifen ihn an. „Er ist Türke. Er ist kein Deutscher. Wie kann er stolz auf Deutschland sein?“ In diesen Sätzen spürte Özil die Verachtung, die ihm eine Minderheit aus der Türkei damals  für seine Entscheidung entgegenbrachte.
Das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen, prägt Özil. Allerdings birgt seine fulminante Karriere bald Möglichkeiten, die aus der Enge des deutsch-türkischen Verhältnisses herausführen. Mit dem Wechsel nach Madrid und später nach London wird Mesut Özil zum Weltstar. Er lebt an Orten, wo er als begnadeter Fußballer gefeiert und bewundert wird und sich kaum jemand für das ursprüngliche Dilemma seiner Identität interessiert. Niemand stört sich an seiner Herkunft und Religion, niemand erwartet politische Bekenntnisse. Endlich kann er das tun, was ihm seit den Tagen auf den Bolzplätzen rund um Gelsenkirchen am wichtigsten ist: Fußball spielen.
Wer ist also Mesut Özil? Die Beantwortung der Frage stellt sich heute wieder neu, nicht zuletzt für ihn selbst. Europäische Muslime können sich dabei ganz gut in die Gefühlslage Özils versetzen. Die Gestalt des Fußballstars erklärt sich aus verschiedenen Merkmalen: Einer Gemengelage, die sich neben dem sportlichen Genie aus den Aspekten „Muslim, Deutscher und Bürger“ bildet. Als Muslim ist er ein Kosmopolit, der sich auch in Istanbul, Madrid oder London heimisch fühlt. Sein Lebensmittelpunkt liegt noch immer unverkennbar im Ruhrgebiet und er ist – dafür hat er sich nun einmal ausdrücklich entschieden – deutscher Staatsbürger.
Vielleicht ist es gerade seine Eigenschaft als Bürger, die ihn und die Öffentlichkeit gleichermaßen fordert. Es gilt für die Öffentlichkeit, jeden Rassismus zurückzuweisen, die ihm die Bürgereigenschaft absprechen will und für Mesut Özil, seiner gesellschaftlichen Verantwortung als Nationalspieler und Vorbild nachzukommen. Um diese selbstgewählte Rolle muss ihn zwar niemand bemitleiden. Sie muss aber immer mit Respekt vor Person und Leistung begleitet werden. Ob er überhaupt noch für Deutschland auflaufen will, muss sich zeigen. Er wird wahrgenommen haben, wie unfair Teile der Presse nach der Schmach von Kasan über ihn berichteten und ihn zum Sündenbock des  Ausscheidens machen wollten.
Man kann streiten, ob die Rolle des „spielenden Bürgers“ eine Überforderung ist. Sie wäre es jedenfalls dann, wenn jeder Nationalspieler, unabhängig von seiner Herkunft, einer permanenten Gesinnungsprüfung unterläge. Sport ersetzt nicht Politik. Das Schicksal der deutschen Integrationspolitik entscheidet sich nicht auf dem Rasen, sie basiert nicht auf den undurchschaubaren Zufällen eines Spiels, sondern beruht auf den Entscheidungen in den deutschen Parlamenten.

Treffpunkt Russland

(iz). Vier Wochen lang blickt die Welt auf Russland. Bisher ­verlaufen die vom russischen Präsidenten, Wladimir Putin, eröffneten Spiele reibungslos. Es ist ein Fest. Fußballfans aus aller Welt bringen bunte […]

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100 Senioren und ich: Reise nach Sankt Petersburg

(iz). „Hier sind ja nur alte Menschen“, beschwerte sich meine fast 70 Jahre alte Oma. Wortlos schaue ich sie an und schüttele den Kopf. Wir stehen in der Wartehalle am Flughafen in Helsinki. Immer mehr Menschen versammeln sich um uns herum. Ab 55 aufwärts. Mit meinen 24 Jahren bin ich die Jüngste. Wie sich herausstellt, gehören die hundert Reisende alle zu unserer Reisegruppe. Die meisten aus Bayern. Ich habe nicht besonders viele Vorurteile, deshalb gehe ich ganz unvoreingenommen an die fünftägige Reise.
Nachdem sich die Reiseleiterin vorgestellt hat werden wir in vier Busse aufgeteilt, um zum finnischen Hafen zu fahren.
„Eine Woche mit 100 Senioren“, geht es mir durch den Kopf.
Natürlich haben mich meine Freunde gefragt, wieso wir nicht direkt von München nach Sankt Petersburg fliegen. Genau dasselbe habe ich mich auch gefragt. Da meine Oma die Reise gebucht hat, antwortete sie: „Wir müssen dann kein Visum beantragen.“ Wenn man mit dem Schiff über Finnland nach Russland einreist, bekommt man für 4 Tage ein kostenloses Kurzvisum ausgestellt. Dafür müssen wir die Tickets für die 15-Stündige Überfahrt bezahlen. Und das Hin und zurück.
Ich muss zugeben, die Aussicht über den Finnischen Meerbusen war atemberaubend. Die vielen kleinen Inseln, der rötliche Sonnenuntergang am Horizont der Ostsee, runden das perfekte Panorama ab. Skandinavien hat mich schon immer fasziniert. Die bestimmt offensten Leute der Welt, die Natur und die Tatsache, dass öffentliche Toiletten sauber sind. Bedauernswert, wenn man bedenkt, dass in den nordafrikanischen Ländern, wo der Islam geprägt ist, die Toiletten sehr schmutzig sind. Auf Details will ich jetzt nicht eingehen.
Ein altes Paar läuft auf dem Deck herum und hat fragt mich, ob sie ein Bild von mir und meiner Oma machen dürfen. Im Gegenzug soll ich die Beiden ebenfalls fotografieren.
Wir kommen ins Gespräch. Wie auch auf meinen anderen Reisen, werde ich auf mein Kopftuch angesprochen. „Ist es möglich, dass eine Muslimin eine katholische Großmutter haben kann?“, fragt der ältere Mann interessiert. Die Worte gehen langsam über seine Lippen. „Wieso denn nicht?!“, erwidert seine Frau. „Ich bin evangelisch und du bist katholisch. Die Hauptsache ist, dass wir alle an den lieben Herrn glauben.“ Das Paar fängt an heftig zu diskutieren. Ich will noch etwas einwerfen, aber komme nicht mehr zu Wort. Das Beste was meine Oma und ich jetzt machen können, ist uns still und leise von dem diskutierenden Paar zu entfernen.
„Diese Alten“, murmelt meine Oma kopfschüttelnd.
Neben Brötchen und diversen Salate mit Mayonnaise gibt es auch Spaghetti zum Frühstück.
Da auf dem Schiff knapp 1.000 Passagiere sind, haben wir mit der Buchung eine Karte bekommen, auf der steht, wann wir in den Saal zum Essen dürfen. Wir sind Gruppe 2 und dürfen um 09.15 Uhr rein.
Meinen ersten Konflikt habe ich mit einer jungen Chinesin, die sich mein Bort aus dem Toaster nehmen will, da sich über 300 Gäste einen winzigen Toaster aus den 1980er Jahren teilen müssen. „Das ist mein Brot“, sage ich auf Englisch und komme mit einem Teller in der Hand wieder. „Aber du bist nicht da gewesen.“
„Ja, weil ich mir einen Teller geholt habe und du dich vorgedrängelt hast.“
„Ich habe Hunger“, erwidert sie. „Wie wir alle“, antworte ich schon leicht genervt. Wütend starrt die kleine Frau mich an und geht schließlich vor sich her nuschelnd zu den Spaghetti.
Weitere Stunden später fahren wir in den Hafen von Sankt Petersburg ein. Drei Frauen fangen an etwas auf Russisch zu singen. Es macht mir Spaß, ihnen zu zuhören, wie sie sich auf ihre Heimat freuen und es auch zum Ausdruck bringen.
„Mein ganz neues Handy funktioniert nicht mehr.“ Eine ältere Dame aus der Reisegruppe kommt auf mich zu. „Können Sie mir bitte helfen?“
„Was funktioniert denn nicht?“, frage ich.
Die Frau ist ganz aufgelöst. „Da ist alles dunkel.“
„Haben Sie in den Einstellungen gespielt?“ Ich greife nach dem neusten iPhone. „Sie haben die Displaybeleuchtung verstellt. Durch die Sonne sieht man jetzt nichts.“
Ich stelle die Beleuchtung auf die höchste Stufe und gebe der Frau ihr Handy zurück.
Es wird noch amüsanter. Die Mitreisenden, die die meisten Hilfen brauchen und sich an mich wenden, sind diejenigen, die schon die letzten 24 Stunden über mich herziehen und mich nur mit ihren herablassenden Blicken würdigen.
Einer ist so mutig und sagt mir, dass der Islam keine „deutsche“ Religion sei und er deshalb nicht verstehe, weshalb ich hier in Deutschland Muslimin bin.
„Was ist denn für Sie eine deutsche Religion?“, frage ich.
„Unser christlicher Glaube“, antwortet er ganz stolz.
„Inwiefern ist das Christentum denn deutsch? Das Christentum hat wie das Judentum und dem Islam seinen Ursprung im Nahen Osten.“
Tatsächlich bin ich der einzige Muslim in der Reisegruppe und im Hotel. Was mich absolut nicht stört, da ich das Gefühl habe, als würden die Mitarbeiter im Hotel mir eine Sonderposition geben. Ohne zu fragen, zeigt mir einer im Speisesaal, in welchem Essen kein Alkohol und kein Schweinefleisch ist. Mir gegenüber sind sie auch viel aufgeschlossener.
Die meisten aus der Reisegruppe regen sich ständig darüber auf, dass hier nicht Deutsch gesprochen wird. In Russland. Ich verdrehe die Augen und bete zu Gott, dass ich nicht genauso im Alter werde.
Während einige ihre Reisepapiere verlieren, werden andere aus der Gruppe beklaut. Obwohl die Reiseleiterin ausdrücklich gesagt hat, wir sollen unsere Wertsachen im Hotel lassen. Meine Oma, ihre zwei Freunde und ich entgehen knapp einen Diebstahl. Den Rest des Tages werden wir von einer Mafia verfolgt, die uns schon im Visier hat, seitdem wir vom Hotel zur U-Bahn gegangen sind, in der auch wir fast beklaut worden sind.
Reisen ist meine Leidenschaft. Aber die Reise nach Sankt Petersburg über Helsinki, ist trotz ihrer atemberaubenden Schlösser und Sehenswürdigkeiten ein großer Flopp. Es macht mich traurig zu sehen, dass alte Menschen auf der Straße und an Kirchen betteln müssen, während Millionen ausgegeben werden, um die Attraktionen in Stand zu halten.

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Neue Allianz will Bewusstsein für Islamfeindlichkeit schärfen

Berlin (KNA). Mit einer Allianz unter dem Titel „Claim“ wollen 35 Organisationen und Projekte das Bewusstsein für Islam- und Muslimfeindlichkeit schärfen. „Das Klima und der Ton gegenüber Muslimen sind deutlich rauer geworden“, sagte die Projektverantwortliche Nina Mühe am Dienstag (den 26. Juni) in Berlin. Die Allianz wolle daher das Thema, das in engem Zusammenhang zu Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit stehe, auf die gesellschaftliche und politische Tagesordnung setzen. Nötig seien mehr Beratungsstellen bundesweit, wünschenswert wäre ein Bundesbeauftragter für Islamfeindlichkeit, so Mühe weiter.
Die Allianz ist ein Projekt der Mutik GmbH und liegt im Geschäftsbereich der Jungen Islam Konferenz. Finanzielle Unterstützung erhält das Bündnis aus dem Programm „Demokratie leben!“ des Bundesfamilienministeriums. Mitglieder sind unter anderem die Vereine Juma und Inssan, das Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg, der Verband binationaler Familien und Partnerschaften, die Stiftung gegen Rassismus und die Arbeiterwohlfahrt.
Im vergangenen Jahr wurden in der ersten Kriminalstatistik zu Islamfeindlichkeit 1.075 Übergriffe auf Muslime und muslimische Einrichtungen registriert. Der Leiter des Referats „Demokratie leben!“ im Bundesfamilienministerium, Thomas Heppener, sprach davon, dass antimuslimische Ressentiments salonfähig geworden seien – auf der Straße und im Netz.
Die Dunkelziffer der Straftaten ist aus Sicht von Experten hoch. Wie der Salzburger Politikwissenschaftler Farid Hafez erklärte, melden schätzungsweise weniger als 20 Prozent der Betroffenen Übergriffe. „Muslimfeindlichkeit oder Islamfeindlichkeit ist heutzutage wohl der gesellschaftsfähigste Rassismus“, so Hafez. Die gesamte Gesellschaft müsse sich dieser Entwicklung entgegenstellen.
Die Vertreterinnen des Antidiskriminierungsnetzwerks Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg, Eva Andrades, und des Vereins Inssan, Zeynep Cetin, berichteten von einer wachsenden Zahl an Betroffenen, die sich an ihre Beratungsstellen wendeten. Dabei gehe es oft um alltäglichen Rassismus, bei der Wohnungssuche oder im Beruf. „Die Grenzen der Religionskritik und die offene Ausgrenzung und Rassismus verschwimmen immer mehr“, sagte Cetin. Viele Betroffene nähmen Diskriminierung dabei als normal wahr, trauten sich nicht, etwas zu unternehmen oder wüssten nicht, was.
Link zur Webseite: claim-allianz.de

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Steinmeier: Ramadan mahnt zu friedlichem Zusammenleben

Berlin (KNA). Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich in seiner Grußbotschaft zum Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan für ein friedliches Zusammenleben ausgesprochen. Immer selbstverständlicher werde das Fest des Fastenbrechens gemeinsam mit nichtmuslimischen Freunden und Nachbarn gefeiert, heißt es in der am Mittwoch in Berlin veröffentlichten Botschaft. „Ein leidenschaftlicher Glaube, aus dem uns Trost und Orientierung kommen, der uns Heimat, Geborgenheit und Identität schenkt, ein solcher Glaube weiß auch, dass er Verantwortung trägt für das friedliche und gedeihliche Zusammenleben aller in unserem Land“, so der Bundespräsident.
Steinmeier erinnerte in seiner Botschaft an ein Treffen mit Mevlüde Genc. Sie verlor vor 25 Jahren bei einem fremdenfeindlichen Mordanschlag in Solingen mehrere Familienmitglieder. „Immer aber hat sie Versöhnung vorgelebt – und sie ist so zu einem Vorbild geworden“, schrieb der Bundespräsident. Die Kraft zur Versöhnung gewinne sie aus ihrem islamischen Glauben. Bereits als kleines Mädchen in der Moschee ihres türkischen Heimatortes habe sie gelernt, dass vor Gott alle Menschen gleich seien. Steinmeier wünschte sich, dass diese Botschaft in allen Moscheen, ebenso wie in Kirchen und Synagogen verkündigt werde.
Der diesjährige Ramadan begann am 16. Mai und endet am Donnerstagabend. Zwischen dem Beginn der Morgendämmerung und dem Sonnenuntergang ist Muslimen Essen, Trinken, Rauchen und Geschlechtsverkehr untersagt. Mit dem Iftar, dem gemeinsamen Abendessen, wird das Fasten täglich beendet. Das Fastengebot gilt für alle Muslime ab der Religionsmündigkeit, was dem Alter von etwa 14 Jahren entspricht.

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Eine Kraft zur ­Gestaltung

(iz). Ein Blick auf den muslimischen Diskurs oder auch ein Querschnitt ausgewählter Freitagspredigten würde dem Unbedarften ein verkürztes Bild vermitteln. Hier erhielte unser hypothetischer Zeuge den nicht ganz stimmigen Eindruck, bei der islamischen Lebensweise ginge es – neben dem rituellen Kernbestand und einigen Ernährungsregeln etc. – vor allem um politische und aktuelle gesellschaftliche Fragen.
Dieser traurige Umstand ist der Tatsache geschuldet, dass ein großes Feld der menschlichen Aktivität im hiesigen muslimischen Denken scheinbar nicht vorkommt: der ökonomische Alltag. Ökonomie wird in Moscheen oder Akademien überhaupt nur dann bemüht, wenn es darum geht, Spender von wohltätigen Zwecken zu überzeugen. Im sonstigen Fall tritt das Thema an den Tag, wenn es um die Behandlung „islamischer Banken“ geht. Das ist umso irritierender, da das das klassische Denken des Islam sozio-ökonomischen Transaktionen (arab. mu’amalat) einen enormen Platz einräumt.
Zu den Praktikern, die hier Abhilfe schaffen wollen, gehört die neuseeländische Forscherin, Autorin und Beraterin Dr. Thamina Anwar. In ihrem 2017 erschienenen Buch über das muslimische Stiftungswesen (arab. auqaf) als Mittel hin zu einem sozialen Unternehmertum von muslimischer Seite (Waqf: A Vehicle for Islamic Social Entrepreneurship) behandelt sie das Thema erschöpfend. Ihr geht es nicht nur um die Aufbereitung eines tradierten Modells. Sie möchte es auch für eine Anwendung in der heutigen Zeit erschließen.
Entscheidendes Werkzeug
In der Geschichte spielten die Institutionen der Stiftungen (arab. auqaf) eine entscheidende Schlüsselrolle. Sie finanzierten einen Großteil der Wohlfahrt zur Verbesserung von Gemeinschaften. Heute jedoch wird der Hauptanteil des bestehenden Auqaf-Vermögens in Banken und in unproduktivem Land zwischengelagert. Das behindert den Geldfluss von den Reichen zu den Armen. Im Gegenzug dazu bestand die geschichtliche Funktion eines Waqf darin, eine Plattform zur Umverteilung von Besitz zu sein.
Da sich die Ungleichheit der Besitzverhältnisse zwischen Arm und Reich weiter vergrößert, gibt es eine beträchtliche Zunahme von Armut – in der westlichen Welt sowie in Entwicklungsländern. Es gibt Bedarf zur Wiederbelebung der Auqaf, um ausgegrenzte Gemeinschaften zu ermächtigen und den Graben der Besitzverhältnisse zu verkleinern.
Das Buch von Dr. Thamina Anwar will eine Bilanz des Stiftungswesens ziehen und Einblicke in seine Grundlagen geben. Damit sollen nach Absicht der Autorin Lösungen aus einer muslimischen Perspektive entwickelt werden. „Waqf: A Vehicle for Islamic Social Entrepeneurship“ beschreibt eine andere Dimension der Investition von Stiftungsvermögen in die Praxis des sozialen Unternehmertums. Anwar will eine Methodik beschreiben, wie beide Modell zusammen funktionieren können. Ihr Ziel ist der Aufbau von Stiftungen als soziale Unternehmen.
Die Neuseeländerin ist Gründerin von tradenotriba.com. Sie ist Autorin, Forscherin, Dozentin und Beraterin verschiedener internationaler Einrichtungen, NGOs und muslimischer Stiftungen. Ihr 2017 bei einer malaysischen Einrichtung erschienene Titel ist die aufgearbeitete Version ihrer Doktorarbeit. Anwar erhielt mehrere Abschlüsse in Malaysia, Südafrika und Großbritannien. In den letzten Jahren arbeitete sie in verschiedenen Sektoren – von Forschung, über Lehre und Bildungsmanagement bis zu externer Beratung, Förderung von Jungunternehmern sowie verschiedenen Tätigkeitsbereichen, die das Thema berühren.
Globale Fragen
Herausforderungen wie Armut und Ungleichheit sind globale Fragen, wenn die finanzielle und wirtschaftliche Entwicklung nicht das Wohlergehen der Armen reflektieren. Ein großer Teil der Weltbevölkerung hat nicht genug Arbeitsplätze, keinen angemessenen Lebensstandard, Gesundheitsvorsorge oder Bildung. Global bleibt Armut eine der größten Aufgaben der Entwicklung von Schwellenländern.
Nach Ansicht von Anwar verursacht ein nicht-nachhaltiges Wachstum Welleneffekte. Viele Länder müssten mit den Folgen eines unhaltbar gewordenen Wirtschaftswachstums fertig werden. Für sie gehören hierzu Schäden am Klima, an Gemeinschaften sowie an den natürlichen Ressourcen. Insbesondere eine Schädigung der Umwelt sowie der Raubbau an ihr werde durch übermäßigen Ressourcenverbrauch bewirkt. „Die Zerstörung der Ökosysteme und das Aussterben ganzer Arten beeinträchtigt die Nachhaltigkeit der weltweiten Ressourcen für die künftigen Generationen“, schreibt sie in ihrem Vorwort.
Bisherige Entwicklungen seien den versprochenen Erwartungen in der Lösung sozio-ökonomischer Fragen nicht gerecht geworden. Die erste Ursache dafür stellt für Dr. Thamina Anwar der unausgeglichene Fokus auf das Wirtschaftswachstum dar. Ihm werde zuviel Einfluss gegenüber der Entwicklung von Gemeinschaften und ihrer Ermächtigung eingeräumt. Zweitens übersehe man Faktoren, welche die Nachhaltigkeit und moralische Integrität von Wirtschaftssystemen beeinflussen würden. Drittens seien bisherige Systeme an individualistischen Interessen orientiert. „Finanzgewinne erhalten den Vorzug vor sozialen Zielen.“ Obwohl viele muslimische Länder über reichhaltiges Kapital bei natürlichen, wirtschaftlichen und menschlichen Ressourcen verfügten und obwohl Muslime zur Zirkulation von Wohlstand angehalten seien, sei „Massenarmut bekannt und weitverbreitet“.
Welche Instrumente haben wir?
Möglicherweise gehen die Wurzeln des Stiftungswesens, das von Muslimen entwickelt wurde, auf die Araber vor dem Islam zurück. Hier sind Beeinflussungen möglich. Aber es sind das islamische Recht sowie die von Muslimen entwickelten Institutionen, welche Werkzeuge und Mechanismen für eine gerechte Zirkulation von Wohlstand boten. Ein kurzer Blick auf die muslimische Geschichte zeigt, dass beispielsweise die Periode unter dem Kalifen ‘Umar ibn ‘Abd Al-‘Aziz (717-720 n.chr.Z.) Ein goldenes Zeitalter der Ökonomie war. Damals war die Einsammlung der Zakat so effektiv und effizient, dass die Leute auf den Markt zur Suche nach Bedürftigen gingen, und niemanden finden konnten.
Dr. Thamina Anwar stellt sozio-ökonomische Modelle wie Zakat, das Stiftungswesen sowie andere Einrichtungen und Mechanismen dar, um eine ausgeglichene Wirtschaft zu schaffen, die sozial gerecht ist. Diese Instrumente und Ansätze dienten dem Zweck, die Gesellschaft nachhaltig zu befördern. „Das betrifft die Vergabe, Produktion, Zirkulation und Rezirkulation von Ressourcen.“ Diese Behandlung des Themas zeige, dass ein Studium der Lösung sozialer Herausforderungen wesentlich für den gesellschaftlichen Fortschritt sei.
Anwar folgt in ihrer Behandlung dem Ökonomen Bakar, wonach die globale Finanzkrise viele Muslime zur Suche nach alternativen Wirtschafts- und Finanzsystemen veranlasst habe. Die von den sogenannten islamischen Finanzeinrichtungen gemachten Angebote sprächen bloß Symptome an, anstatt sich mit den grundlegenden Ursachen zu beschäftigen. Sie seien Kopien der kapitalistischen Einstellung des Westens und basierten auf den Bausteinen des konventionellen Systems. „Dann stellt sich die Frage, ob Muslime ihre eigenen ökonomischen Modelle und Lösungen für sozio-ökonomische Gegenwartsthemen brauchen. Oder reicht es aus, wenn sie bestehende, konventionelle Modelle des Westens übernehmen und sie auf eine muslimische Bevölkerung anpassen?“
Dr. Thamina Anwar geht von der Notwendigkeit eines eigenständigen Modells aus. Der Islam habe eine Ökonomie hervorgebracht. Hier fänden sich Instrumente und unkonventionelle Ansätze, die zur Verringerung von Armut und Ungleichheit führten. Auf Grundlage des Qur’an, den Aussagen des Propheten sowie seiner Lebensweise, sei ein Pfad und ein Fundament für eine faire und gerechte ökonomische Infrastruktur gelegt. Der Autorin geht es um nichts weniger als „die Formulierung von Lösungsansätzen für soziale Herausforderungen und sozio-ökonomische Probleme aus einer islamischen Perspektive – insbesondere auf Basis der islamischen Quellen“.
Ihr Buch solle zum wachsenden Wissen über die Auqaf und dem sozialen Unternehmertum von einer muslimischen Warte aus beitragen. In ihren Augen kann das muslim-eigene Stiftungswesen ein Mittel für eine nachhaltige und verantwortungsbewusste Ökonomie sein. Insbesondere dann, wenn die Stiftungsmittel zur Ermächtigung von Gemeinschaften, sozialer Gerechtigkeit, dem Ende der Armut sowie für die Nachhaltigkeit eingesetzt würden. Angesichts der mehrheitlichen Leere zu diesen Themen zumindest im deutschsprachigen Raum ist es keine Anmaßung, wenn Dr. Thamina Anwar davon ausgeht, hier einen eigenständigen Beitrag leisten zu wollen.
Zurück zum Anfang der Zukunft
Um Lösungen für die gegenwärtigen ökonomischen, finanziellen und sozialen Probleme aus muslimischer Perspektive zu finden, sei es „von überragender Bedeutung“ zum Anfang zurückzugehen und die grundlegenden Lehren zu betrachten. Immerhin sei soziales Unternehmertum im Islam keine neue Sache, wenn man sich die Quellen genauer anschaue. Seit den frühesten Anfängen breitete sich das wohltätige Verhalten parallel mit dem Islam selbst aus. Eine dieser Einrichtungen ist der Waqf. „Er ist entscheidend für die Finanzierung einer verfeinerten Gemeinschaft und hat Potenzial, viele heutige Fragen wie Armut, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit zu lösen“, schreibt Anwar.
Diese Institution spielte eine Schlüsselrolle bei der Erfüllung der meisten gemeinschaftlichen und sozialen Bedürfnisse. Jahrhundertelang waren die Auqaf starke finanzielle und sich selbst erhaltende Einrichtungen. Sie konnten rechtlich nicht aufgelöst werden und waren autonom in ihrer Verwaltungsstruktur. Diese Stiftungen boten eine Plattform, über die verschiedene Dienstleistungen für die Allgemeinheit angeboten wurden. Sie sorgten sich ausschließlich um das Allgemeinwohl.
In ihrer Arbeit widerspricht Dr. Anwar auch der Ansicht, der auf Dauerhaftigkeit angelegte Charakter des Stiftungswesens hätte zu mangelhafter Beweglichkeit und zu einem ineffektiven Gebrauch von Ressourcen geführt. Sie führt Wissenschaftler wie Y. Lev an, die darin gerade einen unschätzbaren Vorteil sähen. Die permanente Natur der Auqaf in Verbindung mit ihrer dauerhaften rechtlichen Privilegierung führe zu einer Permanenz des nützlichen Charakters. Das mache den Waqf zu einer höherwertigen Form der Wohltätigkeit.
Im zweiten Kapitel ihres Buches geht die neuseeländische Forscherin und Beraterin auf die grundlegende Natur des Stiftungswesens ein sowie auf das islamische Verständnis von Wohltätigkeit und Menschenfreundlichkeit. Sie beschreibt darin die historische Reise des Stiftungswesens und zeigt, wie es insbesondere unter den Osmanen zur Blüte gelangte. Erwähnenswert sie hier insbesondere den weiblichen Beitrag. Hier geht Dr. Anwar auch auf die Abweichungen von der Lehre und Fehlentwicklungen der Stiftungen in der heutigen Zeit ein. Das ist auch deshalb von Belang, weil sie in den mehrheitlichen muslimischen Ländern sowie in Staaten mit einer muslimischen Minderheit eine Wiederbelebung des Stiftungswesens diagnostiziert.
Es geht der Autorin aber auch darum, die positiven Erfahrungen anderer nutzbar zu machen. So sei im Westen das soziale Unternehmertum als eine wichtige ökonomische Plattform erkannt worden, die zur Lösung der globalen sozio-ökonomischen Probleme beitragen könne. Sie spiele in zunehmendem Maße eine entscheidende Rolle in der Verbesserung von Wohlfahrt sowie bei der Förderung der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung. In vielen Gegenden seien das Dienstleistungen, bei deren Bereitstellungen Regierungen häufig scheiterten. Schwellenländer hätten viele Innovationen aus diesem Bereich angenommen – wie preisgünstige Augenoperationen, sanitäre Einrichtungen in ländlichen Gebieten, Mikrokredite, Hausprojekte usw.
Daher ist es auch nur folgerichtig, dass Dr. Thamina Anwar sich in ihrem relevanten Buch mit einem Überblick über die westlichen Erfahrungen des sozialen Unternehmertums befasst. Sie konzentriert sich dabei auf dessen Ursprünge, bestehende Sektoren und seine vielfältigen Eigenschaften. Hierbei geht sie auch auf dessen praktische Möglichkeiten bei der nachhaltigen Gemeinschaftsentwicklung, der Armutsbekämpfung, der sozialen Gerechtigkeit sowie weiteren globalen Trends ein.
Von einem islamischen Standpunkt aus betrachtet sei das soziale Unternehmertum „keine neue Sache“. Es habe starke Fundamente in der muslimischen Lehre. So gebe es eine reichhaltige Kultur und Tradition des Gebens. Dieses war hauptsächlich freiwillig, hatte spirituellen Charakter und richtete sich auf das unmittelbare Umfeld. „Das lässt sich von der Geschichte des islamischen Wirtschaftens ableiten“, schreibt Dr. Anwar. Beispiele dafür finden sich in den Konzepten des Stiftungswesens, der Vermächtnisse, der freiwilligen Spenden, des Schenkens, der Zakat, der ideellen Privatdarlehen sowie der Erbteilung.
Hier sieht sie verschiedene theoretische und praktische Wissensbereiche betroffen. Ihr zufolge gehörten dazu: die Ziele der Schari’a (arab. maqasid al-schari’a), die rechtlichen Grundlagen der Anbetung (arab. fiqh al-’ibada), das Recht der sozialen Transaktionen (arab. fiqh al-mu’amalat) aber auch das Einheitsverständnis (arab. tauhid) sowie die islamischen Vorstellungen zum Thema Geld (arab. mal). Zusätzlich führt sie in das Thema der Ökonomie des Schenkens und der Struktur des freien Marktes (arab. suq) zur Zeit des Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, ein. Gerade die Kategorie des Schenkens verändert die Maßstäbe des menschlichen Verhaltens sowie die Einstellung zu den Werten, Normen und Glaubensinhalten in Sachen Geld. So stelle dieses Konzept die essenzielle Basis für ein Rahmenwerk des sozialen Unternehmertums dar.
Dieser wichtige Abschnitt geht in den folgenden über, in dem sich Anwar auf Ibn Khalduns Vorstellungen von gemeinschaftlichem Zusammenhalt (arab. ‘asabijja) fokussiert. Ihr Argument für dessen Anwendung auf das soziale Unternehmertum besteht darin, dass beide positive Werte und Normen förderten. Dazu zählten Zugehörigkeitsgefühl, Zusammenarbeit und Vertrauen. „Sie alle sind in den religiösen Lehren des Islam geborgen“ und stünden demnach auch im Kern des vorliegenden Themas. Für sie ist das Hauptwerk des großen nordafrikanischen Denkers eine Grundlage für eine islamische Perspektive auf das soziale Unternehmertum. Denn ‘Asabijja stehe im Kern von gemeinschaftlichem Empowerment, sozialer Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit sowie Armutsbekämpfung. Sie könne einen effizienten und wirksamen Mechanismus zur Schaffung von sozialem Einfluss und Profit bereitstellen. Um diese Gruppensolidarität bei Ibn Khaldun zu verstehen, sei es wichtig, ihre Grundlagen zu begreifen. Das gelte auch insbesondere in Hinblick auf die Anwendung der ‘Asabijja für soziale Entwicklung und deren Rolle in der Schaffung eines förderlichen Umfelds. Mit diesem ließen sich starke Bindungen zwischen den Gruppenmitgliedern verbessern.
Trotz des leicht sperrigen Titels füllt Dr. Thamina Anwars Buch – gerade im deutschsprachigen Raum – eine wichtige Lücke. Sie erklärt nicht nur das enorm wichtige Stiftungswesen sowie verwandte ökonomische Konzepte und Modelle. Anwar legt auch dar, an welcher Stelle der heutige Umgang mit den Auqaf – insbesondere bei einer Zentralisierung der Stiftungen sowie einer stellenweisen Passivität – unproduktiv geworden ist. Und sie formuliert faszinierende Überschneidungen zu grundlegenden Konzepten wie Ibn Khalduns ‘Asabijja sowie dem immer wichtiger werdenden sozialen Unternehmertum. Das ist gerade für Muslime wie jene in Deutschland von erheblichem Interesse. Fand doch das spannende Genossenschaftswesen hier eine erste Heimat. Wie besser ließen sich, jenseits der Negativschlagzeilen, Anknüpfungspunkte zwischen Muslimen und Nichtmuslimen finden?

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„Damit das Vermögen wieder zirkuliert“

(iz). Dr. Thamina Anwar ist neuseeländische  Autorin und Unternehmerin. 2017 veröffentlichte sie ihr Buch „Waqf (Endowment): A Vehicle for Islamic Social Entrepreneurship“ (Waqf: Ein Mittel für Islamisches Soziales Unternehmertum). Sie konsultiert internationale Unternehmen und Organisationen zum Umgang mit dem islamischen Stiftungswesen und ist Gründerin von tradenotriba.com, einer Initiative zur Förderung wirtschaftlichen Wachstums ohne Riba. Wir sprachen mit ihr über die Bedeutung der Auqaf in der Vergangenheit und deren Relevanz im heutigen Kontext sowie über ihr Modell des ­„Islamic Social Entrepreneurship“.
Islamische Zeitung: Was kann man unter dem islamischen Stiftungswesen verstehen und wie wurde es in der Vergangenheit praktiziert?
Dr. Thamina Anwar: Die Geschichte des Islam ist reich an Philanthropie, da Wohltätigkeit ein grundlegender Teil des Dins ist. Eine Wohlfahrtseinrichtung, die den anderen höhergestellt ist, ist die Waqf – die Stiftung. Sie wurde vom Propheten, Allahs Segen und Friede auf ihm, nachdrücklich empfohlen und viele seiner Gefährten haben Auqaf (pl. von Waqf) unter seiner direkten Anleitung errichtet.
Die Stiftung geht aufgrund ihrer fortdauernden Natur weit über die gewöhnliche Art der Wohltätigkeit hinaus. Die Geschichte zeigt uns ihre herausragende sozio-ökonomische Rolle in der Entwicklung der islamischen Zivilisation, denn viele der Wohlfahrtseinrichtungen zur Besserung von Gemeinschaften wurden durch sie finanziert.
Das islamische Stiftungswesen ging weit über die Erfüllung der Bedürfnisse der Armen hinaus. Die Auqaf der Kalifen ‘Umar und und ‘Uthman, möge Allah mit ihnen zufrieden sein, sind Beispiele für die direkte Anweisung des Propheten. Es ist zu betonen, dass sie nicht bloß religiösen Zwecken dienten, wie etwa dem Bau einer Moschee oder einer Madrassa. Der Zweck dieser beiden Auqaf war ausschließlich ein öffentlich-ziviler, denn sie dienten dazu, soziale Bedürfnisse zu decken und gesellschaftliche Herausforderungen zu meistern. Beide Auqaf waren dazu da, um eine langfristige Stärkung und Bereicherung der Gemeinschaften sicherzustellen. Insbesondere die Waqf von ‘Uthman gilt als Beispiel für die Nutzung des Stiftungsvermögens als Stärkung der Gemeinschaft.
Waqf-Institutionen waren das Fundament gesellschaftlicher Entwicklung und der Katalysator für Arbeit, soziale Gerechtigkeit, Gemeinschaftsentwicklung, Bildungshilfe und Armutsminderung. Die osmanische Ära ist ein gutes Sinnbild dessen, was es bedeutet, wenn Auqaf in das Zentrum sozio-ökonomischer Entwicklung gestellt werden. Das Studium der Geschichte des Osmanischen Reiches ist ein wichtiges Mittel zur Erforschung des islamischen Stiftungswesens. Die Anzahl der Auqaf erreichte ihren Höhepunkt während des osmanischen Sultanats und Leute wetteiferten darin, Stiftungen zu etablieren, denn diese waren das Hauptmerkmal der osmanischen Wirtschaft und somit maßgebend für die Finanzierung anspruchsvoller Märkte.
Die osmanische Wirtschaft war flexibel und so vital, dass sie ausreichend wirtschaftliche Infrastrukturen für die Auqaf schuf. Es wird geschätzt, dass drei Viertel des urbaren Gebietes des Osmanischen Reiches Waqf-Land waren. Das gesamte Gesundheits-, Bildungs-, und Wohlfahrtsbudget wurde durch die Stiftungen sichergestellt. Somit waren die Ausgaben der Regierung bezüglich Sozialleistungen minimal.
Stifter etablierten kommunal geleitete Dienstleistungen, welche sich über Erziehung und Bildung, über Gesundheitswesen, Kultur bis hin zur Religion erstreckten.
Auqaf wurden auch als Handelszentren gegründet, um Gemeinschaften lokal zu stärken und deren Wirtschaften anzukurbeln. Sogar Städte wurden mit Stiftungsfonds gegründet.
Islamische Zeitung: Wie kommt es dann, dass die Auqaf bisher so wenig Eingang in den modernen muslimischen Diskurs über sozioökonomische Fragen gefunden haben?
Dr. Thamina Anwar: Es ereignete sich ein absteigender Trend mit Beginn des 19. Jahrhunderts, der 150 Jahre andauern sollte. Dies begann mit dem sich ankündigenden Niedergang des Osmanischen Reiches – durch die Kolonisierung des Mittleren Ostens und Südasiens sowie durch die Nationalisierung und Regierung durch unabhängige Staaten. Hierdurch wurden die Auqaf von staatlicher Seite kontrolliert und in ihrer Anzahl verringert. Die Machtausübung durch den Staat und die westliche Politik hatten einen Rückgang der unabhängigen Stiftungen zur Folge.
Es wird zudem angenommen, dass die osmanischen Stiftungen schwanden, als das Reich begann, Steuerreformen nachzuahmen, wie es sie in Russland, Ägypten und europäischen Ländern gegeben hat. Die Sultane und die reichen Eliten reformierten das Stiftungswesen, als das Reich immer zentralisierter wurde und man die wirtschaftliche Macht weiter ausbauen und den Ertrag der Stiftungen kontrollieren wollte. Dies schlug den letzten Nagel in den Sarg der Auqaf.
Obwohl Waqf-Institutionen über die Jahre hinweg stagnierten und nicht produktiv genug waren, um sozio-ökonomische Funktionen zu erfüllen, sind Vermögen und Land durch die Auqaf heute dennoch signifikant und weit verbreitet. Es wird geschätzt, dass es mehrere Millionen Waqf-Einrichtungen weltweit gibt. Die Mehrheit des Stiftungsvermögens liegt im Immobiliensektor (70-80 Prozent), die übrigen Stiftungen existieren in Form von Bargeld-Auqaf.
Das Problem ist, dass derzeit die große Mehrheit an Stiftungsvermögen in Banken  und auf unproduktivem Land oder Vermögen gehortet wird, was die Zirkulation von Reichtum von den Reichen an die Armen verhindert.
Dies steht im Widerspruch zur Rolle der Auqaf als wirtschaftliche Plattform zur Zirkulation von Vermögen. Erst in den letzten Jahren wurde das traditionelle Stiftungswesen wiederbelebt und weltweit vorgestellt.
Islamische Zeitung: Ist die jetzige muslimische Gelehrsamkeit ausreichend geeignet, um das muslimische Stiftungswesen in seiner Bedeutung zu erkennen und um es auf die jetzigen Gegebenheiten anzuwenden?
Dr. Thamina Anwar: Einer der Hauptgründe für den derzeitigen Zustand der Stiftungen ist der Mangel an Bewusstsein dafür, wie man das Stiftungsvermögen regelt. Islamisches Wissen allein reicht nicht, um Investmententscheidungen für das Wachstum einer Waqf zu treffen. Die Mutawallis (Treuhänder) müssen sehr gut ausgebildet und weise genug sein, um das Konzept von Waqf und Investmentstrategien zu verstehen.
Islamische Zeitung: Seit beinahe 200 Jahren wird die muslimische Lebenspraxis, namentlich die Mu’amalat, im Zusammenhang mit staatlicher Autorität – und Kontrolle – gedacht. Braucht es hier nicht auch einen Geisteswandel? Denn traditionell stellt das Stiftungswesen ja ein Bereich dar, der dem Zugriff durch politische Macht entzogen wurde.
Dr. Thamina Anwar: Der Erfolg der Waqf-Institution – wenn wir ihren geschichtlichen Höhepunkt bezüglich ihrer Anzahl und ihres Beitrags zur sozio-ökonomischen Entwicklung betrachten – liegt in der Dezentralisierung ihrer Verwaltung, der Weisheit, Selbständigkeit, der guten Überwachung durch Richter und der Verpflichtung, der Gesellschaft zu dienen. All dies, ohne sich an die Regierung zu wenden.
Die Waqf-Gesetze waren in der osmanischen Ära sehr transparent und geregelt, weswegen die Öffentlichkeit Vertrauen darin hatte, aus Überzeugung zu den Stiftungen beizutragen.
Durch die Mutawallis und Schari’a Gerichte wurden Transparenz und Sicherheit gewährleistet, wodurch die Waqf-Institutionen zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert anstiegen und sich immer weiter ausbreiteten. Historische Dokumente bezeugen, dass mehr als ein Drittel des Agrarlandes und die Hälfte der Gebäude in Großstädten in Syrien, der Türkei, Ägypten, Marokko, Algerien, Irak und Palästina Auqaf-Eigentum waren, bevor staatlicher Einfluss ins Spiel kam.
Es sollte also keine politische oder staatliche Einmischung in die Auqaf geben, denn das Stiftungswesen soll unabhängig bleiben. Schließlich war eben diese Einmischung auch der Untergang der Auqaf.
Islamische Zeitung: Unternehmertum, namentlich das Konzept des Social Entrepreneurship, wird im muslimischen Kontext bisher oft nur im Sinne von „Charity“ bedacht. Welches transformierende Potenzial sehen Sie im weiteren Sinne?
Dr. Thamina Anwar: Soziales Unternehmertum ist nichts Neues im Islam. Es wurde vom Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken, vor 1400 Jahren praktiziert. Er war Händler. Man gab ihm den Beinamen al-‘Amin – der Vertrauenswürdige –, noch bevor er zum Propheten wurde, weil er als gerechter und fairer Händler bekannt war, der auch Profit machte. Seine erste Frau, Khadijah bint Khuwailid, möge Allah mit ihr zufrieden sein, war so von seinen Fähigkeiten als Händler und seinem hohen Ahlaq (Charakter) begeistert, dass sie ihm einen Heiratsantrag zukommen ließ.
Traditionell ist soziales Unternehmertum im Islam keine Wohltätigkeit. Es ist ein Mittel, um Gewinn und Einfluss zu erzielen. Jedoch haben wir bedauerlicherweise als Muslime unsere Tradition als Händler verloren. Und das, obwohl Allah uns mit Seinem Din die Fundamente des Handels auf so wunderschöne Weise, mit all seinen klaren Gesetzen, vorgegeben hat. Der frühe Islam wurde durch Händler verbreitet.
Leider muss ich sagen, dass die Muslime heute die westlichen Modelle des Wirtschaftens nachahmen – namentlich den Kapitalismus. Dies ist eine weitere Art der Kolonisierung und Muslime sind hier wirklich in die Falle getappt.
Im Rahmen meiner Forschung zu meiner Dissertation entwickelte ich das Waqf-ISE-Modell (Islamic Social Entrepreneurship; dt. Islamisches Soziales Unternehmertum). Hierdurch wird die Waqf zum Finanzierungsmittel für das ISE. Dieses Modell stellt ein Umfeld sicher, welches die Ressourcen mobilisiert, um eine Plattform zu erstellen, die sozio-ökonomisches Wachstum generieren soll.
Das Modell wurde grundlegend auf islamischer Basis entwickelt, frei von jeglicher Nachahmung westlicher Modelle, und eröffnet eine Möglichkeit, um viele der heutigen gesellschaftlichen Probleme anzugehen, welche die Welt befallen haben. Insbesondere im Bereich der Armutsminderung und der nachhaltigen soziö-ökonomischen Entwicklung von Gemeinschaften.
Das Waqf-ISE fokussiert sich auf den islamischen Glauben – die gesellschaftlichen Aspekte des Gemeinwohls und auf islamischer Lehre basierendes Unternehmertum.
Da Waqf-Fonds Profit aus dem Investment generieren müssen, investiert man in diesem Modell das Stiftungsvermögen in ISE-Projekte, die gemäß der Schari’a sind, einen gesellschaftlichen Einfluss haben, Wertschöpfung im Investment selbst sicherstellen und Einkünfte für die Stiftung erzielen.
Das Ziel der ISE-Projekte ist es, Profit und gesellschaftlichen Einfluss in den folgenden Bereichen zu erzielen:

  • Community-Bestärkung – das Wohlergehen von Gemeinschaften soll gestärkt werden und sie sollen in die Wirtschaft eingebunden werden, zum Zweck des Allgemeinwohls.
  • Armutsminderung – Ungleichheit soll bekämpft werden und Maßnahmen zur Reduzierung von Armut sollen sichergestellt werden.
  • Soziale Gerechtigkeit – die Rechte anderer sollen sichergestellt werden.
  • Nachhaltigkeit – es sollen Maßnahmen entwickelt werden, wodurch die jetzige Generation wie auch jene in der Zukunft von unserem Planeten und seinen Ressourcen Nutzen ziehen können.

Die Waqf-Institution kann entweder direkt mit den ISE-Pojekten als Unternehmen zusammenarbeiten oder in Form einer Gewinn- und Verlustvereinbarung mit anderen Unternehmern, etwa als Finanzierung einer Zweckgesellschaft.
In geschäftlichen Partnerschaften können Instrumente wie Muscharakah/Scharikah bei Personengesellschaften verwendet werden, während Mudarabah angewandt wird, wenn es um Beteiligungskapital oder die Finanzierung eines Projektes mit Gewinnbeteiligung geht.
Das Ziel des Waqf-ISE-Modells ist es, eine Plattform für eine ertragreiche Wirtschaft zu bieten, während die Profite und Überschüsse des ISE entweder zur Verteilung an die vorgesehenen Empfänger gehen oder in andere ISE-Projekte re-inverstiert werden.
Das Modell dient der Zirkulation von Vermögen und somit der Armutsminderung, Beschäftigung, sozio-ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft und der Nachhaltigkeit. Somit ist es ein Mittel, um den Zustand der muslimischen Umma und der breiteren nichtmuslimischen Gesellschaft zu verbessern.
Islamische Zeitung: Welche Rolle haben Frauen traditionell in den Auqaf gespielt und welche Bedeutung kann ihnen dabei heute zukommen?
Dr. Thamina Anwar: Frauen haben bedeutend zur Etablierung der Auqaf beigetragen. Im 9. Jahrhundert nutzte Fatima al-Fihri ihr Erbe, um eine Moschee und die weltweit erste Universität zu stiften, die al-Qarawiyyin Universität in Fes, Marokko. Ihre Schwester Maryam al-Fihri nutzte ihr Erbe, um die Al-Andalus Moschee in Fes zu stiften. Die Universität in Fes lehrt auch heute noch und ist eines der großen islamisch-spirituellen Bildungszentren auf der Welt.
Viele der osmanischen Sultaninnen haben Moscheen, Bauten und Krankenhäuser errichten lassen. 40 Prozent des Waqf-Besitzes im Istanbul des Osmanischen Reiches wurde von Frauen gestiftet.
Dies sind gute Gründe und reichlich Motivation für die heutigen muslimischen Frauen, ebenfalls Stiftungen zu gründen.
Islamische Zeitung: Ist das Waqf-Modell für Sie in einen größeren Kontext eingebunden, das entscheidende Impulse aus Europa bekommen hat?
Dr. Thamina Anwar: Soziales Unternehmehrtum hat, aus islamischer Perspektive, eine gewisse Symmetrie mit westlichen Konzepten, insbesondere im Hinblick auf Prinzipien, Normen und Werte. Beide zielen auf die Lösung gesellschaftlicher Probleme ab, indem Gewinn und Einfluss generiert wird, um das Allgemeinwohl zu stärken und Gemeinschaften in ihrem Interesse voranzutreiben.
Jedoch unterscheiden sie sich natürlich im Bereich der Lehre, die dem Islamischen Sozialen Unternehmertum zugrunde liegt. Islam zeichnet eine Reihe an bezeichnenden Werten, einzigartigen Eigenschaften und Charakteristiken des sozialen Unternehmertums vor, welche die Lehren unseres Dins widerspiegeln.
Islamische Zeitung: Was können die Stiftungen Ihrer Meinungen nach für die heutige Zeit und die heutigen Gesellschaften leisten?
Dr. Thamina Anwar: Waqf-Institutionen waren zur Zeit des Osmanischen Reiches das Herzstück der Wirtschaft und entcheident in der Finanzierung nahezu aller gesellschaftlichen, ökonomischen sowie wohltätigen Bedürfnisse seiner Zeit.
Wenn wir nach unseren islamischen Prinzipien handeln, kann unser Stiftungswesen dazu beitragen, dass Vermögen tatsächlich wieder zirkuliert – nämlich von den Reichen hin zu den Armen. Es ist demnach ein Mittel, wirtschaftliche Ungerechtigkeit zu verringern, und verhindert das Horten von Vermögen durch die Reichen. Dies ist überhaupt der Grund, wieso wir heute eine solche Ungleichheit haben und die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wurde und inzwischen so riesig ist. So wie die Dinge sind, wird sie in Zukunft nur noch größer. Die Einkünfte, die durch die Auqaf erzielt werden, ermöglichen uns einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft und steigern somit den Wert der muslimischen Gemeinschaft, jedoch auch den der nichtmuslimischen Gesellschaft.
Dem Stifter ermöglicht die Waqf, eine Sadaqa Dscharija (eine dauerhafte Wohltat) zu kreieren, die über der gewöhnlichen Sadaqa steht, da ihr Lohn bei Allah nicht einmalig, sondern fortdauernd ist.
Wenn wir uns die wirtschaftliche Lage und die Ungleichheit auf der ganzen Welt anschauen, sehen wir, dass das islamische Stiftungswesen der einzige Weg ist, unsere Situation zu verbessern und Gemeinschaften zu stärken. Wir müssen daher die Auqaf wiederbeleben, um marginalisierte Communitys zu stärken und die Kluft der Ungleichheit zu verkleinern.
Islamische Zeitung: Sehen Sie Synergieeffekte zwischen dem Modell der Auqaf und der fortlaufenden digitalen Revolution?
Dr. Thamina Anwar: Wir leben in einer digitalen Welt. Alles wird durch die Nutzung von sozialen Medien etc. bewegt. Stiftungsvermögen kann durch digitale Mittel mobilisiert werden, insbesondere im Sinne von Bekanntmachung, Bildung und Fundraising.
Islamische Zeitung: Weltweit denken Nichtmuslime und Muslime gleichermaßen über soziale Gerechtigkeit, neue zivilisatorische Modelle und alternative Lebensweisen nach. Sind die Auqaf Ihrer Meinung auch ein Mittel, um bestehende Differenzen im Rahmen der Islamdebatte aufzuweichen?
Dr. Thamina Anwar: Wir müssen uns schlichtweg bewusst werden, dass Islam immens zur westlichen Zivilisation beigetragen hat. Vielen ist nicht bekannt, dass das der englische Trust auf die islamische Waqf zurückzuführen ist. Dessen Gesetze basieren höchstwahrscheinlich auf jenen der Waqf-Institutionen, welche 500 Jahre zuvor praktiziert wurden. Die Wiederbelebung der Auqaf kann daher zur Besserung von gesellschaftlichen Zuständen und Beziehungen führen, für Muslime wie auch Nichtmuslime.
Islamische Zeitung: Liebe Frau Dr. Anwar, wir bedanken uns recht herzlich für das Gespräch!

Gesundheit: Den Hunger als Chance begreifen

(iz). In Sachen Ernährung befindet sich der Mensch stets zwischen Hunger und Sättigung. Die korrekte Balance ist für ihn also, zu essen, wenn er hungrig ist – wenn er denn die Möglichkeit hat, tatsächlich hungrig zu sein. In unserer Zeit erleben wir eine Beschädigung dieser Fähigkeit, wirklichen Hunger zu spüren, denn es ist so viel an Essen da.

Dies hat zu einer Schwächung der ­Verdauungsorgane geführt, und durch diesen Schaden finden wir uns heute in einer Situation, in der wir Nährstoffe nicht gut verarbeiten können. Das Resultat ist, dass Rückstände dessen, was wir ausscheiden sollten, im Körper gehalten werden, weil wir sie nicht ausscheiden können. Somit beginnen wir, Krankheiten zu entwickeln, die mit der Vergiftung des Körpers zusammenhängen. Unter ihnen sind Arthritis, Psoriasis, Ekzeme, usw. Sie alle werden durch das Versagen des Körpers, Fäkalien richtig auszuscheiden, verursacht.

Eine der Möglichkeiten, die uns der Ramadan bietet, ist die Rolle, die der Hunger in unserem Leben spielt, wiederzuerkennen. Wenn wir aus Angst essen, führt dies immer zu einem Überschuss. Denn es ist kein Essen, um Hunger zu stillen, sondern ein Essen, um die Angst zu stillen, die wir verspüren, weil wir uns fürchten, nicht genug zu haben, um unserem Verlangen nachzukommen. Wir sehen, dass die Muslime diese Angewohnheit gerade im Ramadan entwickelt haben.

In dieser Zeit ist unser Zustand als Muslime, der kein guter ist, besonders sichtbar – in dem Moment, wenn das Fastenbrechen beginnt. Und dann machen wir all die Witze über das Tarawwih Gebet, welches mit einem über­füllten Magen verrichtet wird. Unsere Grund­aufgabe besteht für uns also darin, die Balance zum Hunger wiederherzustellen.

Jedoch ist es sehr schwer, in einer Zeit, die an sich unbalanciert ist, Balance zu finden. Wir lesen die Ahadith und die Ratschläge der Sufis und finden darin Anweisungen, wenig zu essen und zu schlafen. Aber die Natur unserer Epoche ist, dass wir übermäßig viele Stunden arbeiten. Wir haben die Nacht erleuchtet, indem wir durch Elektrizität künstliches Licht im Dunkeln geschaffen haben. Also gehen wir erst spät schlafen. Weiere Faktoren hierfür sind das Fernsehen und das Internet. All dies hält uns von einem natürlichen Schlafrhythmus ab. Wenn man spät schlafen geht und und lange Arbeitstage hat, wird man müde sein. Sind wir übermüdet, neigen wir dazu, Süßes essen zu wollen und generell Kohlenhydrate zu suchen. Der Körper schreit nach einfacher, schneller Energie.

Viele haben deswegen Ringe unter den Augen, denn die Nebenniere ist einem Druck ausgesetzt. Solche Leute werden meist auf Schokolade und andere ­Sü­ßigkeiten zurückgreifen. Und es ist fast unmöglich für sie, diese Angewohnheit zu ändern. Wenn sie es über einen Zeitraum hinweg aushalten, finden sie sich meist in einer Situation wieder, in der sie schließlich aufgeben und sich „vollstopfen“.

Der Mensch hat eine Fitra. Wenn wir diese nicht berücksichtigen, dann werden wir verlieren. Denn Allah sagt, dass nichts die Balance brechen wird. Wenn wir all diese schlechten Gewohnheiten bei­behalten und dem Körper nicht die Art von Bewegung und Ruhe sowie die Nahrung, die er tatsächlich braucht, zukommen lassen, wird er aufhören, eine natürliche Reaktion auf den Hunger zu haben. Daraus ergeben sich zwei sich gegen­überstehende Seiten: eine Kultur des Diätmachens und eine Kultur der Fettleibigkeit.

Viele Leute befinden sich daher in einem Ohnmachtszustand, weil sie einfach erschöpft sind. Sie können den Kreislauf der Kohlenhydrataufnahme nicht stoppen, weil der Körper ständig danach verlangt. Insulin wird ständig ausgeschüttet und das Resultat dessen ist, dass der Körper es in Fett wandelt und wir zunehmen. Unser Hungergefühl ist pervertiert, denn eigentlich ruft der Körper nach Erholung und wir geben ihm stattdessen Zucker.

Die verschiedenen Diätarten, die wir auf dem heutigen Markt finden, sind eine Ausprägung eben dieser Sache, nur in verschiedenen Gewändern. Oft sind sie bloß eine neue Art, uns genauso zu ernähren wie vorher, nur mit anderen Lebensmitteln, die wir nun für gesund halten. Ein wirkliches Umdenken unserer Lebensgewohnheiten findet dabei nicht statt.

Das ist eine Sache, welche die Lebensmittelindustrie sehr gut verstanden hat. Zucker macht süchtig, daher finden wir in den Supermärkten mehr und mehr Lebensmittel, die reichlich zuckerhaltig sind, denn wenn wir süchtig nach ihnen sind, ergibt dies einen großen Markt und die Lebensweise, die dieses Konsum­verhalten fördert, bleibt erhalten. Dies ist der Grund für die Vorherrschaft der kohlenhydratreichen Lebensmittel in den Geschäften – sie sichern Profit.

Ich bitte meine Patienten daher meist, einfach früh uns Bett zu gehen. Nach etwa zwei Wochen verändert sich ihr Verlangen nach Zucker und ihre Ernäh­rungsweise allgemein. Denn der Körper stellt seine Balance wieder her und die Pervertierung des Hungergefühls geht allmählich zurück.

Wenn wir uns die Entwicklung unserer Essgewohnheiten anschauen, sehen wir, dass das, was als traditionelle Ernährung in verschiedenen Völkern galt, heute im Prinzip nicht mehr existiert. Was wir für die traditionelle Küche eines Landes halten, ist es meist nicht. Denn wir waren geschichtlich nie in der Lage, Getreide und Kartoffeln in den Mengen zu produzieren, in welchen wir sie heute vorfinden. Erst durch die Schaffung von Düngemitteln waren wir imstande, Unmengen dieser Lebensmittel, die heute unser Hauptbestandteil an Nährstoffen sind, günstig anzubauen. Dies hat mit Tradition nichts zu tun. Der Großteil der wissenschaftlichen ­Literatur zum Thema Ernährung begüns­tigt diesen Umstand, denn sie wird von der Lebensmittelindustrie bezahlt, um Resultate zu erbringen, die in ihrem Interesse liegen.

Wenn wir aber unseren Fokus weg von Kohlenhydraten und hin zum Fett verlagern, finden wir, dass unser Energiehaushalt eine Veränderung durchläuft. Besteht unsere Ernährung hauptsächlich aus Gemüse und guten Fetten, Protein in Maßen und ein wenig Kohlenhydraten, kann der Körper Fett abbauen und Energie über einen längeren Zeitraum hinweg halten. Wenn wir ihm aber Zucker geben, dann wird er nur den Zucker verbrauchen, weil dies für den Körper am einfachsten ist, und unsere Fettleibigkeit bleibt erhalten oder steigt sogar. Lange haben wir geglaubt, dass Fett dick macht. Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt uns exzellente Energie, so­lange es nicht in Verbindung mit Kohlenhydraten eingenommen wird beziehungsweise diese in sehr kleinen Mengen gehalten werden. Im Gemüse finden sich zudem alle Nährstoffe, die der Mensch benötigt – von Kohlenhydraten und Fetten, bis hin zu Proteinen, Mineralien und Vitaminen.

Grundlegend ist aber unser Problem, dass wir Gewohnheiten nicht ändern wollen. Wenn wir Gesundheit und gute, langanhaltende Energie in unserem Leben erreichen wollen, dann müssen wir uns und das was wir wollen, fundamental ändern.