,

Europas Schild entwertet eigene Rhetorik

ATHEN/BERLIN (GFP.com). Nach dem Brand im griechischen Flüchtlingslager Moria auf Lesbos spitzt sich die humanitäre Krise an den südlichen EU-Außengrenzen weiter zu. Knapp 13.000 Flüchtlinge, die zuvor unter desaströsen Bedingungen in Moria dahinvegetieren mussten, sind obdachlos; griechische Polizisten verwehrten ihnen gestern den Zugang zu den umliegenden Ortschaften. Ihnen drohen Angriffe durch Inselbewohner, die zuletzt immer häufiger Flüchtlinge und deren Unterstützer körperlich attackiert haben – etwa mit Brandanschlägen auf Einrichtungen von Hilfsorganisationen.

Die humanitäre Krise ist ein Resultat der von Berlin geprägten EU-Flüchtlingsabwehr, die den Betrieb überfüllter Flüchtlingslager auf den griechischen Ägäisinseln umfasst. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Griechenland mit seinem brutalen Vorgehen gegen Flüchtlinge lobend Europas „Schild“ genannt.

Desaströse Lebensbedingungen
Die katastrophalen Verhältnisse in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Ägäisinseln vor der Küste der Türkei werden seit Jahren international scharf kritisiert. Zeitweise vegetierten in den Einrichtungen, die offiziell rund 6.000 Menschen beherbergen können, annähernd 40.000 Flüchtlinge dahin; heute sitzen dort immer noch mehr als 24.000 Flüchtlinge fest. Allein in dem wohl berüchtigtsten Lager Moria auf Lesbos, das für knapp 3.000 Einwohner ausgelegt ist, lebten Anfang September über 12.700 Personen, viele davon in behelfsmäßig aufgeschlagenen kleinen Zelten, einige gänzlich ohne Dach über dem Kopf – unter völlig unzulänglichen hygienischen Bedingungen und ohne ausreichende medizinische Versorgung, zum Teil sogar ohne angemessene Versorgung mit Lebensmitteln.

Schon seit Jahren weisen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen darauf hin, dass selbst Kinder mit Kriegsverletzungen nicht im erforderlichen Maß behandelt werden können; im Januar etwa wurde nach Angaben von Médecins Sans Frontières (MSF) allein in Moria mindestens 140 Kindern die notwendige medizinische Versorgung verweigert. Viele Kinder leiden unter schweren psychischen Erkrankungen; Helfer berichten, dass sie zu sprechen aufhören, die Nahrungsaufnahme verweigern, sich selbst verletzen, etwa durch Schnitte am Kopf, oder Suizid zu begehen versuchen. All dies ist seit Jahren europaweit umfassend bekannt.

Der Pandemie ausgeliefert
Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat sich die Lage für die Flüchtlinge noch weiter verschlechtert. Athen hat bereits im März über die Lager einen Lockdown verhängt; in Moria etwa durften Flüchtlinge nur zu bestimmten Zeiten das Gelände verlassen – höchstens 150 pro Stunde, und dies ausschließlich zum Einkauf oder zum Arztbesuch.

Damit wurden die Menschen in Verhältnissen eingesperrt, die jegliche Einhaltung der offiziellen Hygienevorschriften vollkommen unmöglich machten: Im Durchschnitt wurden in Moria 15 bis 20 Personen in ein einziges Zelt gepfercht; bis zu 160 Personen mussten sich eine verdreckte Toilette teilen; für 500 Personen stand eine einzige Dusche zur Verfügung. Mehr als 300, laut Angaben von MSF teilweise sogar 1.300 Flüchtlinge hatten nur Zugang zu einem einzigen gemeinsamen Wasserhahn; Seife gab es nicht.

Wiederholte Forderungen von Hilfsorganisationen, Moria und andere Lager aufgrund der akuten Pandemiegefahr zu evakuieren, wurden von den griechischen Behörden wie auch von der EU konsequent ignoriert. Als nun am 2. September, erstaunlich spät, ein erster Covid-19-Fall in Moria bekannt wurde, reagierten die Behörden nicht etwa mit einer Verbesserung der hygienischen und medizinischen Bedingungen, sondern mit der Verhängung einer harten, polizeilich durchgesetzten Quarantäne – trotz verzweifelter Proteste von Hilfsorganisationen wie MSF.

Aus dem Lager in die Obdachlosigkeit
Zunächst der strikte Lockdown, dann die harte Quarantäne, die die Flüchtlinge in unerträglichen Verhältnissen einsperrten, haben bewirkt, wovor Hilfsorganisationen lange unüberhörbar warnten: Die sozialen Spannungen in den Lagern haben sich dramatisch verschärft. Zunehmend wurde von Gewalt in den Camps bis hin zu Messerstechereien mit Todesfolge berichtet; zugleich kam es immer wieder zu heftigen Protesten. „Man kann Menschen nicht jahrelang im Dreck leben lassen, ihnen Rechte vorenthalten, sie schließlich ungeschützt einer Pandemie aussetzen und dann überrascht sein, wenn sie gegen ihre Lebensbedingungen aufbegehren“, konstatiert eine Mitarbeiterin der Hilfsorganisation medico international.

In den vergangenen Tagen versuchten Flüchtlinge laut Berichten immer wieder, aus Moria zu entkommen, um sich vor dem Covid-19-Virus zu schützen, was im Lager unmöglich war; meist scheiterten sie allerdings an Polizeiketten. Ob das Feuer, das in der Nacht zum gestrigen Mittwoch ausbrach, von Flüchtlingen gelegt wurde, um ihre Freilassung aus den unmenschlichen Lagerverhältnissen zu erzwingen, oder ob Brandstiftung durch rassistische Inselbewohner vorliegt, ist noch unklar. Allerdings sind nun rund 13.000 Flüchtlinge obdachlos. Polizisten verwehrten ihnen gestern den Zugang zu umliegenden Ortschaften; ihnen drohten körperliche Angriffe durch Inselbewohner, die die Flüchtlinge und ihre Unterstützer in den vergangenen Monaten in zunehmendem Maß physisch attackiert haben.

„Entscheidend für die Zukunft der EU“
Volle Verantwortung für das gegenwärtige Drama auf Lesbos tragen nicht nur die griechischen Behörden, sondern auch die EU und insbesondere die Bundesrepublik. Dass Flüchtlinge vorrangig in den Ländern entlang der EU-Außengrenzen festgesetzt werden, ist eine Folge der sogenannten Dublin-Verordnungen, die vor allem auf deutsches Betreiben erlassen wurden. „Dublin II“ etwa wurde von der EU nicht zuletzt auf Druck Berlins im Jahr 2003 in Kraft gesetzt; damals waren in Deutschland Bündnis 90/Die Grünen an der Regierung beteiligt, die sich heute als Gegner der EU-Flüchtlingsabwehr inszenieren.

Dass Flüchtlinge derzeit in großer Zahl auf den griechischen Inseln in Lager gepfercht werden, ist eine unmittelbare Folge des Flüchtlingsabwehrpakts mit der Türkei, der maßgeblich auf deutsches Betreiben im Jahr 2016 ausgehandelt wurde; damals war in Berlin die Große Koalition an der Macht und damit auch die SPD, aus deren Reihen heute gleichfalls distanzierte Töne zu hören sind.

Als Anfang März Tausende Flüchtlinge die Grenze zwischen der Türkei und Griechenland zu überwinden suchten und ein syrischer Flüchtling von griechischen Beamten erschossen wurde, stellte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen pauschal hinter die Athener Flüchtlingsabwehr: Diese sei „entscheidend für die Zukunft der Europäischen Union“, erklärte sie; Griechenland fungiere als Europas „Schild“.

Aufs Meer abgeschoben
Zu den Maßnahmen der griechischen Flüchtlingsabwehr, die sämtlich mit deutscher Billigung stattfinden, gehört nicht nur die Internierung der Flüchtlinge in Lagern wie demjenigen in Moria. Die griechische Küstenwache ist seit Beginn der Covid-19-Pandemie verstärkt dazu übergegangen, Flüchtlinge illegal auf dem Seeweg abzuschieben. Dabei werden Flüchtlinge auf dem Meer auf aufblasbaren Rettungsinseln ausgesetzt und in türkische Hoheitsgewässer geschleppt, wo sie ihrem Schicksal überlassen werden. In der Regel nehmen Küstenwachschiffe der Türkei sie früher oder später an Bord. Zuweilen zerstören griechische Küstenwächter auch den Motor von Flüchtlingsbooten, bevor diese griechische Hoheitsgewässer erreichen; die Boote treiben dann gleichfalls manövrierunfähig auf dem Meer.

Die „New York Times“ konnte von Anfang März bis Mitte August 31 dieser völkerrechtswidrigen und hochgefährlichen Manöver dokumentieren, von denen mindestens 1.072 Flüchtlinge betroffen waren, darunter solche, die längst auf griechischen Inseln angekommen, dort aber nur in Behelfsverschlägen bis zu ihrer Aussetzung auf dem Meer interniert worden waren.

Über das Vorgehen sind nicht nur deutsche Frontex-Beamte aus erster Hand informiert, sondern auch deutsche Militärs wie die Besatzung des Einsatzgruppenversorgers „Berlin“, die – mindestens – am 19. Juni und am 15. August jeweils völkerrechtswidrige griechische „pushbacks“ dokumentierte.

Berlin hat gegen sie ebensowenig unternommen wie gegen die desaströsen Verhältnisse in Lagern wie Moria: Hatte die Bundesregierung zugesagt, wenigstens 243 Kinder aus den griechischen Lagern in Deutschland aufzunehmen, so hat sie nach vielen Monaten nicht einmal dies getan; lediglich 99 sind bislang in die Bundesrepublik gebracht worden – ein weiterer Hinweis auf den instrumentellen Charakter der Berliner Menschenrechts-PR.

Keine politische Ideologie

(iz). Der Islam ist keine politische Religion. Aber er ist eine ­Religion, die zum politischen Engagement aufruft, insbesondere in den Bereichen Frieden, Menschenwürde, Gerechtigkeit und Schöpfungsbewahrung. Durch die transformative Kraft der Nächstenliebe soll diese Welt zu einem menschenwürdigeren Ort verwandelt werden.

In einer Demokratie sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass Reli­gionsgemeinschaften als zivile Akteure an der Gestaltung ihrer Gesellschaften mitwirken, in anderen Worten politisch teilhaben. Dies gilt auch für die mus­limischen Gemeinschaften.

Dieser Tage stellt das diffuse Schlagwort vom „politischen Islam“ und die Einrichtung von Dokumentationsstellen zum politischen Islam dies in Frage. 20 Jahre zielloser Islamdebatten hierzulande sollten zumindest zu der Einsicht geführt haben, dass unpräzise Begriffe in der breiten Bevölkerung die muslimischen Mitbürger im Allgemeinen unter Generalverdacht stellen. Wer Begriffe verwendet muss sich auch im Klaren darüber sein, welche Bedeutung sie entfalten können. Zwei Jahrzehnte fruchtloser Islamdebatten hätten zumindest zu der Erkenntnis führen können, dass der Islam kein handelndes Subjekt ist. Es sind Muslime, die je nach ihrem Verständnis der religiösen Quellen handeln. Das Spektrum reicht von Extremisten bis Friedensstiftern; gemeinsam ist ihnen das politische Engagement. Der Islam kann somit zum einen nicht grundsätzlich Quelle von Negativzuschreibungen sein und zum anderen ist es unsinnig vom „politischen Islam“ im Singular zu sprechen.

Ziel jener Dokumentationsstellen soll es künftig sein zu eruieren, welches poli­tische Engagement akzeptabel ist. Nicht nur, dass man fragen könnte, warum hiervon alle anderen Religionsgemeinschaften ausgenommen sind, man könnte fragen, weshalb hierüber überhaupt Unklarheit besteht. Jedes politische Engage­ment, das sich gegen die freiheitliche ­demokratische Grundordnung richtet, ist illegitim.

Und so verstärkt sich mein Verdacht, dass es hier wieder einmal um den „Ohrwurm“ von der Loyalität der Mitbürger muslimischen Glaubens geht. „Nur stille Muslime sind loyale Muslime“, so lautet der unausgesprochene Lackmustest in diesem Land. Vollwertiger Deutscher ist man erst, wenn die andersartige religiöse Identität nicht mehr sichtbar ist. Und wo dies nicht gelingt, bemühen sich Mitbürger aus der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung durch Moscheeanschläge und Gewaltakte gegen Muslime, insbesondere kopftuchtragende Mitbürgerinnen, nachzuhelfen. 824 solcher ­Gewaltverbrechen waren es offiziell allein im Jahr 2018.

Immer wieder geht es im Kern um folgende Frage: „Warum könnt ihr nicht so sein wie wir?“ Oder in anderen Worten: „Warum könnt ihr eure religiöse Identität nicht vergessen?“ Warum reagiert die nichtmuslimische Mehrheitsbevölkerung stets dermaßen brüskiert auf die Sichtbarkeit islamischer Religiosität? Weshalb benötigt man Muslime so sehr als ­Abgrenzungsfläche dessen, was nicht Deutsch sein kann und darf? Weshalb ist man unfähig in Muslimen zu allererst einfach nur Mitbürger zu sehen? Eine Muslima sagte mir gegenüber einmal: „Ich habe kein Problem mit meinem Kopftuch, aber die Gesellschaft macht es zunehmend zu einem Problem für mich.“ Auf der einen Seite fordert man auf ­übergriffige Weise von den muslimischen Mitbürgern, sie sollen im Alltag nicht als Muslime auffallen, zugleich werden ­Muslime hierzulande ständig als Gruppe abgewertet.

Spätestens ab hier kommt der Verweis seitens der Mehrheitsbevölkerung, die hiesigen Muslime würden sich allzu gerne in eine Opferrolle begeben. An dem Vorwurf ist manchmal tatsächlich etwas Wahres dran, aber zugleich kann nicht geleugnet werden, dass es tatsächliche Opfer gibt. Nach der Kölner Silvesternacht islamisierte Alice Schwarzer die Übergriffe von alkoholisierten Männern mit mehrheitlich migrantischen Wurzeln zu einem geplanten Gewaltakt schriftgläubiger „Scharia-Muslime“, um Frauen und damit den Westen zu erniedrigen. Alkoholisierte schriftgläubige Muslime? Denkt man in Deutschland an musli­mische Männer, so denkt man nicht an liebevolle Ehemänner und gute Väter. Der Muslim ist in der hiesigen Wahrnehmung per se ein Frauenunterdrücker und Schläger. Die gleiche Strategie wenden Vertreter der Mehrheitsbevölkerung auf die Migrantenkriminalität an und blenden dabei aus, dass nicht Religion, sondern ein von Armut, Ungleichheit und Bildungsferne geprägtes Umfeld kriminelles Verhalten hervorbringen kann. Sind also Muslime nicht tatsächlich Opfer von Stereotypen, die von Vertretern der Mehrheitsbevölkerung mantraartig wiederholt werden?  Sind diese Verletzungen kein Akt von Gewalt? Werden Moscheen nicht angegriffen, muslimische Mitbürger nicht ermordet? Warum tut sich die Mehrheitsbevölkerung so schwer dies anzuerkennen und Mitgefühl zu empfinden?

Stattdessen bekommt man einen perversen Umkehrschluss zu hören: „Weil ihr so seid…“, der aus Opfern Tätern macht. Hätte die Frau kein Kopftuch getragen, so wäre ihr nicht Gewalt ­angetan worden. Mit wenigen Worten ist das Opfer Schuld an der Gewalt, die es erlitten hat, während der Täter, stellvertretend für die Mehrheitsbevölkerung, aus der Schuld genommen und entlastet wird. Muslimische Mitbürger provozieren halt, so einfach ist das.

Die Mehrheitsbevölkerung hat in den vergangenen Jahrzehnten ihren muslimischen Mitbürger einen Diskurs nach dem anderen aufgezwungen, sich aber gescheut selber in den Spiegel zu schauen. Ein nicht geringer Teil unserer nichtmuslimischen Mitbürger sind ­Rassisten. Selbst wenn sie es nicht sein wollen und anders sehen, sie zeigen ihren Rassismus in ihrem Fühlen, ihrem ­Denken, ihren Worten und ihren Handlungen. Wer Seite an Seite mit Neonazis demonstriert, ob in Dresden bei ­PEGIDA oder bei Corona-Demos ist nicht Teil der demokratischen Gesellschaft dieses Landes, sondern stärkt die Herausbildung und Verfestigung rassistischer Strukturen, angefangen in den Köpfen der Menschen über Hetzjagden in Chemnitz bis hin zum Anschlag auf die Synagoge in Halle. Statt sich als ­Gesellschaft hierfür zu schämen und zu distanzieren, verharmlost man in der Mehrheitsbevölkerung diese Entwicklung, indem man von „besorgten Bürgern“ spricht.

Ein weiterer Evergreen der Mehrheitsbevölkerung lautet, Muslime würden ständig ihr Muslim sein zum Thema ­machen und Sonderrechte einfordern. Interessant, denn die Diskurshoheit liegt bei der Mehrheitsbevölkerung, die den Islam seit zwei Jahrzehnten als ihr Fetisch entdeckt hat. Der Islam wurde nicht von Muslimen zur Tagesordnung gemacht. Muslime spielen das Spiel zwar mit, sie haben es aber nicht entworfen. Und je mehr die Sichtbarkeit des Islam zu einem Marker wird, desto mehr betonen muslimische Mitbürger in ihrem Auftreten ihre religiöse Identität als Zeichen ihres mutigen Widerstandes gegen dieses grundgesetzwidrige Diktat.

All die Stereotypen zusammen ergeben ein wirkmächtiges Bild von den Mus­limen, dem sich auch die Betroffenen nicht entziehen können. Ein Muslim erklärte mir kürzlich: „Als Muslim bin ich aufgrund der Zuschreibungen ständig gezwungen mir Gedanken zu machen, wie ich auf Nichtmuslime wirken könnte, und muss mich ihnen daher als friedfertig beweisen. Ich muss darauf achten, was, und vor allem, wie ich etwas sage, damit ich nicht mit dem fiktiven Bild des jungen, männlichen und aggressiven Muslims assoziiert werde.“ Wenn man zum nichtmuslimischen ­Bevölkerungsteil gehört, ist es eines der Privilegien, sich über diesen Status keine Gedanken ­machen zu müssen.

Tatsache ist, dass Deutschsein wird als weiß und (kulturell) christlich oder atheistisch konstruiert. Dass diese Vorstellung seit längerem erodiert und der Deutsche vom Phänotyp her heute auch braun oder schwarz und religiös mus­limisch sein kann, löst ein tiefes Unbehagen in der bisher als selbstverständlich erachteten Selbstwahrnehmung der Mehrheitsbevölkerung aus.

Die Loyalität der muslimischen Mitbürger sollte niemals infrage gestellt ­werden. Aber Loyalität ist nicht gleich­zusetzen mit Schweigen oder Unterwerfung. Dieses Land braucht dringend poli­tisch denkende Muslime, die eine Umwälzung der destruktiven, menschenverachtenden Werte und Strukturen anstreben. Martin Luther King forderte das Gleiche 1967 in seiner Rede „Why I Oppose the War in Vietnam“. Dass Muslime dies also aus ihrem Glauben heraus tun, ist nicht von Belang. Wichtig ist für die demokratische ­Gesellschaft, ob und wie sie bereit ist, mitzuwirken an einer menschenwürdigeren Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Muhammad Sameer Murtaza ist Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor bei der Stiftung ­Weltethos. Zuletzt erschien von ihm: „Worte für ein inklusives Wir: Klartext zur „Muslimfrage“.

, ,

Das faschistische China

(iz). Eines der ersten Bücher, die im Europa Verlag (damals in der neutralen Schweiz) erschienen, war 1936 die Hitlerbiographie des deutschen Journalisten und Exilanten Konrad Heiden. Heidens Buch war nicht nur die erste umfassende Biographie des Diktators, sondern auch eine intime, kenntnisreiche Anatomie der NS-Diktatur, die bis heute durch ihre Luzidität besticht und wissenschaftliche Standards setzt.

Mit Die Kronzeugin setzt der Europa Verlag diese große Tradition fort. Ihren erschütternden Bericht hat die kasachisch-chinesische Menschenrechts­ak­tivistin ­Sayragul Sauytbay, die ein chinesisches ­Konzentrationslager in Ostturkestan (Xinjiang) überlebt hat, gemeinsam mit der deutschen Journalistin Alexandra ­Cavelius verfasst. Wer ihn gelesen hat, der kann nicht mehr unbekümmert auf die Menschenrechtsverstöße der Volksrepublik China schauen.

„Mit eigenen Augen habe ich die unterschiedlichen Foltergeräte im ‚schwarzen Raum’ gesehen. Die Ketten an der Wand. Manche Inhaftierte haben sie an Beinen und Händen auf Stühlen festgeschnallt, auf deren Sitzfläche Nägeln mit der Spitze nach oben herausstanden. Viele Gefolterte sind aus diesem schwarzen Raum nicht wieder zurückgekommen, andere taumelten blutüberströmt hinaus. (…) Selbst an den Wänden hingen Waffen und Instrumente wie aus dem Mittelalter. Solche, mit denen sie die Finger- und Fußnägel herauszogen, oder ein langer Stock, ähnlich wie ein Speer, an dessen Ende sich eine dolchscharfe Spitze befand, um sie den Menschen ins Fleisch zu rammen. An einer Längsseite waren mehrere Sitzgelegenheiten für verschiedene Zwecke aufgereiht. Elektrische Stühle und Metallstühle mit Stangen und Gurten, die das Opfer daran hinderten, sich zu bewegen. Eisenstühle mit Löchern im Rücken, durch die die Arme über die Schultergelenke geschoben wurden. Mein Blick flirrte über Mauern und Boden. Rauer Zement. Grau und schmutzig, ekelhaft und verwirrend – als hauste das Böse selbst in diesem Raum und nährte sich von unserem Schmerz. Ich war ­sicher, dass ich sterben würde, noch bevor der Tag anbrach.“

Sayragul Sauytbay wurde 1976 in Ostturkestan nahe der kasachischen Grenze geboren. „In unserem Glauben vermischten sich Naturreligion und heidnische Bräuche mit Elementen des Islams“, schreibt sie. „Jeder Kasache war fähig, sieben frühere Generationen aus seiner Familie samt Namen und Geburtsort auswendig zu benennen; andernfalls war er kein echter Kasache oder ein Waisenkind.“ Und an anderer Stelle: „Die Berge und die Landschaft waren uns heilig.“ Die wehmütige Erinnerung an den gescheiterten Versuch, 1944 einen unabhängigen Staat Ostturkestan zu gründen, gehört zur familiären Überlieferung, ebenso die an die Jahre des Terrors und der Unterdrückung durch Mao.

Sayragul wird Ärztin, dann aufgrund staatlich erzwungenen Berufswechsels Kindergärtnerin, sie heiratet und wird Mutter einer Tochter und eines Sohnes. Bald gerät sie in den Sinisierungsfeldzug der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), den der „warmherzige Patriarch“ Xi Jinping nach Jahren der Entspannung wiederaufgenommen hat und der sich bis ins Intimste hineinfrisst. So erfahren wir von einer staatlich verordneten Verbrüderungsaktion, bei der Uiguren und Kasachen eine Woche lang im Haushalt eines Chinesen leben müssen. Für die muslimischen Frauen heißt das de facto die Pflicht, sich vom „Gastgeber“ vergewaltigen zu lassen, wovon Sayragul sich teuer freikauft. Wir erleben ein System, dem staatliche Totalüberwachung, gegenseitige Bespitzelung und die Zerstörung jeder Privatheit inhärent sind.

Wie alle totalitären Systeme ist auch das chinesische zutiefst ichfeindlich, es lebt vom Prinzip der dauernden Selbst- und Fremdbezichtigung. Die Bildung einer psychischen Identität, die Konstituierung eines transzendenten Wertegerüsts sollen vermieden werden, und zwar mit aller Brutalität. „Ihr müsst euch fragen: Was habe ich in meinem bisherigen Leben alles falsch gemacht? Und wie drücke ich das am besten aus?“, schildert Sauytbay das regelmäßige Auditing durch die kommunistischen Kader an ihrem Kindergarten, desgleichen die politische Indoktrination: „Selbst wenn die Chinesen einen Muslim folterten, waren am Ende die USA daran schuld, weil sie es waren, die die Andersgläubigen dazu verleitet hatten, falsch zu denken und schlecht zu handeln. (…) Laut Peking waren die Demokratien im Westen ein gescheitertes Modell, das in Krisen und Chaos zerfiel.“

In Wahrheit herrscht das Chaos in China. Wir lesen über Gefangene, „die im Lager gezielt mit Tuberkulose und Hepatitis infiziert worden sind, und über schwangere Frauen, die abtreiben müssen.“ Wir lesen von Unterwassergefängnissen, in denen die Gefangenen, bis zum Hals im Wasser angekettet, teils wochenlang in ihren eigenen Fäkalien schwimmen müssen und das Becken nur zu drei Mahlzeiten am Tag verlassen dürfen. Wir lesen, dass in Ostturkestan womöglich mehr Menschen als vermutet inhaftiert sind, nämlich „fast drei Millionen“. Und wir lesen „über einen Polizisten in einem Lager bei Hulija (der Hauptstadt des Kasachischen Autonomen Bezirks Ili), der den Koran in der Hand hielt, ein Blatt nach dem anderen herausriss, um sich damit den Hintern abzuwischen, es auf den Boden zu werfen, mit den Füßen darauf zu stampfen und zuletzt darauf zu pinkeln. Nachdem er das den Häftlingen demonstriert hatte, zwang er sie, sein Verhalten nachzuahmen und dabei zu rufen. ‘Das ist unser Gott! Das ist unser Allah! Das ist unser Heiliger Koran!’“

Auch dass mit den Organen der Ermordeten gehandelt werde, berichtet ­Sauytbay. Und dass „viele Araber bevorzugt Organe von muslimischen Glaubensbrüdern“ aus Xinjiang kaufen sollen, weil diese „halal“ seien.

Das Lagersystem in Xinjiang nimmt deutliche Anleihen an den nazistischen Konzentrationslagern: „Wer rot trug, war als Schwerverbrecher abgestempelt, wie beispielsweise Imame oder sehr religiöse Menschen. Mittelschwere Verbrechen signalisierte die hellblaue Kleidung. Den schwächsten Grad an Verbrechern zeigte ‘dunkelblau’.“ Sauytbay hat es noch ‘gut’ erwischt, sie bekommt „dunkelblau“ und wird als Lehrerin in einem Lager eingeteilt, aber schon dieses Upgrade bedeutet unsagbar brutale Haftbedingungen, ­mangelhafte Ernährung, psychische und physische Gewalt.

Bald nach ihrer Entlassung soll sie wieder verhaftet und eingewiesen werden, aber diesmal als Häftling der untersten Kategorie, denn sie ist eine „Doppel­gesichtige“, also: nach außen angepasst und demütig, innerlich aber oppositionell. Sauytbay ahnt, dass sie diese Haft nicht überleben wird, und entschließt sich zur Flucht. Ihr Mann und ihre beiden Kinder sind bereits in Kasachstan; mit viel Glück, Bestechung und einigen geduldigen Mitwissern kommt sie ihrer erneuten Verhaftung zuvor und kann sich an einem Grenzübergang ebenfalls ins Nachbarland flüchten. In einem güns­tigen Augenblick – ihre Papiere werden gerade geprüft – schlüpft sie unter dem Schlagbaum durch.

Doch auch in Kasachstan lässt sie der der lange Arm Chinas nicht los. Bei ­einem Verhör durch den kasachischen Geheimdienst wiederholen sich Szenen wie im „Umerziehungslager“ in Xinjiang: „Sie prügelten mich und traten mich mit den Füßen. Ich kann nicht mehr sagen, ob die anderen Männer noch im Raum oder schon weg waren. Ich weiß nur, dass sie mich in meinem Innersten zerstörten. Dass sie meine Würde achtlos wie ein Glas in Scherben zerschlugen. (…) Da lag nur noch eine Hülle von mir. Mehr war von mir nicht übriggeblieben.“

Sayraguls Fall ist dank der Hilfsor­ganisation Atajurt und deren rührigem Leiter Serikzhan Bilashuly inzwischen so prominent geworden, dass China sich nicht traut, sie aus Kasachstan zu entführen. Stattdessen wird sie vor einem kasachischen Gericht in Scharkent wegen ihres Grenzübertritts angeklagt, unter dem Druck der Öffentlichkeit aber nur zu Hausarrest verurteilt. Weil auch dieses milde Urteil die Agenten Chinas nicht daran hindert, sie und ihre Familie weiterhin zu terrorisieren, sucht und findet Sayragul mit ihrer Familie im Juni 2019 schließlich Zuflucht in Schweden. Bis heute wisse sie nicht, ob nicht auch ihre Mutter und ihre Schwestern in ein Lager eingewiesen wurden. Wie in allen Diktaturen, so gilt auch im kommunistischen China Sippenhaft.

Der Bericht der Sayragul Sauytbay zeigt, womit es der Rest der Welt mit dem heutigen chinesischen Staat zu tun hat. Sie warnt vor „Pekings langem Arm in die Nachbarländer“ und seinem Wedeln mit „humanitärer Softpower“ (Stichwort Neue Seidenstraße), und sie benennt mehrmals das kommunistische System als das, was es in Wahrheit ist: nämlich faschistisch. Und sie zeigt auch, dass sich der Westen und der Islam nicht als Feinde betrachten sollten. Vielmehr, so die unausgesprochene Quintessenz, seien sie Verbündete im Kampf gegen die unheilige Allianz aus Gottlosigkeit und Unfreiheit.

Sayragul Sauytbay mag sich in Sicherheit gebracht haben, aber ihre Geschichte kennt kein Happy End. Schwermütig resümiert sie: „Hinter mir liegen 43 verlorene Jahre.“ Und sie hat eine Warnung für uns im Westen parat: die KPCh ­verfolge, so werde es den Häftlingen im Gulag beigebracht, einen Drei-Stufen-Plan zur Weltherrschaft, mit der „Besetzung Europas“ in den Jahren 2035 bis 2055 als dritter Stufe.

Mit Blick auf die COVID-19-Pandemie, über deren Ausbruch im chinesischen Wuhan bis heute keine Klarheit herrscht, spricht Sayragul Sauytbay von einem „chinesischen faschistischen ­Gedankenvirus“, das im „Testlabor Ostturkestan“ entwickelt worden sei. Während aber Corona sich „nach einiger Zeit allmählich zurückziehen“ werde, werde „Chinas Gedankenvirus gegen die freiheitliche Welt“, so ihre Warnung, „nicht verschwinden. Ich hoffe, dass die Menschen rund um den Erdball verstehen, welche Gefahr von der KPCh und der Regierung in Peking nicht nur den ­Chinesen selbst, sondern allen Bürgern dieser Welt droht. Dieses ‘denkende’ ­Virus ist weit gefährlicher als das Coronavirus. Es ist die Hölle!“

Alexandra Cavelius, Sayragul Sauytbay: Die Kronzeugin. Eine Staatsbeamtin über ihre Flucht aus der Hölle der Lager. Europa Verlag 2020, 352 Seiten, mit zahlreichen Fotos, EUR 22.–

, , ,

Eine europäische Institution

(iz). Der 10. Juli 2003 war ein historisches Datum für Europas Muslime – 511 Jahre, nachdem die Muslime gezwungen waren, Spanien zu verlassen. An diesem Tag wurde die erste Moschee, […]

IZ+

Weiterlesen mit dem IZ+ (Monatsabo)

Mit unserem digitalen Abonnement IZ+ (Monatsabo) können Sie weitere Hintergrundbeiträge, Analysen und Interviews abrufen. Gegen einen Monatsbeitrag von 3,50 € können Sie das erweiterte Angebot der Islamischen Zeitung sowie das ständig wachsende Archiv nutzen.

Abonnenten der IZ-Print sparen beim IZ+ Abo 50%.

Wenn Sie bereits IZ+ Abonnent sind können Sie sich hier einloggen.

* Einfach, schnell und sicher bezahlen per Paypal, Kredit-Karte, Lastschrift oder Banküberweisung. Das IZ+ Abo verlängert sich automatisch um einen Monat, wenn es nicht vorher gekündigt wurde. Sie können ihr bestehendes Abo jederzeit auf der Mein Konto-Seite kündigen.

,

Nadeem Elyas wird 75

Mit gerade 19 kam er in die Bundesrepublik und wurde zum Gesicht des organisierten Islam in der Öffentlichkeit: ein Konservativer mit sanfter Erscheinung. Gegen den Islamismusvorwurf hat sich Elyas stets gewehrt.

Bonn (KNA/iz). Wenige Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 waren die Religionen zu Gast im Kanzleramt. Es ging um ein Signal des Zusammenhalts in aufgeladenen Zeiten. Neben Kanzler Gerhard Schröder (SPD), den Vertretern des Judentums und beider Kirchen stand damals Nadeem Elyas auf dem Podium, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) – um dieses Amt wahrlich nicht zu beneiden.

Er konnte nur wiederholen, was jeder hören wollte und doch so ratlos klang: Nein, die Terroristen konnten sich bei ihren Taten nicht auf den Koran berufen, denn der Islam verbiete das Töten Unschuldiger. Die Warnung vor dem „Generalverdacht“ vertrat der stets zurückhaltend auftretende Sunnit, der am 1. September 75 Jahre alt wird, fortan mit der für ihn typischen sanften Energie. In die Bundesrepublik kam der im saudischen Mekka geborene Elyas bereits 1964 mit gerade 19, um Medizin und Islamwissenschaft zu studieren. Die junge islamische Verbandslandschaft brauchte Leute wie ihn.

Als Elyas 1994 Vorsitzender des neugegründeten ZMD wurde, hatte der Name „Zentralrat“ durchaus seine Berechtigung. Hieß es doch anfangs, dass sich der neuen Struktur auch große nationaltürkische Verbände wie DITIB und Milli Görüs anschließen würden. Das scheiterte an deren Ausrichtung auf Ankara. Im Jahr 2000 ging auch der ebenfalls türkisch geprägte Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) von der Fahne. Statt machtvoller Lobby blieb der organisierte Islam in Deutschland zur Beruhigung seiner Kritiker ein Flickenteppich.

Trotzdem avancierte kein türkischer Funktionär, sondern der saudischstämmige ZMD-Vorsitzende in Sachen Islam bald zum bevorzugten Gesprächspartner für Politik und Medien. Moderat und höflich im Auftreten, entschlossen in der Sache, vertrat Elyas bei Themen wie islamischem Religionsunterricht, Kopftuchstreit, Moscheebau, Mohammed-Karikaturen oder Schächten unmissverständlich die Positionen des orthodoxen Islam. Die Muslime seien nicht bereit, auf ihre religiöse Identität zu verzichten, und forderten nur das, was ihnen das Grundgesetz im Rahmen der Religionsfreiheit ohnehin zugestehe, argumentierte er.

Foto: IZ Medien

Andererseits forderte Elyas die Anpassung der Muslime an die deutsche Gesellschaft als einen „vom Islam gewollten Prozess“, zu dem nicht nur der Staat, sondern auch die Moscheen mehr beitragen müssten. Es sei „islamische Pflicht“, mit den Behörden im Kampf gegen Extremismus zu kooperieren: „Der Islam ist keine politische Handlungsanweisung, die zur Not auch mit Gewalt durchgesetzt werden kann.“

Vehement warnte er vor einer Selbstabschottung der Muslime, verurteilte Zwangsehen und „Ehrenmorde“. Sein Dialog mit dem jüdischen Zentralratsvorsitzenden Ignaz Bubis brachte ihm 1999 nicht nur den Alternativen Friedenspreis ein, sondern auch Morddrohungen von Islamisten.

Zu den Kirchen hatte Elyas ein eher gespanntes Verhältnis. Als der evangelische Ratsvorsitzende Wolfgang Huber 2004 kritisierte, die Toleranz der islamischen Verbände existiere oft nur „auf dem Papier“ hielt er ihm mangelnde Sensibilität vor. Ungehalten reagierte er auch auf die Forderung von Kardinal Karl Lehmann, die Muslime sollten sich stärker für die Rechte von Christen in ihren Herkunftsländern engagieren, sonst gebe es keinen echten Dialog. Der Kardinal dürfe die „Ereignisse in der Welt nicht den Muslimen in Deutschland anlasten“. Von der Kirche verlangte Elyas umgekehrt eine Entschuldigung für die Kreuzzüge.

Nach dem Ende seiner Amtszeit 2006 zog sich Elyas weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Heute leitet er eine Stiftung für Bildung und Kultur, die unter anderem Deutschkurse für Imame ermöglicht.

, ,

Hoffnungslosigkeit und Corona-Angst

Am 25. August 2017 begann die Armee von Myanmar mit der Vertreibung von mehr als 700.000 muslimischen Rohingya. Bangladesch nahm die Flüchtlinge auf. Noch immer haben sie keine Aussicht auf Rückkehr.

Dhaka (KNA). „Sie haben jeden umgebracht und gefoltert und die Frauen belästigt“, erinnert sich Abu Siddik an die Gewalt. In Rakhine hatte er ein kleines Geschäft. Drei Tage seien sie gelaufen, bis sie endlich den Fluss Naf erreicht hätten, der die Grenze zwischen Myanmar und Bangladesch bildet. „Meine Frau und ich mussten unsere Kinder den ganzen Weg tragen, weil sie noch zu klein waren“, sagte Siddik der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen anlässlich des dritten Jahrestags der Vertreibung der muslimischen Rohingya aus Myanmar. Siddik betont: „Ich bin bereit für eine Rückkehr nach Myanmar, wenn unsere Rechte garantiert sind.“

Um die Rechte der Rohingya ist es unter der Regierung von Aung San Suu Kyi schlechter bestellt denn je. Das mehrheitlich buddhistische Myanmar benutze sein Rechtssystem als „Waffe“ zur Diskriminierung und Verfolgung der ethnisch-religösen Gruppe, die seit Generationen im Land lebe, klagt Kyaw Win, Direktor der Organisation Burma Human Rights Network.

„Die Rohingya werden regelmäßig und konsequent von der Regierung, dem Militär, den Ultranationalisten und lokalen Medien als ‘illegale Bengalen’ dämonisiert“, sagt der Menschenrechtler und fügt hinzu: „So verweigern sie den Rohingya ihr Recht auf Identität und provozieren Angst vor ihnen als ruchlose Gruppe, die dem Land schaden will.“

Jüngster Diskriminierungsfall ist die Ablehnung der Kandidatur von sechs Rohingya bei der Parlamentswahl im kommenden November durch die Wahlkommission. Grund: Die Eltern der sechs Politiker seien keine Staatsbürger von Myanmar gewesen.

Die Wahl wird kein Selbstläufer für Aung San Suu Kyi und ihre Partei Nationale Liga für Demokratie (NLD) – nicht wie noch die Abstimmung vor fünf Jahren. Die ethnischen Völker, die 2015 der NLD zum Erdrutschsieg verholfen haben, sind enttäuscht von Staatsrätin und Partei.

„Die Rohingya und die anderen ethnischen Völker hatten erwartet, dass Aung San Suu Kyi Gleichberechtigung bringt“, sagte die birmanische Menschenrechtsaktivistin Wai Wai Nu Anfang August in einer virtuellen Anhörung des auswärtigen Ausschusses des US-Repräsentantenhauses. „Stattdessen hat sie sich von ihnen abgewendet und auf die Seite der Armee gestellt“, fügte die ehemalige politische Gefangene hinzu. Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag müssen sich Myanmars Regierungschefin und die Armeeführung inzwischen wegen Völkermords verantworten.

Auch in anderen asiatischen Ländern leben seit vielen Jahren Tausende Rohingya, die vor früheren Verfolgungen aus Myanmar geflüchtet waren, unter schwierigsten humanitären Bedingungen. In den vergangenen Monaten hatten südostasiatische Länder zudem wiederholt Boote mit Hunderten Rohingya-Flüchtlingen an Bord aus Furcht vor einer Verbreitung des Coronavirus nicht ins Land gelassen.

„Die Verletzlichkeit der Situation für Rohingya-Flüchtlinge wurde durch die Pandemie verschärft. Aufgrund ihres fehlenden Rechtsstatus und des Fehlens längerfristiger und nachhaltiger Lösungen ist ihre Zukunft ungewisser denn je“, sagt Alan Pereira, Vertreter von Ärzte ohne Grenzen in Bangladesch.

Auch drei Jahre nach der Massenvertreibung leben die Rohingya unter schwierigsten Bedingungen in den hoffnungslos überfüllten Lagern von Cox’s Bazar. Bangladesch würde die Flüchtlinge lieber gestern als heute nach Myanmar zurückschicken und verbietet deshalb alle mögliche Maßnahmen – wie zum Beispiel die Einrichtung eines Schulsystems –, die den Lagern den Charakter einer dauerhaften Siedlung geben würden. Während die Hoffnung der Rohingya auf eine baldige Rückkehr nach Rakhine rapide schwindet, steigt die Angst vor einem Massenausbruch von Covid-19 in den Lagern.

Alan Pereira mahnt: „Zu einer Zeit, in der für viele auf der Welt die Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, ihre Pläne auf Eis gelegt sind und sich ihre Lebensgrundlagen im Umbruch befinden, ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass die Rohingya so seit Generationen leben müssen.“

,

Kopftuch: Berlin scheitert mit Revision

Mit einer Revisionsklage gegen die Entschädigung einer Kopftuch tragenden Lehramtsbewerberin wollte das Land Berlin eine höchstrichterliche Bestätigung seines Neutralitätsgesetzes. Das ist jetzt gescheitert.

Erfurt/Berlin (KNA). Das Land Berlin hat keine Bestätigung des Bundesarbeitsgerichts für sein Neutralitätsgesetz erhalten. Das höchste deutsche Arbeitsgericht wies am Donnerstag in Erfurt eine Revisionsklage des Landes gegen ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg von 2018 ab, das einer abgelehnten muslimischen Lehramtskandidatin mit Kopftuch eine Entschädigung in Höhe von 5.160 Euro zuerkannt hatte.

Das Bundesarbeitsgericht folgte der Begründung der Vorinstanz, dass sie wegen ihrer Religion nicht eingestellt und damit benachteiligt worden sei. Zugleich entschied das Erfurter Gericht, dass die Summe angemessen sei. Die Klägerin hatte vor dem höchsten deutschen Arbeitsgericht eine höhere Entschädigung gefordert.

Damit kann das Land Berlin muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch weiterhin nicht unter Berufung auf sein Neutralitätsgesetz ablehnen. Die Vorsitzende Richterin des Achten Senats, Anja Schlewing, führte im vorliegenden Fall an, dass ein Mitarbeiter der Berliner Bildungsverwaltung die Lehramtskandidatin auf das Kopftuchverbot des Berliner Neutralitätsgesetzes hingewiesen habe.

Das begründe die Annahme, dass die Lehrerin wegen ihrer Religion benachteiligt worden sei. Schlewing betonte, nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2015 sei das Neutralitätsgesetz verfassungskonform so auszulegen, dass Verbote etwa eines Kopftuches nur im Falle einer Gefahr für den Schulfrieden gerechtfertigt seien.

Das Berliner Neutralitätsgesetz ist in Deutschland die weitestgehende Regelung auf diesem Gebiet. Es verbietet bestimmten staatlichen Bediensteten, unter anderen Lehrkräften, religiös oder weltanschaulich motivierte Kleidung und Symbole.

In vorausgegangenen mündlichen Verhandlung hatten die das Land Berlin vertretenden Rechtsanwälte dessen Neutralitätsgesetz verteidigt. Seyran Ates erklärte, wenn der Staat Lehrerinnen das Kopftuch erlauben würde, könnte er damit unzulässigerweise für eine bestimmte Interpretation des Koran Partei ergreifen. Die muslimische Kopfbedeckung sei eine „nonverbale Vermittlung bestimmter Moralvorstellungen“. Es dürfe nicht den Schulkindern und ihren Eltern überlassen werden, gegen eine religiöse Einflussnahme von Lehrkräften Widerstand zu leisten, so Ates, die auch als Gründerin einer liberalen Moscheegemeinde bekannt ist.

Rechtsanwalt Axel Groeger kritisierte die Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2015, der zufolge ein Verbot nur zulässig ist, wenn davon eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens ausgeht. Dies berücksichtige zuwenig das Wohl des Kindes, das in der EU-Grundrechtecharta festgeschrieben sei. Es müsse auch die Freiheit vor religiöser Vereinnahmung umfassen. Groeger plädierte dafür, den Fall dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg vorzulegen.

Dagegen betonte die Rechtsanwältin Maryam Haschemi Yekani als Vertreterin der klagenden Lehrerin, es gebe viele positive Erfahrungen mit Lehramtsreferendarinnen, die während ihrer Ausbildung das Kopftuch tragen durften. Sie widerlegten das Argument, dass von dieser davon grundsätzlich eine Gefahr ausgehe. Auf diese Weise gekleidete Lehrerinnen mit akademischer Ausbildung könnten vielmehr ein emanzipiertes Frauenbild in der muslimischen Gemeinschaft fördern. Überdies seien Kopftuch tragende Frauen im Alltag der Berliner Schülerinnen und Schüler selbstverständlich.

,

Eine Reduzierung der göttlichen Botschaft

(iz). Seit einigen Wochen hat sich die bundesdeutsche Islamdebatte insbesondere auf das Phänomen des „politischen Islam“ fokussiert. Neben anderen Aspekten geht es dabei zusätzlich um die Rolle und den Einfluss politischer Ideologien auf das Islamverständnis einzelner Muslime oder ihrer Gemeinschaften. Auf der anderen Seite scheint bei manchen, international vernetzten KritikerInnen immer wieder die Verschwörungstheorie durch, Islam sei tatsächlich keine offenbarte Religion, sondern eine politische Ideologie.

Für die „Islamische Zeitung“ ist das kein neues Thema. Schon seit Ende der 1990er Jahre bemühen wir uns um einen kritischen Blick auf spezifische Ideologien in der muslimischen Welt und welche Folgen sie für das tradierte Islamverständnis sowie die konkreten Bedingungen von MuslimInnen hatten. Einige klassisch gebildete Gelehrte haben sich in den letzten 20 Jahren hierzu zu Wort gemeldet. Anbei zeichnen wir einige Gedanken von ihnen nach.

Das Wort „Ideologie“ leitet sich aus einem französischen Begriff ab, der in der revolutionären Periode aufkam. Damit war eine neue Denkweise gemeint, die nicht mit Metaphysik, Religion oder Tradition beladen war. Napoleon bezog sich herabwürdigend auf die Vertreter einer Ideologie als „Ideologen“. Während es eine neutrale Bedeutung haben kann, würden die meisten das Wort als negativ betrachten. „Islam ist Wahji, eine Offenbarung von Gott und keine Ideologie“, schrieb Schaikh Hamza Yusuf eindeutig in einem Debattenbeitrag zum Thema.

Es gebe im klassischen Arabischen, so Yusuf, nicht einmal einen Begriff, der die Bedeutung von „Ideologie“ in sich tragen würde. „Es findet sich nicht in Ibn ­Manzurs maßgeblichem Wörterbuch des klassischen Arabisch, Lisan al-Arab, und mit Sicherheit nirgendwo im Qur’an oder in den Hadithen. Weder die Salaf noch die Gelehrten der letzten 1.300 Jahre des Islam benutzten den Begriff.“ Diese ­Terminologie ist das Ergebnis der unglückseligen Hochzeit von Konzepten der europäischen Moderne mit muslimischen Gesellschaften im Moment ihres Niedergangs.

Da die Araber nicht einmal ein Wort dafür gehabt hätten, sagt Schaikh Hamza Yusuf, mussten sie eines erfinden, um dieses Konzept ausdrücken zu können. „Suchen wir nach „Ideologie“ in einem modernen arabischen Wörterbuch, dann stoßen wir auf ‘Idiolodschijjah’. Versuchen wir, das Wort ins klassische Arabisch zu übertragen, dann wäre ‘mandhur fikri’ eine ziemliche Annäherung. ‘Fikr’ ist keine Eigenschaft Allahs. ‘Mufakkir’ ist keiner der 99 Namen Allahs und anders als ‘tafakkur’, dem im Qur’an eine positive Bedeutung zugeschrieben wird, hat „fikr“ auch einen negativen Unterton: ‘Er hat ja nachgedacht und abgewogen. Tod ihm, wie er abgewogen hat!’ (Al-Muddattir, 18-19).“

„Islam ist eine der weltgrößten Religionen. Als solche beschäftigt sie sich mit den Hauptfragen, die den Diskurs in ­jedem Glauben dominieren. Dazu ­gehörten die Erkenntnis des Göttlichen, seine Anbetung und der Gehorsam ihm gegenüber – in Erwartung jenseitiger Belohnungen und der Abwehr von Bestrafung“, sagt Imam Zaid Shakir zur Frage, ob Islam eine Ideologie sei.

Im Zentrum dieser Themen stehe die tiefe Sorge um die Errettung des Menschen. Der Islam teile diese religiösen ­Bedenken, die Allah im Qur’an erwähne: „Jede Seele wird den Tod kosten. Und erst am Tag der Auferstehung wird euch euer Lohn in vollem Maß zukommen. Wer dann dem (Höllen)feuer entrückt und in den (Paradies)garten eingelassen wird, der hat fürwahr einen Erfolg erzielt. Und das diesseitige Leben ist nur trügerischer Genuss.“ (Al-i-’Imran, Sure 3, 185)

Für Shakir ist die politische Lesart der Quellentexte Teil einer Tendenz, Islam auf eine politische Ideologie zu reduzieren. Für ihn habe das schwerwiegende Folgen. Die vielleicht schlimmste sei die Abwendung des Hauptfokus des Dins vom Geist beziehungsweise der Seele auf die diesseitige Welt. „Dadurch wird das Verständnis des Heiligen auf das Niveau des Mondänen erniedrigt.“ Eine Reflexion der Natur von Ideologien mache klar, dass Muslime sich dieser Neuausrichtung widersetzen müssten.

„Die wesentliche Domäne des Handelns und Denkens ist für den Ideologen das Politische (…). Dessen Beschränkungen markieren den Punkt, an dem sich Islam von Ideologie von Weltanschauungen unterscheidet“, schrieb Zaid Shakir in einem wesentlichen Text von 2006. Er sieht in Allahs Din einen Gegen­entwurf, denn Ziel sei nicht nur die Sorge um die politischen Umstände des Menschen, sondern vielmehr dessen spirituelle. „Im Herzen des islamischen Rufes befindet sich ein normatives Programm für geistige Rettung.“ Das Politische werde nicht geleugnet, aber habe den ­Regeln des Spirituellen zu folgen und dessen Grenzen anzuerkennen.

Darüber hinaus seien Ideologien ebenfalls vom Nützlichkeitsdenken geprägt. Die vertretenen Lehren seien genau durch ihre Zweckmäßigkeit geprägt wie durch ihre Prinzipien. Nur wenige würden sich weit von der machiavellistischen Maxime entfernen, wonach der Zweck die Mittel rechtfertige. Werde Islam auf eine Weltanschauung reduziert, dann sei es unausweichlich, so Shakir, dass er auf die ­Domäne politischer Zweckmäßigkeit ­zurückgestuft werde. „Was immer die ­politische Sache voranzutreiben scheint, wird als ‘islamisch’ angesehen. (…) wie Selbstmordattentate, Massaker an Zivilisten, Ermordung anderer Muslime, Zerstörung der öffentlichen Ordnung sowie andere Taktiken, die mit der Ideologie und Praxis des ‘Islamischen Dschihad’ in Verbindung gebracht wurden.“ Die strikt politische Lesart des Qur’an treibe eine solche Zweckmäßigkeit voran. „Die Auswirkungen auf das Verständnis und Handeln sind ihrerseits tiefgreifend. Ereignisse, deren Entfaltung auf das Ende der Zeit beschränkt ist, wird so eine Unmittelbarkeit zugewiesen, die ihre Anwendbarkeit hier und jetzt einfordert.“

Der englische Gelehrte und Autor ­Abdal Hakim Murad beschreibt diese Weltanschauungen in seiner neuen Aufsatzsammlung „Travelling Home“ als ­radikalen Bruch mit der muslimischen Vergangenheit. Vielmehr kämen hier ­revolutionäre und konterrevolutionäre Strategien der Gewalt und des Terrors zur Schaffung einer Utopie zum Einsatz. In Anlehnung an den deutschen Essayisten beschreibt Murad existente Ideo­logien als „ein Symptom der Krankheit, für deren Lösung“ sie sich halten ­würden.

Für Imam Zaid Shakir drohe diese beschriebene Reduzierung von Islam auf eine Weltanschauung, die Bestimmungen und Prinzipien spezifischen politischen Forderungen zu unterwerfen. Diese hätten ihrerseits nur wenig mit den islamischen Lehren gemein. Wenn dies geschehe, droht „ein Verlust der sozialen Fundamente unserer Religion“.

,

Neue Gewohnheiten

(iz). Langsam müssen sich die ­Moscheegemeinden in Deutschland auf dauerhaft verpflichtende Corona-Regeln einstellen. Hoffnungen, dass die Verbreitung des Virus in den Sommermonaten beendet würde, haben sich leider zerschlagen. Die Folgen der Pandemie könnten sogar über Jahre bemerkbar sein. Für den Herbst zeichnen sich nun sogar neue Verschärfungen der Einschränkungen ab. In den Moscheen herrscht inzwischen so etwas wie eine neue Normalität.

Die Muslime in Deutschland zeigen dabei eine erstaunliche Disziplin, die ­Abstandsregeln und Hygienevorschriften werden vorbildlich eingehalten. Das ­Gemeinschaftsgebet sieht an sich dicht geschlossene Reihen von Betenden vor, aber auch hier wird während der Pflichtgebete der Mindestabstand eingehalten. Muslime verzichten auch auf die üb­lichen Begrüßungen. Die soziale Dimension des Freitagsgebetes, im Mittelpunkt steht die Begegnung und der Kontakt mit anderen Muslimen, ist im Moment nur noch eingeschränkt erlebbar. Im ­Ergebnis tragen so Muslime zweifellos zu einer effektiven Bekämpfung der ­weiterhin bestehenden Pandemie bei. Die Sorgen, dass die Öffnung der Moscheen neue Infektionsherde begünstigen ­könnten, haben sich dagegen nicht ­bewahrheitet.

Im Ergebnis hat sich aber auch eine Umkehrung aller Werte eingestellt. Aus der sozialen Nähe wurde die soziale ­Distanz. Hier darf sich die Macht der Gewohnheit nicht durchsetzen.

Darüber hinaus leiden viele Moscheegemeinden an finanziellen Sorgen, da die Zahl der Spender für den Unterhalt der Gebäude stark abgenommen hat. Noch ist unklar wie sich die neuen Verhältnisse langfristig auf die Struktur der Gemeinden auswirken werden.  Kurzfristig sollen virtuelle Angebote und kleinere Veranstaltungen das Gemeinschaftsgefühl am Leben halten.

Ayyub Köhler, der langjährige Vorsitzende des Zentralrates der Muslime bringt die Lage auf den Punkt: „Die Herausforderungen einer lang anhaltenden Pandemie mit ihren psychologischen und sozialen Auswirkungen sind wieder Anlass, über unsere Koranschulen, unser Bildungswesen und Gemeindearbeit nachzudenken.“ Köhler fordert die Muslime auf, sich intellektuell mit der neuen Situation auseinandersetzen.

Das Motto ist klar, in jeder Krise gibt es Gefahren aber auch Chancen. Gerade in der Isolation wird die soziale Kompetenz der Muslime neu definiert werden müssen. Ungewöhnliche Situationen erfordern dabei eine neue Kreativität. Fest steht im Moment nur, dass ein islamisches Leben, ohne enge soziale Kontakte, für Muslime auf Dauer undenkbar ist.

,

20 Intensivbetten für 16 Millionen

Mit Hilfe von Drohnen versuchte die britische BBC vor kurzem, Somalias offizielle Corona-Opferzahl von 93 zu widerlegen. Sie berichtet von „Friedhöfen, die sich schnell füllen“ – für die WHO ein „Alptraumszenario“.

Mogadischu (KNA). Massengräber, überforderte Ärzte und Terroristen, die Corona-Tests durchführen: In Somalia wächst die Sorge vor den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie. Zwar ist die Zahl der Infizierten mit knapp über 3.200 bisher gering. „Doch die Antwort der Regierung ist unzureichend angesichts der Wucht, mit der die Pandemie zuschlägt“, warnt der Politologe Andrews Atta-Asamoah von der afrikanischen Denkfabrik Institut für Sicherheitsstudien (ISS). Somalias Gesundheitssektor sei nach jahrelangem Bürgerkrieg „extrem geschwächt“.

Seinen ersten Corona-Fall meldete die ostafrikanische Nation Mitte März; es handelte sich um einen Studenten, der aus China zurückgekehrt war. Seitdem greift das Virus um sich, ohne die Somalier sonderlich zu beeindrucken. Von Panik keine Spur. „Stigmatisierung und Falschinformationen verkomplizieren die Antwort und verhindern, dass Menschen sich testen lassen und Präventionsmaßnahmen ergreifen“, meint der Sprecher des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Somalia, Richard Desgagne. Ein positiver Corona-Test stelle in den Augen vieler Somalier eine größere Gefahr dar als das Risiko, das Virus weiterzugeben.

Denn die Liste an lebensbedrohlichen Katastrophen ist lang: Zuletzt erlebte Somalia die schlimmste Heuschreckenplage seit 25 Jahren, Überschwemmungen, Dürren und bewaffneten Konflikt. All das habe 2,6 Millionen Menschen von ihrem Zuhause vertrieben, so Desgagne. Hinzu komme das fragile Gesundheitssystem. „Nur die Hälfte der Stadtbewohner hat Schätzungen nach Zugang zu medizinischer Versorgung, in ländlichen Regionen liegt die Zahl bei etwa 15 Prozent.“

Mit Testzentren und einer nationalen Corona-Hotline versucht die Regierung in Mogadischu, die Ausbreitung zu verhindern. Doch der Kampf gegen eine Pandemie ist schwierig, wenn man gleichzeitig um die eigene Existenz ringt. Viele Regionen Somalias stehen unter der Kontrolle von Piraten, Warlords oder den Islamisten der al-Shabaab.

„Die staatlichen Corona-Maßnahmen beschränken sich größtenteils auf die Hauptstadt Mogadischu und die größeren Städte in den einzelnen Bundesstaaten“, erzählt Atta-Asamoah. Und die Terroristen werden nicht müde, die von der UNO gestützte Regierung an ihre Schwächen zu erinnern. Einmal mehr geschah das vergangenen Sonntag, als sie eine Autobombe an Mogadischus Strandpromenade zündeten und anschließend bei einer stundenlangen Geiselnahme in einem Hotel Dutzende Menschen töteten.

Im Juni gab die al-Shabaab bekannt, ihr eigenes Corona-Behandlungszentrum eröffnet zu haben. Verdachtsfälle würden von den Terroristen abgeholt und im Feldlazarett 400 Kilometer vor der Hauptstadt behandelt. Für das Counter Terrorism Centre, einer Forschungseinrichtung in den USA, ist das keine Überraschung: Wo Regierungen versagen, springen Terrorgruppen ein, um humanitäre Nothilfe zu leisten. Zwar stelle die Corona-Pandemie auch die Terroristen vor Herausforderungen. „Aber die Schlüsselfrage bleibt, ob die Behörden, die sie bekämpfen, mehr zustande bringen.“

In Mogadischu steht, eingebettet zwischen Moscheen, dem Zentralgefängnis und der Küste, das Martini Hospital. Es ist das einzige Krankenhaus in Somalia, in dem Corona-Patienten behandelt werden. Für 16 Millionen Einwohner stehen hier 20 Intensivbetten zur Verfügung. Medikamente und Sauerstoff sind Mangelware. Während die Temperatur draußen 30 Grad übersteigt, schiebt das Personal in seinen blau-weißen Schutzanzügen 16-Stunden-Schichten. Trotz der Widrigkeiten meldeten sich viele Ärzte und Pfleger freiwillig, um Leben zu retten.

Für die somalische Politikerin Fadumo Dayib, die 2016 als erste Frau für das Präsidentenamt kandidierte, steht fest: „Somalia funktioniert noch. Das ist seinen Bürgern zu verdanken, die einspringen und die Rolle ihrer Regierung übernehmen. Wir mögen eine Regierung haben, aber das Land funktioniert einzig dank seiner Bürger.“

Die Weltgesundheitsorganisation WHO sieht Somalia in einem „Alptraumszenario“. Nichtsdestotrotz werde dieses zum Test für die ganze Weltgemeinschaft, meint der Landesvertreter der Organisation, Mamunur Rahman Malik: „Wir können diese Pandemie nur besiegen, wenn uns das an Schauplätzen wie Somalia gelingt.“a