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„Das moralisch Unsagbare ist sagbar geworden“

Erstmals legt der Verfassungsschutz einen Lagebericht zum Antisemitismus in Deutschland vor. Judenfeindschaft finden sich danach in allen extremistischen Strömungen.

Köln (KNA). 75 Jahre nach dem Ende des Holocaust mit sechs Millionen Toten hat das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) erstmals einen 100 Seiten starken Lagebericht zum Antisemitismus in Deutschland vorlegt. BfV-Präsident Thomas Haldenwang erklärte am 10. August dazu, Antisemitismus sei schon immer eine erstaunliche Gemeinsamkeit von Demokratiefeinden gewesen. Doch Internet und Soziale Medien hätten eine neue Dynamik geschaffen. „Das moralisch Unsagbare ist sagbar geworden“, sagte er. Antisemitismus reiche bis in bürgerliche Kreise.

Bereits am Wochenende zuvor hatte Haldenwang eine deutliche Zunahme des Antisemitismus beklagt. „Wir müssen feststellen, dass es bei den rechtsextremistisch motivierten antisemitischen Straftaten im Jahr 2018 einen Anstieg um 71 Prozent gab und im vergangenen Jahr noch einmal um weitere 17 Prozent“ sagte er der „Süddeutschen Zeitung“ unter Verweis auf den Terroranschlag auf die Synagoge in Halle und häufige Beleidigungen, Bedrohungen und Attacken gegen Juden. „Wenn mir jüdische Bürgerinnen und Bürger sagen, dass sie sich fragen, wann der Zeitpunkt erreicht ist, Deutschland zu verlassen – dass sie überhaupt schon an diesem Punkt sind: Dann ist die Lage schlimm.“

Laut Lagebericht ist Antisemitismus in sämtlichen extremistischen Bereichen – unter Rechtsextremisten, bei „Reichsbürgern und Selbstverwaltern“, im Islamismus und Ausländerextremismus wie im Linksextremismus vorhanden. Allerdings hat er für die unterschiedlichen Bereiche eine unterschiedliche Bedeutung und auch ein unterschiedliches Ausmaß.

Die wohl größte Bedeutung besitzen antisemitische Welterklärungsmodelle laut Verfassungsschutz im Rechtsextremismus. Insbesondere für den „altrechten“ und völkischen Teil dieses Spektrums sei eine zumeist rassistisch begründete Judenfeindschaft konstitutiv, heißt es. Musik spiele bei ihrer Verbreitung eine besondere Rolle.

Eine vergleichbare Bedeutung hat der Antisemitismus laut Bundesamt in den islamistischen Strömungen. Muslimischer Antisemitismus werde vor allem aus (christlich-)europäischen Reservoirs gespeist. Einen rassistischen Antisemitismus gebe es hier allerdings nicht, heißt es. Den höchsten Stellenwert bei den islamistischen Strömungen besitzt laut Lagebericht der gegen den „Judenstaat Israel“ gerichtete antizionistische Antisemitismus.

Im Linksextremismus sehen die Verfassungsschützer nur eine nachrangige Bedeutung des Antisemitismus. „Gleichwohl greifen linksextremistische judenfeindliche Positionen auf dieselben Ressentiments und antisemitischen Bilder wie andere extremistische Erscheinungsformen zurück, wobei in erster Linie antizionistische Auffassungen ventiliert werden.“

Insgesamt schätzt der Bericht den antizionistischen Antisemitismus als derzeit bedeutendste Form der Judenfeindschaft ein. Er sei nicht nur die seit Jahren am häufigsten zu beobachtende Form. Er sei zudem in allen extremistischen Bereichen feststellbar und verbinde damit verschiedene Extremismen.

Besonders gefährlich ist er laut Bericht auch deshalb, weil er wie keine andere Erscheinungsform in einer breiten Öffentlichkeit anschlussfähig sei und extremistische Auffassungen mit nicht-extremistischen Diskursen verbindet. Bei den Debatten über die Situation in Nahost könnten antisemitische Aussagen einen weniger anrüchigen Charakter annehmen. Zudem bestünden weitverbreitete Unsicherheiten darüber, wo legitime Kritik am Handeln Israels aufhöre und antisemitisch grundierte Israelfeindschaft beginne.

Eine ganz neue Dynamik hat der Antisemitismus durch das Internet und die Sozialen Medien erhalten. Auf Webseiten, Blogs und Videoportalen würden nicht nur antisemitische Äußerungen verbreitet, schreiben die Verfassungsschützer besorgt. „Hier vollziehen sich vielmehr Radikalisierungsprozesse.“ Und hier würden auch antisemitische Gewalttaten angekündigt, live gestreamt und anschließend gewürdigt.

„Antisemitismus wird auf absehbare Zeit in allen Phänomenbereichen ein wesentliches Thema bleiben“, schreiben die Verfassungsschützer zusammenfassend. Opfer von Antisemitismus aber seien nicht nur die Juden, sondern die gesamte Gesellschaft.

Libanon: Ende des Konfessionalismus?

Jahrzehntelang sollte ein ausgeklügeltes Proporzsystem die Machtverteilung zwischen den Religionen im Libanon austarieren. Das scheiterte bereits im Bürgerkrieg 1975. Nun droht dem Konfessionalismus endgültig das Aus.

Beirut (KNA). Mit sechs muslimischen und zwölf christlichen Konfessionen ist der Libanon ein einzigartiges Mosaik auf engstem Raum – religiös, ethnisch, kulturell. Die meist geografisch konzentriert lebenden Gruppen haben die Bildung einer nationalen Identität des Landes und eines stabilen, politischen Systems schon immer erschwert. Jahrzehntelang sollte der Konfessionalismus die religiösen Kräfteverhältnisse ausbalancieren: Die Regierungsgewalt und öffentliche Ämter werden relativ zur religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung verteilt.

Diese Form der Machtverteilung ist eng verbunden mit der Entstehungsgeschichte des Landes. Schon unter osmanischer Herrschaft bestand ein gewisser Konfessionalismus. Ihn übernahm das französische Kolonialregime, als es 1920 den Staat Großlibanon proklamierte – und in das bis dahin maronitisch beherrschte Autonomiegebiet des Libanongebirges die eher muslimischen Küstenregionen sowie die Bekaa-Ebene eingliederte. Das darauf eingeführte konfessionelle Proporzschema wurde zur Keimzelle des heutigen politischen Systems im Libanon.

Den genauen Schlüssel ermittelte 1932 die bisher einzige Volkszählung im Land. Sie sprach den damals rund 53 Prozent Christen eine Vertretung im öffentlichen Leben im Verhältnis von 6 zu 5 im Vergleich zu den Muslimen zu. Der Nationalpakt bei der Unabhängigkeit des Staates 1943 bekräftigte die Proporzdemokratie. Brachte er in den ersten Jahrzehnten eine gewisse Stabilität, brach das System mit dem Beginn der Bürgerkrieges 1975 auseinander. Es kam zu wechselnden Allianzen, die Spaltungen vertieften sich.

Mit dem Friedensabkommen von Taif, das 1989 den Bürgerkrieg beendete, wurde das alte Konfessionssystem in modifizierter Form bestätigt. Danach muss, unabhängig von politischen Mehrheiten, der Staatspräsident Christ, der Premierminister Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit sein. Obwohl Christen nunmehr nur noch etwa 40 Prozent der Bevölkerung stellten, einigte man sich auf eine paritätische muslimisch-christliche Machtverteilung. Die Rolle der Christen wurde indes geschwächt, indem der politische Einfluss des Staatspräsidenten gegenüber dem Ministerpräsidenten beschnitten wurde.

Eine im Taif-Abkommen als Staatsziel vorgesehene Abschaffung des politischen Konfessionalismus wurde bis heute nicht umgesetzt. Stattdessen sind die monokonfessionellen politischen Parteien unter Leitung familiärer Clans zu exklusiven Vertretungen ihrer jeweiligen Religionsgruppe geworden. Das Klientelwesen der konfessionell-politischen Eliten hat Abhängigkeiten innerhalb der jeweiligen Glaubensgemeinschaften gefördert, die durch ein Belohnungssystem wie die Begünstigung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt noch verstärkt werden.

Gleichzeitig hat sich der muslimische Bevölkerungsanteil durch eine höhere Geburtenrate, die Abwanderung von Christen sowie muslimische Flüchtlinge deutlich erhöht. Eine Anpassung an die sich wandelnden Zahlen jedoch sieht der statische Proporz nicht vor, Unzufriedenheit und Konfliktpotenzial zwischen den verschiedenen Konfessionen sind die Folge.

Aus dem Versuch, ein friedliches Zusammenleben der religiösen Gemeinschaften im Libanon zu ermöglichen, entstand ein gleichermaßen mächtiges wie korruptes Clansystem, das dem demokratischen Prinzip der Gleichheit aller Bürger widerspricht. Schon 1975 wurde es zu einem Hauptauslöser des Bürgerkriegs – es könnte nun erneut zur Quelle von Gewalt und Chaos werden. Seit nunmehr elf Monaten gehen die Libanesen in Massen und mit ausdrücklicher Unterstützung der Kirchenvertreter gegen die überholte Ordnung auf die Straße.

Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres musste eine libanesische Regierung dem Druck der Straße nachgeben und zurücktreten. Ob damit der Weg frei wird für einen modernen Zivilstaat ohne Konfessionalismus und Quoten, bleibt abzuwarten. Die monatelangen – konfessionsübergreifenden – Proteste weiter Teile des Volkes gegen eben dieses System sind zumindest ein Hoffnungsschimmer.

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Triebfeder der Zivilgesellschaft

(iz). Bereitschaft für soziales Engagement ist eine wichtige Triebfeder der Zivilgesellschaft. Dieser Gemeinsinn kann in einer offenen Gesellschaft nicht staatlich verordnet werden. Auch wenn in dieser Hinsicht alle Teilgruppen der Gesellschaft gefragt sind, ihren Teil zur sozialen Kohäsion beizutragen, adressiert eine aktuelle Studie besonders eine Gruppe, deren Anteil in Deutschland wächst: die muslimischen Mitbürger*innen. Ihr Fokus lag hierbei auf den jungen, bildungsnahen Muslim*innen.

Hierzu sprachen wir mit Dr. Jörg Imran Schröter vom Karlsruher Institut für Islamische Theologie/Religionspädagogik. Der gelernte Islamwissenschaftler betreut diesen Bereich an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und führte gerade eine Studie zum Thema durch.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Schröter, Sie haben jüngst eine Studie zum Engagement junger MuslimInnen in Deutschland veröffentlicht. Was war Ihre Motivation und die wichtigsten Erkenntnisse?

Dr. Jörg Imran Schröter: In den überwiegend hitzigen Debatten über die Rolle des Islam in der deutschen Gesellschaft spürte ich die Gefahr, dass vor lauter Stereotypen und auch Vorurteilen an der Wirklichkeit der Muslim*innen in Deutschland vorbeigeredet wird. Das war für mich der Anlass eine empirische Forschung vorzunehmen, wobei es mir um die Frage ging, in wie weit muslimische Religiosität mit einem positiven Engagement in der Gesellschaft zusammengehen und auch zusammenhängen kann.

Die Bereitschaft für soziales Engagement ist ja eine wichtige Triebfeder der Zivilgesellschaft, denn es kann ­dadurch ein Gemeinsinn geschaffen werden, der die Grundlage unserer demokratischen Ordnung bildet. Dieser Gemeinsinn kann in einer offenen Gesellschaft allerdings nicht staatlich verordnet werden. So stellt sich die Frage, woher er heute noch kommen soll? Mit Blick auf die aktuellen demographischen Veränderungen und auch die wachsende Anzahl an Muslim*innen, die hier leben, wollte ich wissen, wie es tatsächlich aussieht. Es wurde ja auch behauptet der Islam befände sich nur noch in der Radikalisierung oder im stillen Rückzug…

Da war es eine Freude festzustellen, dass eine neue Generation junger Muslim*innen „am Start ist“, die überzeugt ihren Glauben leben, gebildet sind, aktiv an der Gesellschaft partizipieren und sich dabei auch sozial engagieren oder dies zumindest gerne möchten.

Islamische Zeitung: Sie sprechen im Titel von bildungsnah. Warum dieses Segment?

Dr. Jörg Imran Schröter: „Bildungsnah“, „Formal hochgebildet“… das sind auch alles wieder Schubladen. Es ist klar, dass das allein kein Gütekriterium im islamischen Verständnis ist. Aber es ist doch ein ganz wichtiger Aspekt, der in Deutschland noch gar nicht so richtig wahrgenommen wird. Religiös zu sein hat hier seit der Säkularisierung noch immer den „Touch“ von Ungebildetheit und Rückständigkeit. Mit Blick auf Muslim*innen gilt das nur noch umso mehr. Da ist es schon interessant den Fokus darauf zu lenken, dass es zunehmend gut ausgebildete Muslim*innen gibt, die auch entsprechende Positionen in der deutschen Gesellschaft einnehmen.

Mir war es dabei wichtig herauszufinden, ob die Gesamtgesellschaft davon profitieren kann. Tatsächlich sieht es nach meinen Ergebnissen so aus, dass sich Religiosität, Bildung und Engagement für junge Muslim*innen keineswegs ausschließen. Islamisch gesehen wäre hierbei auch das Ideal einer inneren Einheit von Glauben, Wissen und Ethik verwirklicht, wie es beispielsweise von Imam al-Ghazali in seiner „Wiederbelebung der Religionswissenschaften“ vertreten wird.

Islamische Zeitung: In dem Text findet sich ein hoher Grad an Engagement. Woran liegt das?

Dr. Jörg Imran Schröter: Abgesehen von vielen anderen Faktoren, die hier wirksam sein können, halte ich insbesondere zwei Umstände für wesentlich. Erstens: Diese jungen Muslim*innen wurden zum Engagement erzogen.

Die Studie hat ergeben, dass überwiegend die religiöse Gemeinschaft, Freunde und Bekannte, die Ausbildung und auch die Familie zum Engagement geführt haben. Zweitens: Diese jungen Muslim*innen haben die Gelegenheit und die Orte, um sich zu engagieren. Das ist ja nicht einfach selbstverständlich, sondern vielmehr auch das positive Ergebnis der letzten Jahre aus den Bemühungen von Stiftungen und Vereinen jungen Muslim*innen Engagement und Teilhabe zu ermöglichen.

Islamische Zeitung: Bei Veranstaltungen finden sich häufiger Teilnehmerinnen als Teilnehmer. Haben Sie ähnliche Erkenntnisse?

Dr. Jörg Imran Schröter: Tatsache ist, dass zwei Drittel derjenigen, die sich freiwillig an der Studie beteiligt haben, Frauen waren. Die öffentliche Wahrnehmung von Muslim*innen in Deutschland erscheint dagegen weitestgehend männlich geprägt. Muslimische Frauen werden häufig marginalisiert oder als ­defizitär oder passiv dargestellt. Da ist dieser Befund der hohen weiblichen ­Beteiligung allein schon ein wichtiger Beitrag zu einem differenzierteren Bild – nicht zuletzt auch zur gesellschaftlichen Stellung oder vielmehr Selbstverortung junger muslimischer Frauen.

Islamische Zeitung: Gibt es Beziehungen zwischen dem religiösen Selbstverständnis und dem Engagement sowie seiner Intensität?

Dr. Jörg Imran Schröter: Genau diese Korrelation sollte in der Studie untersucht werden und es zeigt sich, dass in der Stichprobe diejenigen Befragten, die sich als „sehr“ oder „eher religiös“ bezeichnen, 72 Prozent ausmachen. Gleichzeitig sind 61 Prozent der Befragten derzeit aktiv engagiert, die meisten davon rein ehrenamtlich (ehrenamtlich: 46 Prozent; beruflich: 3 Prozent; beruflich und ehrenamtlich: 12 Prozent). Neben den 61 Prozent derzeit Aktiven gaben 22 Prozent an, dass sie gerne aktiv wären, aber noch nicht die Gelegenheit dazu hatten, 11 Prozent gaben an, in der Vergangenheit aktiv gewesen zu sein. Nur 7 Prozent geben an, dass ein soziales Engagement nichts für sie sei. Die meisten der Engagierten sind dabei im religiösen Bereich aktiv. So darf aber aus der Befragung geschlossen werden, dass die Moscheegemeinde ein wichtiger Ort des Engagements ist.

Islamische Zeitung: In Deutschland hat das Ehrenamt eine lange Tradition. Gibt es Bezugspunkte zwischen den Erkenntnissen und der weiteren Gesellschaft?

Dr. Jörg Imran Schröter: Ich denke, dass in Deutschland neben vielen anderen wichtigen Einrichtungen, wie NGO’s, gerade auch die beiden großen christlichen Kirchen immer noch eine starke Bedeutung für zivilgesellschaftliches und soziales Engagement haben. In meiner Studie unter jungen Muslim*innen zeigt sich, dass von denjenigen, die sich im religiösen Bereich engagieren, weniger als die Hälfte angibt, dabei auch in einem religiösen Projekt beteiligt zu sein. Dies zeigt, dass Engagement in diesem Sektor nicht zwangsläufig auch in einem religiösen Projekt stattfindet.

Wenn dieser Befund so richtig ist, dann heißt das, dass Moscheegemeinden ein Ort des Engagements sind, aber das Engagement dort facettenreicher als „nur“ religiös ist. Das Interesse gilt also nicht allein spezifisch religiösen Themen, sondern gesamt-gesellschaftlich wichtigen Themen. Kirchen und Moscheen könnten damit gemeinsam Orte und Bereiche sein, die aus religiösen Motiven Engagement befördern, aber über das Religiöse hinausweisen und auch für die weitere Gesellschaft relevant sind. Religiosität hätte damit auch eine „gesellschaftlich wünschenswerte Funktion“, wenn man so reden will.

Islamische Zeitung: Lieber Dr. Schröter, Danke für das Gespräch.

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In den Einsatz vor Libyen

BERLIN/TRIPOLIS (GFP.com). Mit der Entsendung der Fregatte „Hamburg“ vor die libysche Küste droht sich der Konflikt zwischen der EU und der Türkei noch weiter zuzuspitzen. Die Fregatte soll im Rahmen der EU-Operation „Irini“ dazu beitragen, den Waffenschmuggel nach Libyen zu verhindern. Über das Mittelmeer gelangen vor allem türkische Rüstungslieferungen in das nordafrikanische Land; Ankara unterstützt dort die Milizen der „Einheitsregierung“ in Tripolis.

Erst kürzlich hat der Versuch einer französischen Fregatte, ein mutmaßlich mit Kriegsgerät beladenes Frachtschiff auf dem Weg nach Libyen zu überprüfen, zu einer gefährlichen Eskalation geführt: Kriegsschiffe der türkischen Marine, die den Frachter eskortierten, richteten ihr Feuerleitradar auf das französische Schiff. Türkische Schiffe haben nicht zuletzt Kriegsgerät aus deutscher Produktion nach Libyen gebracht. Nach heftigen Verwerfungen in dem Land, die einen Kriegseintritt Ägyptens als möglich erscheinen ließen, ist vergangene Woche eine Einigung mit Ankara zur Konfliktbeilegung erzielt worden – nicht von Berlin, sondern von Moskau.

Ägypten droht mit Einmarsch
Im Libyen-Krieg haben zuletzt ägyptische Interventionsdrohungen für neue Verwerfungen gesorgt. Auslöser war der Vormarsch der Milizen der „Einheitsregierung“ in Tripolis, die im Frühjahr mit umfassender militärischer Unterstützung der Türkei die Offensive des ostlibyschen Warlords Khalifa Haftar abwehren konnten und seit Juni vor der Hafenstadt Sirte und der gut 250 Kilometer südlich davon gelegenen Airbase Al Jufra stehen.

Sirte gilt als Tor zu den wichtigen Erdölhäfen östlich der Stadt; vor allem aber gelten Sirte und Al Jufra als strategische Ausgangsstellungen für eine potenzielle Eroberung Ostlibyens durch die Truppen der „Einheitsregierung“. Diese allerdings will Ägypten um jeden Preis verhindern. Ursache ist, dass die „Einheitsregierung“ in Tripolis eng mit der Muslimbruderschaft verflochten ist, dem Erzfeind der in Kairo herrschenden Generäle, die sich im Sommer 2013 mit einem mörderischen Putsch gegen die damalige Regierung der ägyptischen Muslimbrüder an die Macht gebracht haben.

Am 13. Juli hat die politische Struktur um Haftar, das Parlament im ostlibyschen Tobruk, Ägypten offiziell um eine Militärintervention zwecks Abwehr der Truppen der „Einheitsregierung“ gebeten. Am 20. Juli hat das ägyptische Parlament einen möglichen Einmarsch der ägyptischen Streitkräfte in Libyen autorisiert. Ägyptens Präsident Abd al Fattah al Sisi hat zudem in Aussicht gestellt, ostlibysche Stämme für den Kampf gegen die Truppen der „Einheitsregierung“ zu bewaffnen. Damit droht eine unabsehbare weitere Eskalation des Kriegs.

Die Bundeswehr bei „Irini“
In dieser Situation wird in der kommenden Woche die Fregatte „Hamburg“ in den Einsatz vor der libyschen Küste aufbrechen – im Rahmen der EU-Operation „Irini“, die vor allem den Schmuggel von Waffen nach Libyen unterbinden soll. Damit trägt die EU zu den Bemühungen Berlins bei, auf internationaler Ebene eine Führungsrolle bei der Eindämmung des Libyen-Kriegs einzunehmen. In diesem Zusammenhang hatte die Bundesregierung im Januar mit großem Pomp ihre Berliner Libyen-Konferenz zelebriert.

Die Fregatte „Hamburg“ soll mit rund 250 Soldaten Mitte August im Operationsgebiet eintreffen; sie ist unter anderem auf Seeraumkontrolle spezialisiert. Bislang hatte die Bundeswehr lediglich Stabspersonal in das operative Hauptquartier in Rom sowie auf das „Irini“-Flaggschiff entsandt und darüber hinaus ein Seefernaufklärungsflugzeug P-3C Orion zur Verfügung gestellt, das, wegen der Covid-19-Pandemie von seinem Heimatstandort in Nordholz an der Nordseeküste aus operierend, rund 20 Einsatzflüge durchgeführt haben soll.

Die Operation „Irini“, an der sich 23 Staaten beteiligen, dient außer der Verhinderung von Waffenschmuggel auch der Eindämmung illegalen libyschen Erdölexports, der Ausbildung der berüchtigten libyschen Küstenwache sowie dem Kampf gegen unerwünschte Migration über das Mittelmeer nach Europa. Sie wird von dem italienischen Konteradmiral Fabio Agostini geführt; ihr Budget beläuft sich auf 9,8 Millionen Euro.

Vom Feuerleitradar erfasst
Dabei bringt der Einsatz der Fregatte „Hamburg“ gegenüber der bisherigen deutschen Beteiligung an „Irini“ erhebliche Risiken mit sich. Diese ergeben sich vor allem daraus, dass die Türkei die von ihr protegierte „Einheitsregierung“ in Tripolis mit Waffenlieferungen über das Mittelmeer unterstützt. Erst kürzlich hat ein damit verbundener Vorfall vom 10. Juni hohe Wellen geschlagen. An jenem Tag versuchte die griechische Fregatte „Spetsai“ im Rahmen von „Irini“, das Kurs auf Libyen nehmende Frachtschiff „Cirkin“ zu kontrollieren. „Cirkin“ soll bereits Ende Mai schweres Kriegsgerät und syrische Söldner aus der Türkei nach Misrata östlich von Tripolis transportiert haben; die Misrata-Milizen kämpfen an der Seite der „Einheitsregierung“ in Tripolis.

Der Versuch der „Spetsai“, den Frachter zu kontrollieren, scheiterte: Türkische Kriegsschiffe, die das Schiff eskortierten, verhinderten ihn. Noch am selben Tag unternahm die französische Fregatte „Le Courbet“, die im Rahmen der NATO-Operation „Sea Guardian“ im Mittelmeer operierte, einen weiteren Kontrollversuch; er wurde ebenfalls von den türkischen Kriegsschiffen abgewehrt. Diese erfassten dabei die französische Fregatte mehrmals mit ihrem Feuerleitradar – eine Maßnahme, die zur unmittelbaren Vorbereitung von Beschuss erforderlich ist. Paris hat mit wütendem Protest darauf reagiert. Die „Cirkin“ setzte ihre Fahrt fort und traf am 11. Juni in Misrata ein.

Deutsche Waffen in Libyen
Sollte die Fregatte „Hamburg“ ihrerseits versuchen, ein von der türkischen Marine eskortiertes Frachtschiff mit Kurs auf Tripolis oder auf Misrata zu kontrollieren, droht nicht nur eine ähnliche Eskalation. Möglich wäre auch, dass die „Hamburg“ von in Deutschland gebauten Kriegsschiffen an der Kontrolle gehindert wird: Die türkische Marine verfügt über eine Reihe Schnellboote und Fregatten, die von deutschen Werften hergestellt wurden. Nicht auszuschließen wäre zudem, dass die Besatzung der „Hamburg“, sollte es ihr wider Erwarten gelingen, ein von den türkischen Seestreitkräften eskortiertes Frachtschiff zu überprüfen, dort in der Bundesrepublik produzierte Rüstungsgüter vorfände.

Vor kurzem ergaben Medienrecherchen, dass Ende Januar ein türkisches Frachtschiff mutmaßlich Mercedes-Militärfahrzeuge nach Tripolis transportierte. Dies ist durch Videoaufnahmen eines Seemannes aus dem Frachtraum des Schiffes belegt; zudem konnten Journalisten die Fahrzeuge auf Videoaufnahmen von einer Straße unweit des Hafens von Tripolis identifizieren. Darüber hinaus waren laut den Recherchen „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ auch „Militärfahrzeuge des deutschen Konzerns MAN mit an Bord“.

Ziel: Waffenstillstand
Einen Vorfall ähnlich demjenigen zwischen der französischen Fregatte „Le Courbet“ sowie den türkischen Kriegsschiffen könnte die Fregatte „Hamburg“ vermeiden, wenn es gelänge, die weitere Eskalation des Libyen-Kriegs zu verhindern und damit neue türkische Rüstungslieferungen an die „Einheitsregierung“ in Tripolis überflüssig zu machen.

Eine gewisse Hoffnung darauf besteht – allerdings nicht aufgrund deutscher, sondern dank russischer Aktivitäten. Russland unterstützt im Libyen-Krieg den ostlibyschen Warlord Khalifa Haftar, ist allerdings weniger festgelegt als dessen andere Förderer, die Regierungen der Vereinigten Arabischen Emirate und Ägypten, denen es vor allem um einen Sieg über die Muslimbruderschaft geht, da diese ihre Herrschaft in Frage stellt.

Moskau ist es in der gefährlich eskalierenden Lage gelungen, Ankara am 22. Juli auf eine gemeinsame russisch-türkische Erklärung festzulegen. Darin bekräftigen beide Seiten unter anderem, sich für die „Schaffung von Bedingungen für einen dauerhaften und tragfähigen Waffenstillstand“ einzusetzen. Zudem kündigen sie an, den „innerlibyschen politischen Dialog“ fördern zu wollen.

Die Absprache zwischen Russland und der Türkei bietet aktuell die größten Chancen auf eine Eindämmung des Konflikts. Allerdings ist unklar, ob sie Bestand hat: Schon kurz vor der Berliner Libyen-Konferenz hatten Moskau und Ankara ähnliche Bemühungen unternommen, ohne die die Konferenz womöglich gar nicht zustande gekommen wäre; sie scheiterten allerdings schon bald.

Libyen statt Australien
Dass die Fregatte „Hamburg“ vor die libysche Küste entsandt wird, ist nicht Berlins erste Wahl. Ursprünglich war vorgesehen, das Kriegsschiff im Frühjahr zu einer Übungsfahrt in den Indischen Ozean zu entsenden, wo es mit Anrainerstaaten gemeinsame Manöver durchführen und dabei bis nach Australien vorstoßen sollte – ein Vorhaben, das eindeutig gegen China gerichtet war. Die Covid-19-Pandemie und das Scheitern aller bisherigen Bemühungen Berlins in Libyen haben den dortigen Einsatz der Fregatte nötig gemacht.

Asien: Opferfest mit massiven Einschränkungen

Bangkok (KNA). Wegen der Corona-Pandemie können Asiens Muslime das Opferfest an diesem Freitag nur mit großen Einschränkungen begehen. Zu dem Eid-al-Adha genannten Fest erinnern Muslime weltweit an die Bereitschaft des Stammvaters Abrahams, Gottes Gebot zu gehorchen und ihm seinen einzigen Sohn zu opfern. Die Feiern, die in diesem Jahr auf den 31. Juli fallen, gelten dem höchsten islamischen Feiertag.

Normalerweise opfern die rund 600 Millionen Muslime in Südasien zu Eid-al-Adha Millionen Ziegen, Schafen und Rindern. Die Behörden in den mehrheitlich islamischen Ländern Bangladesch und Pakistan appellierten an die Gläubigen, die Opfertiere in diesem Jahr nur online zu kaufen. So soll eine weitere Ausbreitung des Virus durch den erwarteten Massenandrang auf den Viehmärkten verhindert werden.

Pakistans Ministerpräsident Imran Khan rief in dieser Woche dazu auf, bei den religiösen Feiern die Corona-Regeln strikt einzuhalten. Er warnte vor einer zweiten Infektionswelle wie in Australien, Spanien und im Iran. Erstmals seit Ausbruch der Pandemie sei die Zahl der Neuinfektionen in Pakistan seit 2. Juli stark rückläufig.

In Bangladesch befürchten die Behörden eine Zunahme der Corona-Infektionen durch den üblichen Massenexodus aus den Städten. Allein aus der Hauptstadt Dhaka reisen normalerweise mehr als eine halbe Million Menschen zum Opferfest in die Provinzen. In den viel genutzten Zügen werde daher die Sitzplatzkapazität halbiert, teilte Verkehrsminister Nurul Islam Sujan (Donnerstag) mit. Alle Züge würden desinfiziert.

Auch in Südostasien gelten wegen der Pandemie massive Einschränkungen für die Feiern. Indonesiens Religionsminister Fachrul Razi kündigte in dieser Woche an, es werde in diesem Jahr keine Eid-al-Adha-Gebete in der Istiqlal-Moschee in Jakarta geben. Mit einer Kapazität für 200.000 Besuchern gilt sie als größtes muslimisches Gotteshaus in Südostasien. Der Rat der Ulemas als höchste theologische Instanz des indonesischen Islam forderte die Gläubigen auf, sich während der Feiertage strikt an die Corona-Präventionsregeln zu halten.

Im mehrheitlich islamischen Malaysia kündigte Verteidigungsminister Ismail Sabri Yaakob an, die Polizei werde die Einhaltung der Corona-Regeln während der Feiertage strikt durchsetzen. Das gelte insbesondere auch für die Obergrenze von 20 Besuchern für Moscheen.

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In Bewegung bleiben

(iz). In Deutschland gehört das Ehrenamt zu den Dingen, bei dem sich die Bundesbürger über alle Grenzen hinweg einig sind. 2019 haben sich rund 15,9 Millionen unentgeltlich und in ihrer […]

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Wie sollen wir uns engagieren?

(iz). Betroffen von Themen wie NSU, antimuslimische Diskriminierung, Rassismus und (wie in den letzten Wochen) Black Lives Matter wird das Gespräch in der muslimischen Gemeinschaft in erheblichem Maße durch eine aktivistische Rhetorik dominiert. Sie setzt derzeit nicht nur eine Agenda, sondern formuliert gleich die Antworten. Andere, für Muslime relevante Elemente wie die essenzielle Lehre des Islam sowie die Gemeinschaft respektive ihre Führungen sind in Hinblick auf ihre Relevanz weniger hörbar.

Nicht nur in Deutschland, sondern für viele Gemeinschaften im Westen hat diese Entwicklung Wirkungen gehabt: a) den Prozess der Säkularisierung beschleunigt und b) das Göttliche aus Theorie und Praxis verbannt. Eine weitere Folge ist die Veränderung des muslimischen Selbstverständnisses – von einer Gemeinschaft, die sich in der Anbetung Allahs findet, hin zu einem Kollektiv, das über die verschiedenen, weltlichen ­Parameter des Aktivismus verstanden wird.

Leenah Safi hat ihren Bachelor in den islamischen Wissenschaften am US-amerikanischen Zaytuna College gemacht und arbeitet heute als Seelsorgerin für Krankenhäuser und StudentInnen im Bundesstaat Michigan. Für sie sei Aktivismus zu einem „Rahmen geworden, durch den viele die Welt verstehen“. Allerdings sei er häufig auf Vorbereitung und Ausführung bestimmter äußerlicher Handlungen beschränkt. „Während die Teilnahme an solchen Protestformen ein nötiges Gut für die muslimische Gemeinschaft ist, können sie nicht der einzige Weg sein, durch den wir definieren, was das Engagement für Gerechtigkeit bedeutet. Muslime, die für soziale Gerechtigkeit arbeiten, müssen sich zuerst und vor allem ihrem spirituellen Wachstum widmen. Andernfalls riskieren die Beteiligten und ihre Absichten Schaden“, schreibt Safi.

Zusätzlich sieht Safi die Gefahr, einer dem Aktivismus innewohnenden Säkularisierung. „Muslim zu sein, wurde zu einer Identitätsmarkierung wie viele ­andere.“ Sie hat ihre vertikale Bedeutung der Zugehörigkeit zum Göttlichen ­verloren. Sei eine Person durch diese ­ver­tikale Wirklichkeit verwurzelt, werde sie auch in ihrem horizontalen Aspekt mit Fokus und Inspiration nach vorne katapultiert.

Darüber hinaus seien wir durch das prophetische Phänomen nicht nur zum Kampf gegen ungerechte und ungesunde Verhältnisse aufgerufen. Vielmehr müssten wir am Aufbau gesunder und gerechter Gemeinschaften arbeiten. Mit der richtigen Einstellung verfeinere diese ­Arbeit den Charakter, wenn die betroffene Person eine Verbindung zum persönlichen Wachstum zulasse. „Das war der Ansatz unseres geliebten Propheten, der in den Augen von Muslimen und Nichtmuslimen gleichermaßen unvergleichbar in seiner positiven Wirkung auf die Geschichte war.“

Für den muslimischen Gelehrten Imam Zaid Shakir lasse sich der Gegensatz überwinden, wenn wir uns in einen anderen konzeptionellen Bereich bewegen. Für ihn wird die aktivistische Sphäre durch Vernunft definiert. Damit solle aber nicht ihre Möglichkeit geleugnet werden, die diese nicht nur im Verständnis vom Religiösen, sondern auch unserer eigentlichen Welt spielen könne. „Of­fenbarung stellt jedoch den Rahmen, in dem die Vernunft operiert“, schreibt der Imam.

Zur Überwindung dieser Dialektik hat sein ebenfalls US-amerikanischer Kollege Dawud Walid einen kompakten Band über „heiligen Aktivismus“ geschrieben. In seinem Band geht es weder darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Noch fordert er eine religiös begründete Passivität gegenüber den Dingen der Welt – insbesondere angesichts von greifbaren Ungerechtigkeiten. Vielmehr wolle er den Rahmen formulieren, in dem das Heilige und Aktivismus harmonisieren können.

Imam Zaid Shakir seinerseits betont die Anerkennung der zentralen Rolle ­Allahs in den menschlichen Angelegenheiten. Diese sei wesentlich für die Verwirklichung eines solchen Engagements für Gerechtigkeit in der Welt. „Die Anerkennung erlaubt uns, dass nichts unabhängig vom Wissen, Willen und der Macht Allahs besteht.“ Das sei wichtig für alle engagierten Muslime. Denn er/sie sowie seine/ihre Taten seien eine Manifestation des göttlichen Willens in der Welt. „Die Erkenntnis ist einer der ersten Schritte zu einem heiligen Aktivismus. Dieser verleiht ihrem/ihrer Inhaber/in ein Tauhid-Bewusstsein sowie ein Gefühl für den Zweck, der sie motiviert, Wissen davon zu erlangen, dass der göttliche Wille unser Handeln bestimmt.“

Dawud Walids Überlegungen zielen nicht nur auf bloße Kritik oder abstrakte Analyse ab. Er hat sein Buch „Towards a Sacred Activism“ als Ratgeber und ­Hilfestellung für praktizierende Muslime geschrieben, die sich für Gerechtigkeit engagieren wollen. Unzählige Ratgeber und Artikel behandeln derzeit die ­Notwendigkeit der Selbstfürsorge (engl. self-care) für aktive Menschen. Von Sozialarbeitern, über Menschen im Gesundheitssystem und darüber hinaus – die ­Bedeutung, das eigene Wohlbefinden im Blick zu haben, gilt als Mittel zur ­Verbesserung körperlicher Gesundheit und der persönlichen Beziehungen. Diese Eigensorge soll helfen, mit den Folgen emotionaler Verletzungen durch stressige Situationen fertig zu werden.

„Fürsorge für sich selbst ist ebenfalls wichtig für religiöse Führer und Muslime, die sich engagieren. Genauso wie die richtigen Mengen Schlaf, gesunde Ernährungsgewohnheiten und Bewegung wesentlich für die Erhaltung angemessener körperlicher Gesundheit sind, sind Schritte zur Verbesserung des spirituellen Wohlbefindens nötig für das menschliche Wesen“, schreibt Walid.

Daher sollten MuslimInnen, die sich engagieren wollen, Gewohnheiten zum Wachstum geistiger Gesundheit entwickeln. Angesichts der belastenden Natur der westlichen Welt nach dem 11. September 2001 und ihrer Spannungen und Dramen in aktivistischen Räumen sei das umso wichtiger. „Es ist unwahrscheinlich, dass gebrochene Personen bei der ­Heilung kranker Gesellschaften viel erreichen können.“ Dawud Walid formuliert eine ganze Reihe an praktischen Aspekten, die muslimischen AktivistInnen helfen sollen:

1. Die täglichen fünf Gebete vollziehen und sich zu bemühen, dies in ihren festgesetzten Zeiten zu tun. Danach kommen die freiwilligen Gebete, die mit den verpflichteten verbunden sind. „Unsere grundsätzliche Verbindung zum Schöpfer findet durch sie statt.“

2. Wichtig ist Gesellschaft mit den aufrichtigen Leuten im Islam, die sich um die Verbesserung ihrer selbst bemühen. Einer der positivsten Effekte für den ­eigenen spirituellen Zustand ist die ­Gesellschaft (arab. subh) mit dem Umfeld. In vielen Fällen könne dies für die AktivistInnen bedeuten, dass man nicht mehr mit spezifischen Personen außerhalb von Arbeit oder dem sozialen Engagement in Verbindung stehe. Der ­Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Einsamkeit ist ­besser als schlechte Gesellschaft. Und rechtschaffener Umgang ist besser als ­Alleinsein.“

3. Annahme eines spirituellen Leiters oder Mentors. Ein Teil vom Zerbrechen des Egos geschieht in einer traditionellen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Das Selbst neigt zur Eigentäuschung. ­Daher ist eine solche Rechtleitung notwendig, um den Prozess der eigenen Vervollkommnung zu ermöglichen. In der Sure Al-Kahf erfahren wir, dass selbst die aufrichtigsten Personen wie Musa, Friede sei mit ihm, die Führung von Al-Khidr benötigte, bevor er Pharao begegnen konnte.

4. Eine Litanei für die tägliche Re­zitation und Reflexion – insbesondere in den Zeiten des Morgen- und Abend­gebets. Spirituelle Führer können eine solche empfehlen.

5. AktivistInnen sollten versuchen, sich an der strukturierten Aneignung von islamischem Wissen zu beteiligen. Sollte es lokal keine Klassen geben, die in den Tagesablauf von Arbeit und Familie passen, dann geht dies zumindest online. „Meine Meinung“, so Imam Dawud ­Walid, „ist, dass jeder engagierte Muslime nach grundlegendem Wissen von der Glaubenslehre (arab. ‘aqida) und den Fundamenten des islamischen Rechts (arab. usul al-fiqh) streben muss“.

6. Allah, den Allerhöchsten, zu bitten und auch regelmäßig um Segen für den Propheten zu beten, möge Allah ihn ­segnen und ihm Frieden geben. Beides sind Mittel der Suche nach Hilfe und Ruhe in Zeitung von Unordnung und Verwirrung. Allah sagt in Seinem Edlen Qur’an: „Wahrlich, in der Erinnerung an Allah finden die Herzen Ruhe.“ (Al-Ra’d, Sure 13, 28)

7. Man müsse dem Drang widerstehen, auf jedes umstrittene Ereignis zu reagieren, das in das eigene Blickfeld gerate – ganz besonders, wenn man sich empört fühle. „Es gibt eine Zeit fürs Reden, eine Zeit zum Schweigen.“ Weisheit bestehe darin, zu wissen, wann was angebracht sei. Einmal bat ein Mann den Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, um einen Ratschlag. Er sagte drei Mal: „Werde nicht wütend.“ Das heißt, nicht reagieren auf Grundlage von Ärger.

8. Erinnern wir uns daran, dass der Ausgang der Dinge bei Allah, dem Allmächtigen und Erhabenen, liegt. Sich auf die beste Weise zu bemühen und die Ergebnisse Allah zu übergeben, hilft dabei, einen großen Teil von Enttäuschung und Verzweiflung zu vermeiden. Weder wir noch irgendjemand anderes ist der endgültige Bestimmer davon, ob sich etwas manifestiert oder nicht. Eine Erinnerung daran ist die Überlieferung (arab. hadith), in dem ein Mann zum Propheten kam, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben. Er fragte ihn: „O Gesandter Allahs, soll ich sie (die Kamelstute) anbinden und vertrauen (dass Allah sie beschützen wird) oder sie nicht anbinden, aber (auf Allah) vertrauen?“ Der Gesandte Allahs antwortete: „Binde sie an und vertraue (auf Allah).“

Allah sagt in Seinem Qur’an: „Wer nun auf die Begegnung mit seinem Herrn hofft, der soll rechtschaffen handeln und beim Dienst an seinem Herrn (Ihm) niemanden beigesellen.“ (Al-Kahf, Sure 18, 110)

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Neues über den politischen Islam?

(iz). Die Debatte über den sogenannten politischen Islam nimmt an Fahrt auf. Das Thema wird europaweit diskutiert. In Frankreich hat der Senat 44 Vorschläge zur Bekämpfung politisierter Muslime veröffentlicht und […]

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Die Täter kommen aus allen Schichten

(iz). Ob ein dummer Spruch, ein verweigerter Praktikumsplatz oder gezieltes Anrempeln – antimuslimische Diskriminierung kann verschiedene Formen annehmen. Ausgeübt wird sie nicht nur von Rechten und anderen Hassern, sondern auch von Menschen, die sich als fortschrittlich oder gar antirassistisch begreifen.

Hierzu sprachen wir mit drei Vertreterinnen des Berliner Vereins Inssan e.V. Er hat vor Kurzem eine Studie zum Stand der antimuslimischen ­Diskriminierung veröffentlicht. Die Rechtsanwältin Zeynep Çetin hat im Netzwerk Diskriminierung die Projektleitung inne. Isabell Winter ist ­Sozialarbeiterin sowie Religions- und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen ­Empowerment-Training, Öffentlichkeitsarbeit und Social-Media, Falldokumentation sowie Auswertung und Netzwerkarbeit. Die Soziologin May Zeidani Yufanyi ist Projekt­­ko­ordinatorin für Empowerment, Falldokumentation und Auswertung sowie Netzwerkarbeit.

Islamische Zeitung: Sie haben jüngst einen Bericht zum Thema veröffentlicht. Was ist Inssan e.V. und wie beschäftigt sich der Verein mit antimuslimischer ­Diskriminierung?

Zeynep Çetin: Inssan e.V. ist ein muslimischer Träger, der nicht nur das Projekt Netzwerk gegen Diskriminierung und Islamfeindlichkeit führt, sondern auch weitere andere Projekte im Themenfeld Rassismus sowie in der ­Sozialen Arbeit. Der Träger ist seit 2002 aktiv beziehungsweise der Verein wurde 2002 gegründet, und die Projekte kamen dann mit der Zeit.

Das älteste Projekt ist dabei das Netzwerk, das ich leite. Es ist eine spezifische Anlaufstelle für MuslimInnen, die von antimuslimischem Rassismus betroffen sind und Diskriminierungserfahrungen machen, aber auch für Menschen, die als Muslime gelesen werden. Es wird von der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung gefördert. Es ist ein lokales Projekt, sprich eine Anlaufstelle für in Berlin ­lebende MuslimInnen, aber hat eine bundesweite Ausstrahlung.

Islamische Zeitung: Wie haben sich die Zahlen der antimuslimischen Übergriffe im Vergleichszeitraum geändert? Welche Kategorien von Übergriffen haben Sie aufgezeichnet und welche sind derzeit dominant?

Isabell Winter: Eine wichtige Kategorie sind sowohl die Arbeitssuche als Diskriminierung am Arbeitsplatz sowie Dinge wie ein freiwilliges Praktikum, die in diesen Bereich fallen. Bildung ist ganz wichtig. Und online ist eine Sache der neueren Kategorien. Der soziale Nahraum ist eigentlich fast immer die am häufigsten vertretene Kategorie. Das ist einfach irgendwie auf der Straße, an der Bushaltestelle – überall, wo man sich am Tag bewegt. Diese Kategorie war über die Jahre hinweg immer am stärksten vertreten. Gefolgt wird sie von Er­fahrungen im Bereich Güter und Dienstleistungen.

Islamische Zeitung: In einem Nebensatz des Dokuments wird erwähnt, dass vorrangig die Mehrzahl der Menschen, die diese Art von Übergriffen und Diskriminierung erleben, Mus­limische Frauen sind. Was sind die Gründe dafür? Und was sind die ­Folgen dieser Diskriminierung?

Isabell Winter: Zuerst einmal kann man davon ausgehen, dass es sich hier um Musliminnen mit Kopftuch handelt, die als solche erkennbar sind. Das ist einfach eine Sache, die eine große Rolle spielt. Hinzu kommt, dass mus­limische Frauen meistens als „unterdrückt“, „unterwürfig“ oder auch als „dumm“ stigmatisiert und konstruiert werden. Da ist die Hemmschwelle nicht so hoch, um Angriffe zu starten oder dumme Kommentare von sich zu geben. Dieses Zusammenspiel von Frau und muslimisch ist meistens der Grund. Dazu lässt sich auch sagen, dass Frauen aus unserer Erfahrung heraus oft ­zugänglicher sind und sich bei diesem Thema melden. Männer tendieren dazu, dass sie Übergriffe oft wegstecken ­möchten.

Islamische Zeitung: Gibt es hier eine Möglichkeit des Eingreifens von Muslimen auf kollektiver Seite?

Zeynep Çetin: Die von Politikern oder in staatlichen Einrichtungen permanent geführte Diskussion zu Fragen wie gesetzlichen Kopftuchverboten in Schule, Kita und Justiz münden in einer negativen Stigmatisierung des Kopftuchs. Und dass führt dann auch zu einer Stigmatisierung sämtlicher MuslimInnen. Das ist unabhängig davon, wie und ob sie ihren muslimischen Glauben praktiziert. Diese Projizierung überträgt sich in andere ­Debatten, wo diese Themen immer aufgekocht werden und gerade auch das Problembewusstsein für antimuslimischen Rassismus beeinträchtigt.

Einer unserer Ansätze ist ja nicht nur der einer Monitoringstelle. Es geht uns auch darum, die Betroffenen durch ­Beratung zu stärken.

Isabell Winter: Wir sehen beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt ganz viele, gut qualifizierte Frauen, die sich mit Kopftuch bewerben. Ihnen wird dann gesagt: Ja super, aber nur wenn du das Kopftuch abmachst; quasi als Normalzustand.

May Zeidani Yufanyi: Das hören die Betroffenen auch von Frauen, die sich selbst als Feministinnen bezeichnen. Diese sagen: Ich unterstütze keine Unterdrückung von Frauen. Mit der Folge, dass sie diesen Frauen keine Arbeit geben. Diese Argumentation ist zwar nicht schlüssig, funktioniert leider aber trotzdem so.

Zeynep Çetin: Auch die Auswir­kungen von gesetzlichen Kopftuchverboten auf dem privaten Arbeitsmarkt sind vorhanden. Hier nehmen sich ­Arbeitgeber die Nichteinstellung durch den Staat zum Vorbild. Als Pendant zur staatlichen Neutralität wird dann eine betriebliche eingeführt. So wird eine Seite gefördert und die eine andere ­ausgeschlossen.

Islamische Zeitung: Lässt sich eigentlich bei der Erfassung dieser Diskriminierung etwas über die Täter sagen? Gibt es ein eindeutiges Profil?

May Zeidani Yufanyi: Wir fokussieren uns zuerst auf die Betroffenen und die Community. Darauf verwenden wir unsere Arbeit. Aber man kann schon sagen, dass es kein einheitliches Profil gibt, welches auf alle Täter passen würde. Es fängt von Betrunkenen und Obdachlosen an und reicht bis hin zu Anwäl­tinnen, ÄrztInnen, Lehrerinnen, der Schulleitung etc. Es zieht sich durch das gesamte Klassensystem. Frauen, Männer und sogar sich selbst als links verstehende PolitikerInnen usw. Wirklich, es sind wirklich alle Kategorien vertreten.

Zeynep Çetin: Ich möchte gerne anmerken, dass wir keine Phantombilder im Büro haben, und dass wir keine Täterprofil erstellen. Darin liegt nicht der Fokus unserer Beratungsarbeit. Wir möchten den Tätern gar nicht so viel Raum bieten.

Was wir definitiv auch noch unterstreichen möchten, weil wir auch sehr oft danach gefragt werden: Der Anstieg der Fallzahlen ging mit dem Anstieg des Rechtspopulismus der letzten Jahre ­einher.

Wir müssen uns aber unbedingt bewusst werden, dass antimuslimischer Rassismus kein Phänomen ist, welches ausschließlich rechter Gesinnung zuzuordnen ist. Die Phänomene durchziehen alle Bevölkerungsgruppen, was viele Studien belegt haben. Viele repräsentative Umfragen in den letzten Jahren zeigen, dass in Teilen der breiten Gesellschaft auch diese negativen Einstellungen ­gegenüber MuslimInnen vorhanden sind. Das macht sich dann auch in den ­Diskriminierungserfahrungen fest. Wir versuchen auch in der Datenerfassung den Ort festzuhalten. Es lässt sich sagen, dass, wo Menschen viel zusammenkommen, auch mehr geschieht.

May Zeidani Yufanyi: Unsere Arbeit wird auch erschwert. Wir müssen sowohl unsere Mitbürger in der Mehrheitsgesellschaft davon überzeugen, dass es tatsächlich ein echtes Phänomen gibt, als auch uns selbst. Musliminnen sind manchmal überzeugt, dass es legitim sei, diskriminiert zu werden. Ich habe häufig von jungen Frauen gehört, die gerade ihren Abschluss gemacht haben, und als erstes bei einer Bewerbung fragen, ob Frauen mit Kopftuch angenommen werden, obwohl es ihr Recht ist, sich auf diese Arbeitsstelle zu bewerben und diese Arbeit zu bekommen. Sie wollen ihr Leben beginnen und nicht noch einmal von Diskriminierung betroffen werden. Das wird als normal angenommen.

Und da versuchen wir, einen unserer Schwerpunkte zu setzen. Indem wir die Communities sensibilisieren und klarstellen, dass Diskriminierung in einem demokratischen System keine Norma­lität sein soll. Ja, dass diese bekämpft werden kann. Dass Meldungen abgegeben werden sollen. Und dass Klagen tatsächlich normal und gerecht sind.

Isabell Winter: Ich möchte auch auf das fehlende Bewusstsein verweisen. Dazu gehört auch der klassische Satz: Ich bin doch kein Rassist oder Rassistin oder so. Wir sind noch lange nicht da angekommen, wo klar ist, dass man auch rassistisch sprechen oder sich rassistisch verhalten kann, ohne dass man überzeugte/r AfD-WählerIn an sich ist. Man muss kein Porträt von Hitler an der Wand haben, um solche Dinge zu sagen. Das ist eine Erkenntnis, die uns weiterbringen würde, wenn sie verbreiteterer in der Gesellschaft wäre.

Die Leute meinen es manchmal sogar gut oder sie wollen manchmal auch was Nettes sagen, und trotzdem ist es total diskriminierend oder antimuslimischer Rassismus.

Islamische Zeitung: Jetzt hat der Berliner Senat das Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) beschlossen. Haben Sie darüber hinaus noch konkrete Forderungen sowohl an die Politik als auch an den Staat?

Zeynep Çetin: Wir haben die Forderung, dass antimuslimischer Rassismus als Problem klar benannt wird und dann auch bekämpft werden muss. Das ­fordern wir anhand der Erkenntnisse unserer Netzwerkarbeit. Eine unserer konkreten Forderungen ist der Ausbau der Beschwerde- und Beratungsstruktur. Aus unserer langjährigen Arbeit seit 2010 haben wir festgestellt, dass es nicht sein kann, dass eine spezifische Anlaufstelle nur mit einer Fördersumme von XY und zwei halben Stellen gefördert wird. Es braucht definitiv einen Ausbau dieser Beratungsstruktur, um die Lücke in dieser zu schließen. Wir haben natürlich durch unsere Dokumentationsarbeit die Forderung nach einer Monitoringstelle, die es bisher nicht gibt, um die Fallzahlen sichtbarer machen zu können und durch sie weitergehende Forderungen stellen zu können. Im Rahmen der CLAIM Allianz, bei der wir auch mitmachen, gibt es die Forderung zur Schaffung einer unabhängigen Expertenkommission. Diese braucht es auch in Berlin. Sie sollte dann auch einen Maßnahmenplan entwickeln. Das ist für bestimmte Teile bereits in Vorbereitung.

May Zeidani Yufanyi: Außerdem finden wir, dass Antirassismusarbeit eine größere Verstetigung braucht. Das hieße, nicht zwei bis drei Jahre neue Gelder zu beantragen, sondern dass wir echte Strukturförderungen bekommen. Man kann nicht denken, dass sich das Problem Rassismus durch jahrelange Arbeit lösen ließe. Das ist eine gesellschaftliche Idee, die nicht begriffen hat, wie dieser funktioniert. Rassismus ist strukturell verankert und Antirassismusarbeit muss auch strukturell verankert sein, damit wir das wirklich bekämpfen können.

Islamische Zeitung: In den USA ­unterhalten Muslime auf Dauer angelegte und selbst finanzierte Monitoring- und Lobbygruppen, die anders als in Deutschland kaum von äußeren Mitteln abhängig sind. Wäre es für Sie eine konkrete Forderung an die hiesigen Muslime, selber so etwas auf die Beine zu stellen?

May Zeidani Yufanyi: Ich glaube, es braucht beides. Es braucht auch das Verständnis durch den Staat. Und dass unsere Arbeit den Staat verbessert. Wir arbeiten, um die deutsche Gesellschaft zu verbessern. Wir arbeiten nicht, um uns selbst das Leben zu erleichtern.

Auf der anderen Seite finde ich es auch sehr wichtig, wenn die Community begreift, wie schwierig und wie wichtig das ist. Die Einrichtung einer unabhängigen Institution wäre natürlich sehr gut. Deutschland hat immer noch Hemmungen vor Institutionen in der muslimischen Community.

Isabell Winter: Was man auch sagen kann: Es ist einfach auch dafür vonnöten, dass die Community erstmal ­sensibilisiert ist und empowert ist. Wenn ganz viele MuslimInnen gar nicht sehen, dass das Diskriminierung ist, dann sieht auch die Mehrheit keinen Sinn hinter einer solchen Stelle.

Was im Einzelnen auch jede und jeder Einzelne tun kann, ist zum Beispiel ganz einfach: Diskriminierung melden. Wir haben diesen Meldelink: inssan.de/meldung. Heute hat jeder ein Smartphone. Wenn etwas passiert, einfach sofort über den Link melden. Das ist schon ein ­kleiner Schritt für einen selbst, aber er macht sehr viel aus. Es ist einfach, sich über dieses Thema zu informieren. Es ist leider ein Teil unserer Realität, sich damit auseinanderzusetzen.

Islamische Zeitung: Liebe Zeyneb Çetin, liebe May Zeidani Yufanyi und liebe Isabell Winter, wir bedanken uns für das Gespräch.

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„Umwidmungen wie Hagia Sophia historisch kein Einzelfall“

Münster (exc) Die Umwidmung religiös und politisch aufgeladener Gebäude wie die der Hagia Sophia in Istanbul ist aus historischer Sicht seit der Antike kein neues Phänomen. „Vorgeschichte und Kontext solcher Umwandlungen sind dabei stets Veränderungen der Machtverhältnisse und der Wunsch, diese deutlich sichtbar zu machen“, schreiben die Judaistinnen Prof. Dr. Katrin Kogman-Appel und Franziska Kleybolte vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU.

Über Epochen, Religionen und Regionen hinweg lasse sich eine Vielzahl solcher Fälle finden. „Architektur und Bildsprache ritueller Räume haben ein großes Potential, Identität auszudrücken und sich damit von anderen Gruppen abzusetzen“, erläutern die Wissenschaftlerinnen in ihrem Dossier-Beitrag Die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee.

Ein Ereignis mit historischen Parallelen, der im Cluster-Web Beispiele aus Antike, Mittelalter und Gegenwart aufzeigt. Sie erforschen das Phänomen am Beispiel mittelalterlicher Gebäude im heutigen Spanien im Vergleich der Religionen und Regionen. „Auf der Iberischen Halbinsel ereigneten sich Appropriationen in Folge von Eroberungen, massenhaften Zwangstaufen und Vertreibungen jüdischer und muslimischer Minderheiten.“

Diese mittelalterlichen Umwandlungen von Synagogen in Kirchen seien „Akte der Machtübernahme“ gewesen, die „den Triumph der Kirche über das Judentum“ ausdrücken sollten, so Kogman-Appel und Kleybolte. Die Bildsprache der Gebäude wurde religiös umgedeutet, neue Kunstwerke etwa antijüdischen Inhalts aufgestellt und Baumaterial der Synagogen wiederverwendet. „Den Eroberten, so sie noch am Ort lebten, führte dies ihre Niederlage nur zu deutlich vor Augen.“ Aber auch wirtschaftliche Motive spielten eine Rolle, denn meist verlor die jüdische Gemeinde mit der Synagoge auch den gesamten öffentlichen und privaten Besitz.

Sterbliche Überreste entfernen, Wände übertünchen

Man weiß wenig über Umweihungsrituale, wie die Judaistinnen ausführen, doch seien die Umwidmungen als „Reinigung“ verstanden worden. Viele Kirchen wurden Maria, der Reinen, geweiht. „In Rothenburg o.d.T. etwa wurde bei der Umwandlung 1519 darauf geachtet, dass sich keine sterblichen Überreste eines Juden mehr am Ort finden und die Tünche von der Wand abgeschlagen und neu gestrichen wurde, um alles ‘Jüdische’ aus den Mauern zu vertreiben.“ Ein ähnlicher Schritt erfolgte bei der Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee nach der Osmanischen Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453. „Auch sie wurde ‚gereinigt‘, die byzantinischen Mosaiken übertünchte man weiß, um der koranischen Zurückhaltung Bildern gegenüber zu folgen.“

Mit Blick auf die Gegenwart schreiben die Forscherinnen: „Bei der Übernahme, Weiterverwendung und Umwandlung von religiös und politisch aufgeladenem Raum, handelt es sich keineswegs um einen Einzelfall – weder innerhalb der Türkei noch in der longue durée betrachtet: So wurde 2011 im türkischen Iznik ein Museum – ehemals eine Moschee ­– wieder in eine solche umgewandelt; gleiches wurde 2013 für das türkische Trabzon überlegt; und auch in der Geschichte ist es seit der Antike ein Phänomen, welches sich über Epochen, Religionen, und Regionen hinweg immer wieder finden lässt.“ Das Forschungsprojekt aus dem Fach Jüdische Studien am Exzellenzcluster trägt den Titel „Gebäude wechseln ihre Identität.

Iberien 709–1611“. Vorangegangen war in der ersten Förderphase das Projekt Spätantike Heiligtumszerstörungen des Althistorikers Prof. Dr. Johannes Hahn.