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„Die Aufnahme ist wichtiger als die Tat an sich“

Wie plant und handelt ein antisemitisch und rassistisch motivierter Terrorist? Am ersten Verhandlungstag gab der mutmaßliche Attentäter von Halle vor dem Landgericht Magdeburg Einblicke in seine Sicht auf die Tat. Von Gregor Krumpholz

Magdeburg (KNA). Das Attentat am 9. Oktober 2019 hatte international Aufsehen erregt: An Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, hatte ein Bewaffneter versucht, die Synagoge von Halle/Saale zu stürmen, um die dort versammelten 52 Teilnehmer eines Gottesdienstes zu töten. Es gelang dem Mann trotz seiner acht Schusswaffen und mehrerer Sprengkörper zwar nicht, weil die massive Tür seinem Sprengversuch standhielt. Doch bis ihn die Polizei später stoppen konnte, starben eine Passantin und einer der Gäste eines nahe gelegenen Döner-Imbisses. Weitere Menschen wurden teilweise schwer verletzt.

In seiner Anklage brachte der Vertreter des Generalbundesanwalts, der den Fall wegen der besonderen Schwere an sich gezogen hatte, denn auch ein langes Register an Straftatbeständen vor: Es reichte von Mord in zwei Fällen, versuchtem Mord in 68 Fällen sowie gefährlicher Körperverletzung bis zu räuberischer Erpressung und Volksverhetzung. Falls das Gericht dem folgt, droht dem angeklagten Stephan B. lebenslange Haft und anschließende Sicherungsverwahrung. Bis zur Entscheidung sind 18 Verhandlungstage am Landgericht Magdeburg angesetzt, zu denen das zuständige Oberlandesgericht Naumburg 43 Nebenkläger zugelassen hat.

Am ersten Verhandlungstag hatte der Angeklagte aus Benndorf (Landkreis Mansfeld-Südharz) die Gelegenheit, sein Leben und seinen Weg zu seiner mutmaßlichen Tat detailliert darzulegen. Auf die Fragen der Vorsitzenden Richterin Ursula Mertens zu seinen familiären Verhältnissen ging der 28-Jährige zunächst nur unwillig und knapp ein. Dennoch ergab sich das Bild eines zeitlebens isolierten Einzelgängers, der nach einem abgebrochenen Studium ein finanziell prekäres Leben im Kinderzimmer seiner Eltern fristete und engere Kontakte nur mit ihnen und seiner Schwester hatte.

In der Flüchtlingszuwanderung von 2015 fand B. nach eigenem Bekunden endgültig den vermeintlichen Grund, warum er „aus der Gesellschaft rausgerutscht“ sei. Seine Versuche, seine Sicht einer „Invasion“ von „Muslimen und Negern“ zu entfalten, unterband Richterin Mertens mit der Drohung, den Angeklagten im Falle von „menschenverachtenden Äußerungen“ von der Verhandlung auszuschließen. Auch so wurde immer wieder deutlich, wie sehr der Hass auf Zuwanderer sein Handeln leitete. B. soll sich über das Internet informiert und radikalisiert haben.

Bis auf ein einschüssiges Gewehr, dass B. über das Internet kaufte, baute er seine Schusswaffen nach eigener Aussage unter anderem mit Hilfe eines 3-D-Druckers selbst und mischte die Sprengkörper aus Chemikalien zusammen. Dass es daher zu Blockaden seiner Schusswaffen und einer vergleichsweise schwachen Explosionen kam, bedauert er nach eigenem Bekunden bis heute: „Ich habe mich global in unglaublichem Maße lächerlich gemacht.“

Er bezog sich damit darauf, dass die Taten per Handykamera gefilmt und live im Internet gestreamt wurden. „Die Aufnahme ist wichtiger als die Tat an sich“, erklärte der Angeklagte. Er verwies darauf, dass er sich nach dem ebenfalls im Internet gestreamten anti-muslimischen Anschlag vom 15. März 2019 im neuseeländischen Christchurch endgültig zu der Tat entschieden habe. Während des Angriffs hatte er auch Links zu Dokumenten versendet, in denen er seine Motivation und seinen Tatplan schilderte und dazu aufrief, alle Juden zu töten. Seinen nach eigenem Bekunden erst allmählich entstandenen Hass auch auf die Juden begründete B. damit, dass sie „die Hauptursache am Genozid der Weißen“ seien.

Mehrfach stellte Richterin Mertens dem Angeklagten die Frage, ob er nicht Mitleid besonders mit den Opfern gehabt habe, die weder Juden noch Muslime gewesen seien. „Ich bereue es auf jeden Fall“, räumte B. mit Blick auf die Passantin ein, die seine Schüsse als erstes töteten. Zur Erklärung seiner „Kurzschlussreaktion“ führte er an, dass sie ihn „angeschnauzt“ habe, als er vergeblich in die Synagoge eindringen wollte. Wenn er nicht geschossen hätte, dann hätte es geheißen, „dass ein dummer Kommentar reicht, um einen Rechten zu stoppen“, rechtfertigte sich B. erneut unter Hinweis auf mögliche Reaktionen in den Sozialen Medien.

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Hunger könnte durch Pandemie steigen

Rom (wfp.org/iz). Ein aktueller UN-Bericht warnt, dass aufgrund der Folgen der COVID-19-Pandemie in den kommenden Monaten Menschen in rund 25 Ländern verheerendem Hunger ausgesetzt sein werden. Während die größte Not in Afrika besteht, sind auch Länder in Lateinamerika und der Karibik sowie im Nahen Osten und in Asien – darunter Länder mittleren Einkommens – von lähmendem Hunger betroffen. Dies geht aus der Frühwarnanalyse über akute Hungerkrisenherde hervor, die vom World Food Programme (WFP) und der Food and Agriculture Organization (FAO) der Vereinten Nationen erstellt wurde.

„Vor drei Monaten sagte ich vor dem UN-Sicherheitsrat den Entscheidern dieser Welt, dass wir Gefahr laufen, in eine Hungersnot biblischen Ausmaßes zu stürzen“, sagte WFP-Exekutivdirektor David Beasley. „Heute zeigen uns unsere neuesten Daten, dass seitdem Millionen der ärmsten Familien auf der Welt noch näher an den Abgrund gedrängt werden. Lebensgrundlagen werden in einem noch nie dagewesenen Ausmaß zerstört und jetzt sind diese Familien unmittelbar vom Hungertod bedroht. Wir dürfen jetzt keine Fehler machen – denn wenn wir jetzt nicht handeln, um diese Pandemie menschlichen Leids zu beenden, werden viele Menschen sterben“.
Um das Schlimmste zu verhindern, weitet WFP seine Ernährungshilfe auf beispiellose 138 Millionen Menschen aus, die sich nicht ausreichend ernähren können, während die Pandemie einige der anfälligsten Länder der Welt immer stärker in Mitleidenschaft zieht.
Die Kosten für die WFP-Ernährungshilfe gegen den drastisch steigenden Hunger werden auf 4,9 Milliarden US-Dollar geschätzt, wobei weitere 500 Millionen US-Dollar vorgesehen sind, um den Ausbruch von Hungersnöten in den am stärksten gefährdeten Ländern zu verhindern.
Dies entspricht mehr als der Hälfte des aktualisierten sogenannten COVID-19 Global Humanitarian Response Plans, des größten Spendenaufrufs in der Geschichte der Vereinten Nationen, die heute um mehr als 10 Milliarden US-Dollar baten. In dem Plan werden die riesigen humanitären Bedarfe in mehr als 60 Ländern aufgelistet, von denen viele bereits vor COVID-19 unter den Auswirkungen von Konflikten, Klimawandel und Wirtschaftskrisen litten.
Die Zahl der akut mangelernährten Menschen in diesen gefährdeten Ländern könnte von 149 Millionen vor dem COVID-19-Ausbruch auf schätzungsweise 270 Millionen bis Jahresende ansteigen, wenn nicht umgehend lebensrettende Hilfe geleistet wird. Jüngste Schätzungen deuten auch darauf hin, dass in den nächsten sechs Monaten täglich bis zu 6.000 Kinder an vermeidbaren Ursachen sterben könnten, die auf pandemiebedingte Unterbrechungen in der grundlegenden Gesundheits- und Nahrungsversorgung zurückzuführen sind.

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Jemen: Währung kollabiert und Hunger wächst

Die Angst vor einem massiven Anstieg des Hungers im Jemen, verschärft durch einen sich zuspitzenden Währungskollaps und massive Engpässe bei der Geberfinanzierung, hat Islamic Relief dazu veranlasst, Millionen von Nothilfe-Geldern bereitzustellen. Denn die Kürzungen der UN-Gelder verursachen den Stopp lebensrettender Programme für Millionen von Menschen.

Köln (IRD). Die humanitäre Hilfsorganisation Islamic Relief plant zusätzliche 10 Millionen US-Dollar für Lebensmittel-, Wasser- und Sanitärversorgung sowie Ernährungs- und Gesundheitsprogramme bereitzustellen. Ziel ist es, einen kleinen Teil der massiven Finanzierungslücke zu schließen, die durch das Versagen internationaler Geber im letzten Monat entstanden ist. Denn das Ziel der Vereinten Nationen von 2,4 Milliarden US-Dollar wurde nicht erreicht: Nur die Hälfte des Betrages wurde zugesagt und drei Viertel der von den Vereinten Nationen unterstützten Programme werden als Folge in den kommenden Wochen gekürzt oder geschlossen.

Vor den Kürzungen arbeitete Islamic Relief im Jemen mit dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zusammen, um jeden Monat Lebensmittelpakete an 2,3 Millionen Menschen zu liefern. Durch die Kürzungen wurde die Hilfe mit denselben Lebensmittelpaketen um 50 Prozent reduziert: Jetzt müssen Familien zwei Monate mit der Nahrung auskommen, die zuvor für einen Monat angelegt war. Da mehr als 80 Prozent der Bevölkerung bereits vor den Kürzungen auf Hilfe zum Überleben angewiesen waren, fürchten Helfende vor Ort für die kommenden Monate viele Tote durch Hunger.

Das Defizit an Geldern entsteht zu einem Zeitpunkt, in dem die COVID-19-Pandemie laut UN dazu geführt hat, dass das Gesundheitssystem im Jemen „tatsächlich zusammenbricht“ (Quelle: UNOCHA). Unter den mehr als 1.150 offiziell bestätigten COVID-19 Fällen sind mehr als 300 Todesfälle aufgetreten, was bedeutet, dass unter den Infizierten weniger als einer von vier Menschen Überlebenschancen hat. Die Sterblichkeitsrate der Menschen im Jemen, die positiv auf COVID-19 getestet werden, ist mit 27 Prozent eine der höchsten der Welt.

„Die schlimmste humanitäre Krise der Welt spielt sich vor unseren Augen ab und verschlimmert sich. Was wir sehen, ist ein Teufelskreis aus Gewalt, extremer Armut und Hunger. Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie hat die Situation nur noch verschlimmert. Unsere Teams wurden in Bezug auf Hilfsgüter und Treibstoff an ihre Grenzen gebracht“, sagt Naser Haghamed, CEO von Islamic Relief Worldwide, der im vergangenen Jahr den Jemen besuchte. Die humanitäre Hilfe wird durch den Treibstoffmangel und die steigenden Lebensmittelpreise zusätzlich erschwert. Die Kraftstoff- und Lebensmittelpreise stiegen in den letzten drei Wochen um schätzungsweise 20 Prozent an und sind seit der Verschärfung der Coronakrise um insgesamt 35 Prozent gestiegen. Zu den fehlenden Hilfsgeldern kommen fehlende private Hilfszahlungen hinzu. Nach Schätzungen sind die Überweisungen von Jemeniten aus dem Ausland durch die COVID-Krise um bis zu 10 Milliarden USD zurückgegangen.

„Die Bürger im Jemen, der kleine Teil derjenigen, die es sich leisten können, müssen einen ganzen Tag anstehen, um maximal 30 Liter Kraftstoff zu überhöhten Preisen zu kaufen“, berichtet ein Helfer vor Ort.

Die Situation lässt Millionen von Menschen, die bereits am Rande einer Hungersnot leben, mit noch weniger Zuwendungsmöglichkeiten zurück. Die Vereinten Nationen stehen jetzt vor der Herausforderung, Partner-Hilfsorganisationen wie Islamic Relief weiterhin mit Treibstoff für ihre Hilfseinsätze zu versorgen. Helfende von Islamic Relief vor Ort berichten von der Verzweiflung der Menschen: „Erwachsene Männer und Frauen weinen, weil sie kein Essen haben, um ihre Familien zu ernähren. Einige sagen uns, dass sie über Selbstmord nachdenken, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, und der Schmerz, ihre Kinder langsam verhungern zu sehen, zu groß ist. Und niemand hat mehr Geld zu geben, um zu helfen.“

„Viele Mütter sind so unterernährt, dass sie nicht genug Milch haben, um ihre Babys zu stillen. Sie sind verkümmert und können Krankheiten nicht abwehren. Ohne dringende Maßnahmen wird der Jemen von Massenhunger heimgesucht. Wir befürchten, dass noch viel mehr unschuldige Menschen sterben werden“, erzählt eine weitere Helferin vor Ort. Die Unterernährungsraten bei Frauen und Kindern im Jemen gehören nach wie vor zu den höchsten der Welt. Die Teams im Jemen berichten, dass Covid-19 bereits überfüllte Lager mit Binnenvertriebenen und ländliche Gemeinden erreicht hat. „Da der Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung äußerst begrenzt ist und nur sehr wenige Isolationseinrichtungen in Betrieb sind, wissen wir nicht, wie viele Menschen wirklich durch das Virus betroffen sind“, bedauert Zulqarnain Abbas, Landesdirektor von Islamic Relief im Jemen. Er berichtet:

„Unsere Helfer haben keine persönliche Schutzausrüstung und sagen, dass sie vor einer unmöglichen Wahl stehen – zu Hause zu bleiben und ihre Familie zu schützen oder zur Arbeit zu gehen, zu helfen und sich zu infizieren, weil es keine Schutzausrüstung und nur sehr wenige Tests gibt.“ Zulqarnain Abbas erzählt auch, wie einige Helfende ihre bereits begrenzten Gehälter – die fast ausschließlich von NGOs wie Islamic Relief gezahlt werden – verwenden, um ihre eigene Schutzausrüstung zu kaufen. Dieses Gehalt reicht jedoch nicht aus, um ihre Familien zu ernähren. „Die Hungerkrise betrifft wirklich jeden Haushalt und jede Familie und die Folgen werden für die kommenden Jahre spürbar sein“, warnt Landesdirektor Abbas und ergänzt: „Wir tun alles, um trotz der Einschränkungen vor Ort weiterhin Hilfe zu leisten. Jeden Tag überwinden wir Kontrollpunkte, administrative Verzögerungen und gewalttätige Ausbrüche, um sicherzustellen, dass die Hilfe immer noch die Bedürftigen erreicht.“

„Wir sind dankbar für die Unterstützung unserer Geber und Spender, die es uns ermöglicht hat, unsere Unterstützung für das jemenitische Volk im Jahr 2020 fast zu verdoppeln. Jetzt ist es unerlässlich, dass die Staats- und Regierungschefs der Welt ihren Beitrag leisten und die Finanzierung des Jemen priorisieren und gleichzeitig alle beteiligten Seiten unter Druck setzen, eine dauerhafte und gerechte Lösung für den Krieg zu finden“, fordert CEO Haghamed.

Mit 325 angestellten Helfern und über 3.000 Freiwilligen verfügt das Islamic Relief-Team im Jemen über einzigartiges lokales Wissen, das es den Helfenden ermöglicht, in 17 der 22 Regierungsbezirke des Landes zu operieren und sicherzustellen, dass die Mitarbeiter auch in dieser Krise an vorderster Front helfen.

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Srebrenica: Appelle zum 25. Jahrestag

Sarajevo/Genf/Berlin (KNA). Die Corona-Pandemie wirkt sich auch auf das Gedenken zum 25. Jahrestag des Massakers von Srebrenica aus. Laut Recherchen der Nachrichten-Website Balkan Insight ist noch unklar, in welcher Form einzelne Veranstaltungen in den kommenden Tagen stattfinden.

Die ursprünglichen Planungen sahen unter anderem einen Friedensmarsch mit 10.000 Teilnehmern vor sowie am Samstag die Beisetzung von acht Opfern des Massakers im Srebrenica Memorial Center, deren Gebeine in den zurückliegenden Monaten identifiziert worden waren. Dazu hatten die Organisatoren bis zu 100.000 Menschen erwartet.

Das Massaker von Srebrenica vor 25 Jahren gilt als das größte Verbrechen gegen die Menschheit in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Bei der von serbischen Einheiten unter Ratko Mladic durchgeführten Militäraktion während des Bosnienkriegs wurden vom 13. bis 17. Juli 1995 mehr als 8.100 bosnische Männer getötet.

In Genf appellierten mehrere UN-Experten und -Sonderberichterstatter an die Staatengemeinschaft, die Lehren aus dem Massaker nicht zu vergessen. Völkermorde ereigneten sich nicht spontan, sondern in einem Klima von wachsender Intoleranz, Diskriminierung und Gewalt. 25 Jahre nach Srebrenica sei es „zutiefst alarmierend, dass Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Stigmatisierung und Ausgrenzung unvermindert fortbestehen und Gesellschaften und das Leben von Menschen auf der ganzen Welt destabilisieren oder sogar zerstören.“

In Berlin erinnerte die Gesellschaft für bedrohte Völker heute mit einer Kranzniederlegung an der Neuen Wache an das Massaker erinnern. An der Veranstaltung wollen unter anderen die Botschafterin von Bosnien-Herzegowina, Jadranka Winbow, der menschenrechtspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Michael Brand (CDU), sowie Vertreter der beiden großen Kirchen und Meho Travljanin vom Islamischen Kulturzentrum der Bosniaken in Berlin teilnehmen.

Unterdessen warnt die Münchner Historikerin Marie-Janine Calic vor neuen Verwerfungen zwischen Serben und Bosniaken in Bosnien-Herzegowina. In der Republika Srpska seien immer noch Schulen nach Ratko Mladic und anderen Kriegsverbrechern benannt, sagte Calic in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Es bestehe zudem eine „gefährliche Tendenz“, die Ereignisse von Srebrenica zu verleugnen.

„Andererseits ist das Massaker unter den Bosniaken zu einem Ursprungsmythos geworden“, erläuterte die Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. „Wer aber seine nationale Identität auf einen Genozid aufbaut, kann zu Versöhnung nicht bereit sein.“

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Srebrenica: „Aktuelle Entwicklungen Anlass zu Sorge“

München (KNA). Zu Beginn der 1990er-Jahre setzte der Zerfall Jugoslawiens ein. Konflikte und Kriege waren die Folge, die bis heute das Leben der Menschen auf dem Balkan beeinflussen. Das Massaker von Srebrenica vor 25 Jahren gilt als das größte Verbrechen gegen die Menschheit in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erläutert die Historikerin Marie-Janine Calic, wie es zu dem Völkermord an den muslimischen Bosniern kam. Die 57-Jährige ist Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte in München. Sie war zeitweilig als politische Beraterin für EU und UN im Jugoslawien-Konflikt tätig. 2016 erschien ihr Buch „Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region“ und 2019 ihre „Geschichte Jugoslawiens“.

Frage: Frau Professorin Calic, im Bosnien-Krieg kämpften seit 1991 drei Parteien um die Vorherrschaft in Bosnien-Herzegowina: Serben, Bosniaken und Kroaten. Wie stellte sich die Situation unmittelbar vor dem Massaker von Srebrenica dar?

Marie-Janine Calic: Im Sommer 1995 gab es ein militärisches Patt zwischen den Streitkräften der Bosniaken und Kroaten auf der einen Seite und den Streitkräften der bosnischen Serben auf der anderen. Beide Seiten kontrollierten zu diesem Zeitpunkt ungefähr je die Hälfte des Staatsgebietes von Bosnien-Herzegowina. Die Serben hatten Zugriff auf fast den ganzen Osten und den Norden mit Ausnahme einiger Enklaven, darunter auch Srebrenica.

Frage: Wer hatte hier das Sagen?

Marie-Janine Calic: Diese Enklaven hatte die UN zu Schutzzonen erklärt, in denen Kriegsflüchtlinge unterkommen sollten. Dazu waren dort Blauhelme stationiert. Aber anders als von der UN gewollt, befand sich in Srebrenica auch bosnisches Militär. Die bosnischen Soldaten haben aus der Schutzzone heraus immer wieder serbische Stellungen im Umland unter Beschuss genommen.

Frage: Gleichzeitig arbeiteten die USA, Frankreich, Großbritannien, Russland und Deutschland an einem Friedensplan.

Marie-Janine Calic: Die Bosnien-Kontaktgruppe wollte die bestehenden territorialen Verhältnisse als Grundlage für eine künftige Ordnung nutzen. Das hätte bedeutet, dass die Enklaven den Bosniaken zugefallen wären.

Frage: Und die Serben?

Marie-Janine Calic: Machten sich an die Eroberung dieser Enklaven. Ihnen ging es darum, bosniakische Siedlungen inmitten ihres Territoriums zu verhindern.

Frage: Aus der Militäraktion wurde ein Massaker, bei dem mehr als 8.100 bosnische Männer, egal ob jung oder alt, ob kampffähig oder nicht, getötet wurden. Wie lässt sich diese Eskalation der Gewalt erklären?

Marie-Janine Calic: Dafür spielten neben militärischem Kalkül verschiedene Faktoren wie Rachegedanken und die Dynamik der Umstände eine Rolle. Die bosnischen Serben unter ihrem General Ratko Mladic wollten Vergeltung üben für die aus Srebrenica heraus geführten Angriffe der Bosniaken. Zugleich fürchteten sie einen Kontrollverlust in einer ohnehin sehr unübersichtlichen Lage. Schließlich wollten sie wohl auch ein Zeichen setzen und auf grausame Weise zeigen, was passiert, wenn man sich ihren Forderungen widersetzt.

Frage: Ähnlich wie beim Genozid im afrikanischen Ruanda 1994 hofften die in Srebrenica eingeschlossenen Menschen vergeblich auf den Schutz der Vereinten Nationen. Warum?

Marie-Janine Calic: Es gab gravierende Fehler, die zu einem Totalversagen geführt haben. Weder der Sicherheitsrat noch die UN-Mitgliedsstaaten waren bereit, sich militärisch zu engagieren, um das, was sie beschlossen hatten, auch tatsächlich umzusetzen.

Die Schutzzonen waren ein Konzept der Friedenssicherung, aber in Bosnien-Herzegowina herrschte Krieg. Hinzu kam, dass die Blauhelm-Truppen für die Schutzzonen weder personell noch militärisch angemessen ausgestattet waren. Für sechs Schutzzonen hätte man insgesamt mit 34.000 Soldaten benötigt. Tatsächlich waren es nur 7.500 – und die wurden belagert, hatten weder genug zu essen noch genug Treibstoff.

Frage: Während 25.000 Bosniaken Richtung Gelände einer ehemaligen Batteriefabrik in Potocari sechs Kilometer von Srebrenica entfernt flohen, traf sich der niederländische UN-Kommandanten Thomas Karremans mit Mladic. Ein Foto, auf dem beide Männer sich mit einem Glas in der Hand zuzuprosten scheinen, ging damals um die Welt.

Marie-Janine Calic: Der Eindruck, dass Karremans und Mladic quasi Brüderschaft trinken, täuscht. Wenn man sich das Bild genau ansieht, erkennt man, dass Karremans eher verunsichert schaut.

Frage: Was war der Grund dafür?

Marie-Janine Calic: Mladic hatte Karremans unmittelbar nach dem Sturm auf Srebrenica in ein Hotel rufen lassen. Gegenstand der Verhandlungen war, ob die UN-Blauhelme evakuiert werden könnten. Einige von ihnen befanden sich zudem als Geiseln in den Händen der bosnischen Serben. Das war für Karremans sicher eine beängstigende Situation. Aber das Bild zeigt natürlich auch, dass die Blauhelmtruppen völlig überfordert waren.

Frage: Sehen Sie ein persönliches Versagen von Karremans und seinen Soldaten?

Marie-Janine Calic: Heute wissen wir, dass sich die Blauhelme wenig darum gekümmert haben, was mit den Zivilisten und den Kriegsgefangenen passierte, die zum Teil in UN-Bussen aus ihrem Stützpunkt Potocari abtransportiert wurden. Die Blauhelme machten kaum Anstalten, die Transporte zu begleiten und beruhigten sich damit, dass die Menschen in irgendwelche Lager verlegt würden.

Frage: Hat die Staatengemeinschaft Lehren aus dem Völkermord von Srebrenica gezogen?

Marie-Janine Calic: Es hat sich eine Menge geändert. Eine Erkenntnis ist, dass die Welt solche Massenverbrechen nicht ungesühnt lassen darf. Der Internationale Strafgerichtshof ist aus den Ad-hoc-Tribunalen für Jugoslawien und für Ruanda entstanden. Ein weitere Punkt ist das inzwischen weitgehend akzeptierte Prinzip der Schutzverantwortung.

Frage: Was heißt das?

Marie-Janine Calic: Dass jeder Staat die Pflicht hat, seine Bürger vor Genozid, Krieg und Menschheitsverbrechen zu schützen. Wenn er dazu nicht in der Lage ist, steht die internationale Gemeinschaft in der Verantwortung, notwendige Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Der erste solche Einsatz war die Militärintervention in Libyen, die der UN-Sicherheitsrat 2011 beschloss.

Frage: Das hat allerdings nicht besonders gut geklappt.

Marie-Janine Calic: Militärische Gewalt kann zwar einen Krieg beenden, aber nicht zwangsläufig den Frieden herstellen.

Frage: Kehren wir zum Bosnien-Krieg zurück. Welche Rolle haben die Religionen dabei gespielt?

Marie-Janine Calic: Man sollte den Faktor Religion nicht überbewerten. Der Krieg wurde aus säkularen, nationalistischen Motiven heraus geführt. Aber es gab und gibt eine unheilige Allianz zwischen dem Nationalismus und den einzelnen Religionsgemeinschaften.

Frage: Haben Versöhnung und Aufarbeitung unter solchen Vorzeichen eine echte Chance?

Marie-Janine Calic: Die juristische Aufarbeitung ist gut vorangeschritten. Auch haben sich politische Vertreter aller Konfliktparteien mit den Kriegsverbrechen von damals auseinandergesetzt. Doch die aktuellen Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina geben Anlass zu Sorge.

Frage: Warum?

Marie-Janine Calic: In der Republika Srpska sind immer noch Schulen nach Mladic und anderen Kriegsverbrechern benannt. Es besteht zudem eine gefährliche Tendenz, die Ereignisse von Srebrenica zu verleugnen. Andererseits ist das Massaker unter den Bosniaken zu einem Ursprungsmythos geworden. Wer aber seine nationale Identität auf einen Genozid aufbaut, kann zu Versöhnung nicht bereit sein.

Marie-Janine Calic, „Geschichte Jugoslawiens“, Verlag C.H. Beck 2020, 24,00 Euro; Marie-Janine Calic, „Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region“, Verlag C.H Beck 2016, 38,00 Euro.

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Rassismus als moderner Götzendienst

„Im Gegensatz zu dem, was manche verstehen, geht es nicht darum, gegen den Westen, gegen Weiße oder gegen Nichtmuslime zu sein. Denn in der heutigen Welt sind viele Menschen im Osten, Nicht-Weiße und sogar viele Muslime größere Vertreter weißer Vorherrschaft als nichtmuslimische Weiße im Westen.“

(Lamppost Production). Zu den bekanntesten Stimmen US-amerikanischer, und insbesondere schwarzer Muslime gehört Dr. Sherman Jackson. Der Islamwissenschaftler hat derzeit den König Faisal-Lehrstuhl für Islamisches Denken sowie einen Lehrstuhl für Religion und Amerikanistik an der Universität Südkalifornien (USC) inne. Dr. Jackson schrieb Bücher zu verschiedenen Themen – von Al-Ghazali bis zu Tasawwuf.

Seit Jahren widmet er sich insbesondere der Forschung zu Fragen von Rassismus, schwarzen Muslimen und verwandten Themen. 2009 schrieb er das Buch „Islam and the Problem of Black Suffering“. Sherman Jackson hat beim Bildungsprojekt Lamppost Education Initiative ein Programm unter dem Titel „Weiße Vorherrschaft: Beginn des modernen Götzendienstes?“ veröffentlicht. In Folge fassen wir einige Kernpunkte seiner Überlegungen zu dieser brandheißen Frage zusammen.

Heute behandeln wir ein heikles und kontroverses Thema. Wir sprechen über weiße Vorherrschaft (engl. White supremacy) als Beginn des modernen Schirk (Götzendienst, Akt der Beigesellung). Diese Untersuchung soll klären, was dies für Muslime in der Moderne bedeutet.

Die meisten würden das lieber ignorieren oder es als fehlgeleiteten Überrest der Geschichte ablegen. Die Unwilligkeit zur Beschäftigung hat den Zweck, sie der Kritik zu entziehen. Mit anderen Worten, wenn wir nicht über weiße Vorherrschaft reden, sprechen wir ihre Existenz ab. Wir können entweder davon ausgehen, dass sie existiert oder nicht existiert. Wenn es sie gibt, müssen wir nach ihren Folgen fragen – nicht nur für uns als Nichtweiße, sondern als Muslime. Eine zweite schließt sich an: Wenn es weiße Vorherrschaft gibt, welche Verantwortung haben wir dann als Muslime – individuell und ­kollektiv? Und wenn es sie gibt, wie lässt sie sich als Beginn des modernen Schirk deuten?

Fangen wir damit an, zu verstehen, was sie nicht ist. Es handelt sich nicht um die Ideologie, die Gruppen wie der Ku-Klux-Klan vertreten. Was der Klan macht, ist im Vergleich zum eigentlichen Phänomen bloß Kinderkram. Die weiße Vorherrschaft ist ihrem Wesen nach etwas, das man nicht bekämpft. Stattdessen kämpft man gegen sich selbst. Die Folge des Systems besteht im Wesentlichen in der Verinnerlichung einer Idee, man sei abnormal, zurückgeblieben und min­derwertig. Im Lichte dieses Ordnungs­rahmens muss man sich ändern, um so Anerkennung und Respekt von denen zu erhalten, welche diese Herrschaft repräsentieren.

Bei der Kritik an dieser Vorherrschaft geht es nicht um weiße Menschen. Hier geht es um eine Darstellung von Ideen. Dazu gehört die Tatsache, dass Nichtweiße in vielen Fällen größere und brennendere Befürworter dieser Machtverhältnisse sein können als Weiße. Es ist Fakt, dass alle Weißen befähigt sind, davon zu profitieren; aber nur, wenn sie das wollen. Das heißt, sie können ihre schädlichen Folgen und bösen Auswirkungen ignorieren.

Die verheerendste und grundlegendste Kritik an dieser Ordnung in den USA kam von Leuten, die sich als Weiße verstehen. Forscher wie Theodore Allen, Matthew Fry Jacobson, Richard Dyer und andere haben ihre Karriere der Offenlegung weißer Vorherrschaft gewidmet sowie ihrer Abschaffung. Sie wollen ein Verständnis fördern, was diese Sache ­sowohl mit schwarzen oder nichtweißen als auch weißen Menschen macht.

Dabei handelt es sich nicht um ein ausschließlich amerikanisches Phänomen. Es ist das, was weiße Amerikaner in Amerika getan haben. Teil meines Arguments ist, dass es sich heute um eine globale ­Erscheinung handelt. Nicht bloß Nichtweiße in den USA sind betroffen. Ein Problem, mit dem wir als muslimische Gemeinschaft fertig werden müssen, ist die Fähigkeit eines Teils der Muslime –Araber und Asiaten –, weiße Vorherrschaft als Macht zu leugnen, die ihr Leben beeinflusst.

Weiße Vorherrschaft ereignete sich, als Europäer sowie ihre Siedlerkolonien in den USA, Australien, Neuseeland etc. in der Lage waren, ihre Geschichte willkürlich zu definieren. Und sich von diesem Punkt an nur als Menschen zu begreifen. Das heißt, ihre Werte, Urteile und Vorlieben seien Folge natürlicher Ursachen. Sie können ignorieren, dass sie auch das Produkt einer Vergangenheit sind. Unsere Leute jedoch haben in dieser Konstel­lation einen Werdegang, der nur ihnen zueigen ist.

Daraus folgert, dass alles, was sie wertschätzen, Ergebnis eines vorausgesetzten Naturzustands sei und nicht von Geschichte, Sozialisierung, Ökonomie oder kulturellen Veränderungen; so, als wären sie vom Himmel gefallen. Dadurch werden weiße Empfindsamkeiten, Wahrnehmungen und Blickwinkel auf die Stufe des Normalzustands erhoben. Und deshalb sehen sich Weiße nicht zur Erklärung gezwungen. Es sind Nichtweiße, die all diese Dinge klären müssen, wenn Weißheit die Norm wird, mit der alles andere verglichen wird. Es gibt keine ­kulturellen oder anthropologischen Deutungen, alles scheint normal. Im gewissen Sinne werden Weiße zu geschichtslosen Wesen gemacht – die ursprünglichen Menschen.

Daraus ergibt sich die Befähigung, andere Zustände des In-der-Welt-seins als abnormal zu verurteilen. Und dank dieser Vorwegnahme über weitere Seinsweisen haben Betroffene keine Berechtigung, über den Anderen zu urteilen. So landet man in einer Position, in der man richten kann, aber selbst nicht beurteilt wird. Diese Realität charakterisiert den Aufstieg der Moderne. Und in realen Begriffen lässt sich das Heute als Einführung weißer Vorherrschaft als globales Phänomen ­beschreiben.

An diesem Punkt nähern wir uns der Frage jener Herrschaftsform als potenziellem Beginn des modernen Schirks. Sie kann sich nicht aus sich selbst heraus legitimieren, sondern braucht aktive Teilnahme von Seiten Dritter. Andere müssen die Normen der dominanten Gruppe akzeptieren und verinnerlichen, die am Vorabend der Moderne als Norm bestimmt wurde. Ihr eigentlicher Triumph ereignet sich, wenn Nicht-Weiße und Weiße das tiefverwurzelte Gefühl verinnerlichen, wonach Weißheit die moralische Norm sei. Diese Ordnung konnte nur deshalb zu einem weltweiten Phänomen werden, weil Nicht-Weiße an sie glaubten.

Warum sollten Menschen so was ­akzeptieren? Selbiges können wir zum Götzendienst fragen. Warum beteiligten sich die heidnischen Araber am Schirk? Die Antwort verweist auf den grund­legenden Fakt unserer menschlichen Verfassung. Wir sind dank unserer Natur Wesen, die sich nicht selbst aufrecht ­erhalten können. Glaubt der Mensch, er wäre in dieser Weise unabhängig, überschreitet er Grenzen.

Wir alle wissen um unsere Sterblichkeit. Und wir können den Augenblick unseres Sterbens nicht bestimmen, auch wenn wir nicht sterben wollen. Das liegt vollkommen außerhalb unserer Kontrolle. Unser körperliches Sein hängt von Kräften jenseits unserer Zellen ab. Und wenn diese auf irgendeine Weise manipuliert werden, beeinflusst uns das auf eine Weise, die nicht in unseren Händen liegt. Nicht weniger wichtig ist unsere psychologische und emotionale Abhängigkeit. Ich brauche andere Subjekte, um mich zu erkennen. Unser Selbstwert kann so leicht beeinflusst werden.

Deshalb bestand der Prophet des Islam, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, auf freundlichen und respektvollen Umgang. Ohne kann man sich bedeutungs- oder wertlos fühlen und so auf einen Pfad gelangen, um alternativen Formen der Bestätigung zu finden. So war der Prophet, Allahs Heil und Segen auf ihm. Es ist Teil der menschlichen Bedingung, dass wir emotional und seelisch abhängig sind, sowie Bestätigung benötigen. Blicken wir auf innerstädtische Gemeinschaften (die in den USA sehr häufig arm und schwarz sind, Anm.d.Red.), finden wir dort oft ungesunde Formen der Bestätigung. Die Leute erfahren keine Aufwertung, weil sie gottesfürchtig, freundlich oder großzügig sind, sondern wenn sie wohlhabend sind; ungeachtet, wie sie ihren Reichtum erworben haben.

Die einzige Möglichkeit ist, dass wir erfolgreich damit umgehen. Und zwar bis zu dem Punkt, an dem wir eine angemessene Beziehung zu Allah haben. Er ist ultimativ der Einzige, Der uns ver­sorgen kann, und uns das Gefühl von Sicher­heit geben kann, was wir als Menschen brauchen. Und hier wird Islam zu einer Rahma (Barmherzigkeit) für die Welt. Wir erhalten einen Einblick, dass es eine Macht jenseits von uns gibt, die unser Geschick bestimmt. Mit ihr bin ich über den Islam eine angemessene Beziehung eingegangen. Mit ihr kann ich auf alles eingehen, das zur menschlichen Existenz gehört – Tragödie, Verlust etc. Das Gefühl der Unsicherheit erlaubt es uns, in Beziehung zu Allah zu treten.

So beginnt das Verständnis, warum Gruppen wie die Perser oder Araber in Götzendienst verfielen. Diese früheren Völker wandten sich ihren Idolen als Werkzeug zu, um mit ihrer Unsicherheit fertig zu werden. Man richtete sich an diese und andere Mittel. Nicht, weil man glaubte, sie kontrollierten Leben und Tod. Vielmehr ging es um seelischen Trost, denn diese Götzen wurden mit äußeren Kräften in Verbindung gebracht. Alles wäre in Ordnung, so der Glaube, würde man sie nur befrieden. Eine Bezie­hung zu ihnen sollte Trost sowie Heilung der Seelen bringen. Das war die Art des Götzendienstes, für dessen Abschaffung die Propheten, Friede sei mit ihm, gesandt wurden. Sie taten dies nicht, um den Menschen die gewünschte Lebensweise zu verwehren, sondern weil Schirk eine Fehlverhalten im Umgang mit der menschlichen Situation ist.

Hier handelt es sich nicht nur um ­einen religiösen Einblick. Säkulare verstehen das ebenso. Unter Erwachsenen erlaube ich mir ein Beispiel. Warum gibt es überhaupt Zuhälter? Sie bringen Frauen dazu, zu tun, was sie tun, weil diese ­Männer verstehen, dass alle Menschen ein Gefühl der Unsicherheit haben. Alles, was sie tun, ist die Manipulation dieses Wunsches.

In Amerika gibt es Weiße, die Opfer weißer Vorherrschaft werden. Wie ist das möglich? Naturgemäß sind die Armen unter ihnen unsicher. Man sagt ihnen, sie gehören der gleichen Gruppe wie die Mächtigen an. Die Armen können sich damit identifizieren und sicher fühlen. Und das, obwohl es ihre Interessen verletzt. Obwohl ihre Jobs nach Mexiko, Kanada oder China ausgelagert wurden. Man kann Kraftwerke in ihrer Nähe bauen, die Krebs bei ihren Kindern auslösen und es gibt keinen Widerstand. Warum? Solange sie sich mit diesem Herrschaftsmodell identifizieren, werden sich die Armen nicht auflehnen. Derart funktioniert weiße Vorherrschaft weltweit.

Wir müssen fragen, was heute die Bedeutung von Schirk ist. Es gibt außer in den entlegensten Winkel der Welt keine Götzen mehr. Und doch gibt es ihn – in den Großstädten, in denen Muslime heute leben. Nur, weil der weiße Westen Autor des neuen Regimes ist, bedeutet das nicht, dass alles, was er sagt, falsch sei. Wir müssen diese Haltung meiden, denn sie kann zu umgekehrtem Schirk führen. Im Zwang zur Gegensätzlichkeit sehe ich einen Trend zum heutigem Götzendienst. Denn wir suchen eine Antwort bei jemand anderem als bei Allah.

Im Gegensatz zu dem, was manche verstehen, geht es nicht darum, gegen den Westen, gegen Weiße oder gegen Nichtmuslime zu sein. Denn in der heutigen Welt sind viele Menschen im Osten, Nicht-Weiße und sogar viele Muslime größere Vertreter weißer Vorherrschaft als nichtmuslimische Weiße im Westen.

Dieses Thema ist unsere Anstrengung (arab. dschihad), die eigentlich. Er muss zuerst und vor allem in den Herzen geführt werden. Wir müssen uns von dem Gefühl entwöhnen, dass wir nur dann anerkennt sind, wenn uns der Westen bestätigt. Gelingt mir das nicht, habe ich ein Problem. Selbst bei einem Sieg werde ich nur wieder die gleichen Werte institutionalisieren, denn sie sind Teil meines Herzens. Die falschen Götter können der Menschheit niemals Frieden und Ruhe geben, für deren Suche Männer und Frauen geschaffen wurden.

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Rassismus als Rahmen für Herrschaft

Die nach dem Mord an George Floyd in den USA ausgebrochenen Proteste sowie die erneute Debatte über ungleiche Lebensverhältnisse sowie Diskriminierungen von schwarzen Menschen haben auch zu Protesten und Debatten […]

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Kampagne zur Muslimfeindlichkeit

Berlin (CLAIM). Rassistische Beleidigungen, Schmierereien an Moscheen, Brandanschläge, tätliche Übergriffe: Jeden Tag in Deutschland. Ein Bündnis aus mehr als 45 Organisationen – aber auch viele politische Entscheidungsträger*innen wie der Bundestagsabgeordnete Helge Lindh, die Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz, der Filmregisseur und Fotograf Mirza Odabaşı oder der Journalist und Aktivist Tarik Tesfu machen antimuslimisch motivierten Hass und Übergriffe auf Muslim*innen im Rahmen der Aktionswoche gegen antimuslimischen Rassismus anlässlich des Tags gegen antimuslimischen Rassismus (1. Juli 2020) zum Thema. Eine begleitende Plakatkampagne in vier deutschen Städten zielt darauf ab, das Schweigen zu Islam- und Muslimfeindlichkeit zu brechen.

Die Anschläge in Hanau und Halle, die geplanten Angriffe auf Moscheen in zehn Bundesländern, die Übergriffe auf Muslim*innen und muslimische Einrichtungen und nicht zuletzt die Diskriminierungen im Alltag – antimuslimisch motivierte Übergriffe ereignen sich mittlerweile jeden Tag in Deutschland. Die Öffentlichkeit erfährt hiervon kaum etwas. 950 islamfeindliche Straftaten wurden 2019 offiziell erfasst (BMI 2020). Die Dunkelziffer antimuslimischer Hassverbrechen wird von Expert*innen jedoch auf das Achtfache geschätzt. #KeinPlatzFürHass lautet daher der Hashtag der Aktionswoche gegen antimuslimischen Rassismus, die bundesweit rund um den Tag gegen antimuslimischen Rassismus (1. Juli 2020) stattfindet. Unter der Überschrift „Heute wieder.“ machen in diesem Jahr Politiker*innen und Engagierte zudem online auf die tagtäglich stattfindenden antimuslimischen Übergriffe und Diskriminierungen aufmerksam.

Nina Mühe von CLAIM: „Rassistische Übergriffe sind in Deutschland an der Tagesordnung: ob auf Menschen jüdischen Glaubens, BIPoCs, Sint*ezza und Rom*nja oder Muslim*innen. Seit Jahren werden in Deutschland auch Muslim*innen, Menschen, die als Muslim*innen gelesen werden sowie muslimische Einrichtungen zur Zielscheibe – wie bei dem Attentat vor wenigen Monaten in Hanau. Nur über diese besonders schrecklichen Taten wird medial berichtet und sie stellen nur die Spitze des Eisbergs dar im Vergleich zu dem, was tagtäglich an Herabwürdigung, Diskriminierung und Rassismus geschieht. Im Rahmen der Aktionswoche machen wir die vielen unbeachteten Fälle von Übergriffen und Diskriminierungen auf Muslim*innen und Moscheen sichtbar.“

„Ausgehend von über 600 registrierten Moscheeangriffen im Zeitraum 2014-2019, ist die immer noch mangelnde Sensibilisierung für antimuslimischen Rassismus – sowohl in Behörden als auch in der Gesamtgesellschaft – besorgniserregend. Mit Blick auf muslimische Einrichtungen fehlen zum einen effektive und vorbeugende Sicherheitsmaßnahmen und zum anderen sind die Gemeinden nach einem Angriff zumeist auf sich allein gestellt. Die meisten Täter werden nie gefasst und verurteilt. Das ebnet den Weg für Wiederholungstäter und setzt ein falsches Signal. Wichtig ist, dass der Kampf gegen Rassismus jeder Art nicht Aufgabe der von Rassismus Betroffenen sein sollte“, so Yusuf Sari, Projektkoordinator von Brandeilig.org/FAIR International (Mitglied der CLAIM-Allianz).

Der Höhepunkt der Aktionswoche gegen antimuslimischen Rassismus ist der Tag gegen antimuslimischen Rassismus am 1. Juli 2020. An diesem Tag jährt sich der Mord an Marwa El-Sherbini, die 2009 während einer Strafverhandlung im Landgericht Dresden aus islamfeindlichen Motiven ermordet wurde. Seitdem steht der 1. Juli für ein entschiedenes Eintreten für eine solidarische, demokratische, freiheitliche und multireligiöse Gesellschaft.

„Die Einberufung eines „Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit“ und der gegründete Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus sind wichtige Signale. Es bedarf jetzt unbedingt konkreter und wirksamer Maßnahmen auf allen Ebenen“, so Nina Mühe, „angefangen bei einer verbesserten statistischen Erfassung von antimuslimisch motivierter Gewalt und Diskriminierung als Grundlage für eine gezieltere Präventionsarbeit bis hin zur Ausweitung des Opferschutzes und der Opferberatung.“

Mit der Gründung einer Expert*innenkommission hat der Bundesinnenminister eine Forderung aufgegriffen, die die CLAIM-Allianz in den vergangenen zwei Jahren immer wieder gestellt hat (zum offenen Brief). In Hinblick auf den Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus richtet sich die Allianz mit konkreten Forderungen an dessen Mitglieder. Zu den Forderungen der CLAIM-Allianz.

Die bundesweite Aktionswoche gegen antimuslimischen Rassismus findet statt vom 24. Juni – 1. Juli 2020. Hinter dem 1. Juli und der Aktionswoche steht ein breites, wachsendes zivilgesellschaftliches Bündnis von Initiativen, Kulturschaffenden, Migrant*innenorganisationen, Netzwerken, Wohlfahrtsverbänden, Moscheen und Aktionsgruppen. Mehr Informationen zur Aktionswoche und zum Tag gegen antimuslimischen Rassismus unter www.allianzgegenhass.de.

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Weltmeister gegen Rassismus werden

(iz). Wir Deutsche feiern uns gerne als Fußball-, Export- und Klimaschutz-Weltmeister. Das ist schön und gut, aber der Export erfolgreicher Anti-Rassismus-Arbeit sollte wichtiger sein, als die Ausfuhr von Gütern. „Made […]

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Wie die Seele das Göttliche erfährt

(iz). Indonesien ist das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt. Indonesien erstreckt sich vom nördlichsten Zipfel der Insel Sumatra, Aceh, bis in den westlichen Teil der Insel Papua. Zusammen mit Brunei, Teilen Malaysias und Singapore, gehört es zu der geographischen, kulturellen und spirituellen Wirklichkeit, die allgemein als Nusantara bezeichnet wird. Nusantara bezeichnet einen Archipel von Inseln, inklusive der Meere, wobei die Meere zwischen den Inseln eine verbindende, keine teilende Rolle spielen. Ihre Menschen leben sowohl auf den Inseln, als auch auf den Meeren. Es wird angenommen, dass Islam im 11. Jahrhundert die Insel Java erreichte, da es aus dieser Zeit den ersten epigraphischen Beweis gibt. Der erste „bekannte“ Muslim in Java war eine Frau mit dem Namen Siti Fatimah binti Maimun. Nichtsdestotrotz haben wir Grund zu glauben, dass Islam bereits vor dem 11. Jahrhundert die Küste Javas erreichte. Ab dem 15. Jahrhundert wurde jedoch vermehrt der konkrete groß angelegte Versuch unternommen, den Islam in Java zu verbreiten. Neun sogenannte heilige Männer (arab. aulija), die Walisongo, spielten dabei eine bis heute anerkannte Vorreiterrolle. Im Folgenden möchte ich diese besonderen Männer kurz vorstellen und vor allem auf ihre Methoden hinweisen, wie sie friedlich und bedacht auf die Wahrung von Harmonie, die prophetische Nachricht verbreitet haben.

Islam in Indonesien
Auch wenn in manchen Teilen andere Religionen eine Mehrheit bilden, so sind doch Muslime überall zu finden. Eine Besonderheit, die die Indonesienwissenschaftler immer wieder positiv betonen, ist der Fakt, dass der Islam im heutigen Indonesien und in der Region Nusantara als Ganzes, friedlich verbreitet wurde. Lokale Kulturen, Traditionen, Wissen und Weisheiten wurden nicht radikal und rücksichtslos entfernt, sondern im Sinne der islamischen Lehre und Orthopraxie umgewandelt und adaptiert. Diese Herangehensweise hatte zur Folge, dass der Islam in Indonesien traditionell als moderat und tolerant beschrieben wird. Seine Spiritualität hat hierbei eine große Rolle gespielt und das tut sie noch immer.

Im Laufe der Geschichte und mit dem Erscheinen von ethnologischen Forschern, die die lokalen Begebenheiten versuchten zu beschreiben und durch ihre eigene kulturelle und religiöse Brille betrachteten, wurde jedoch die originelle islamische Tradition des Archipels als mit synkretistisch verwobenen Elementen und Ritualen eigene lokale Form des ­Islam beschrieben. In vielen Fällen wurde jedoch die den in Nusantara lebenden Menschen eigene Symbolsprache und Symbolik als nicht-islamisch verstanden und nicht versucht zu verstehen. Dadurch wurde das Bild eines nicht-authentischen indonesischen Islam geschaffen, dass bis heute Indonesien und indonesische Islamwissenschaften in die muslimische Peripherie katapultiert. Dass, zum Beispiel, die Walisongo die Islamische Lehre teilweise lokalisiert haben, schädigt nicht ihre Authentizität. Damals wie heute gehört die Mehrzahl zur Ahlu Sunnah wal’Dschama’a, wie sie traditionell verstanden wird, und folgt der schafi’itischen Rechtsschule und der Theologie (‘Aqidah) Asch’aris.

Wie die Seele das Göttliche erfährt
Historisch gesehen hatten die Walisongo vor allem auf der Insel Java eine ausgesprochen wichtige Rolle in der Verbreitung des Islam. Sie riefen die Menschen in verschiedenen Teilen der Insel mit verschiedenen Methoden und Da’wa-Ansätzen zur Einheit Gottes. Dabei spielte das Nutzen von Symbolen und Symbolsprache, die ein Teil der javanischen Kultur und Epistemologie ist, eine wichtige Rolle. Die Zahl neun selbst hat einen starken Symbolcharakter in Java. Sie symbolisiert die acht Windrichtungen, wobei die neunte Richtung das Zentrum ist. Die Etablierung eines 9er- Rates ist deshalb eines von vielen Beispielen, welches die wohl überlegte Strategie der Walisongo bei der Verbreitung des Islam in Java illustriert. Es schien ihnen bewusst zu sein, dass sie sich einer heterogenen Bevölkerung gegenübersahen, die jedoch verband, dass sie in Symbolen dachten, sprachen und Spiritualität lebten.

Ausgesprochen professionell verstanden die Walisongo, wie die Seele des traditionellen Javanischen Menschen das Göttliche erfährt und passten an dieses Verständnis ihre Da’wa-Methoden an. Der Rat der neun Heiligen verstand, wie die Javanische Seele die göttliche Wahrheit erfuhr, weil sie die geographischen, linguistischen, kulturellen und spirituellen Rahmenbedingungen verstanden, in die sie hineingedrungen waren. Das scheinbar Fremde, Islam, wurde durch die Walisongo lokalisiert und so der ­Javanischen Seele zugänglich gemacht.

Die Walisongo
Die Mehrzahl der Walisongo war ursprünglich nicht aus Java. Sie kamen, so die Überlieferung, aus verschiedenen Teilen der muslimischen Welt nach Java, um den Islam zu verbreiten. Bei ihrer Ankunft nahmen sie jedoch lokale javanische Namen an, sprachen die einheimische Sprache und heirateten in die lokale Gesellschaft ein. So wurden sie nicht mehr als Außenseiter wahrgenommen, sondern waren nun Insider und Teil der porösen Austronesischen Verwandtschaftsstruktur.

Die Walisongo hatten außerdem die dualistische Weltanschauung der Javanischen Kultur erkannt, die allgemein mit dem femininen und maskulinen oder dem Yin und Yang Prinzip, und auch mit der dualistischen Unterscheidung von Schönheit und Majestät beschrieben werden kann. Gleichzeitig hatten sie auch die Wichtigkeit der Phonozentrizität (die Überzeugung, dass gesprochene Sprache und Geräusche der schriftlichen Sprache überlegen sind) und akustischen Frömmigkeit der Javaner verstanden. Beides rührt von dem jahrhundertelangen Einfluss der Sanskrit Sprache auf die damals Hindu-Buddhistischen Javaner.

Herzen erreichen
Nachdem sich die Walisongo als Insi­der in der javanischen Gesellschaft etabliert hatten, versuchten sie mit verschiedenen Methoden die Menschen mit dem Islam bekannt zu machen. Eine dieser Methoden war die Modalität von Klang, gesprochenem Wort und Klangwelten. Sunan Kalijaga (1455-1586), der vor allem in Zentraljava tätig war, setzte zum Beispiel das Schattenpuppentheater, Wayang Kulit, als Da’wa-Werkzeug ein. Dabei hatte er nicht nur Hindu-Buddhistische Symbole re-interpretiert sondern auch die Zuschauer durch die Klangwelten des Gamelans (ein traditionelles vielschichtiges Javanisches Schlaginstrument) für die theologischen, ethischen und spirituellen Lehren des Islam gewonnen. Weiterhin war Sunan Kalijaga ursprünglich aus Java und hatte somit auch einen noch besseren Zugang zu der lokalen ­Bevölkerung als seine Kollegen aus dem neuner Rat. Andere Mitglieder des Rates der neun heiligen Männer nutzten ­traditionelle javanische Dichtkunst, die gewöhnlich in überlieferter Weise gesungen wird. So zum Beispiel Sunan Muria (wahrscheinlich 1551 gestorben), der auch in Zentraljava predigte und die Methode die javanische Kultur zu nutzen, um die Lehren des Islam zu verbreiten von seinem Vater übernommen hatte. Nachdem die Herzen der Menschen in Java geöffnet waren, den Walisongo zugeneigt und ihre Methoden wohlwollend angenommen wurden, begannen die ­Walisongo mit dem Unterrichten und der Weitergabe von weiteren wichtigen Aspekten der Religion.

Strategien
Neben den oben bereits erwähnten Methoden zur Verbreitung des Islam, nutzten die Walisongo weitere Strategien. Viele von diesen erinnern auch an die Methoden, die der Prophet Muhammad nutzte, um den Menschen der damaligen Zeit auf der arabischen Halbinsel den ­Islam zu vermitteln. Die Walisongo bauten Moscheen beziehungsweise das, was wir heute islamische Zentren nennen. Denn es ­waren nicht nur Orte der Anbetung sondern auch Orte des Lernens und der Lehre. Weiterhin wird überliefert, dass das erste Pesantren (traditionelle Islamschule in Java, die mittlerweile in ganz Indonesien verbreitet sind) von einem der Walisongo gegründet worden ist.

Ein weiterer interessanter Punkt in der Dawah-Strategie der Walisongo ist die geostrategische Aufteilung der Insel Java in verschiedene Gebiete. Auch hier ist die Versiertheit über die lokalen Begebenheiten und Spezifitäten der Walisongo ausschlaggebend. Wie bereits ­detailliert beschrieben wurde der Islam durch eine Strategie der überzeugenden Nähe an die Bevölkerung herangetragen. Die Unterrichtung (nicht die Inhalte) in der islamischen Glaubenslehre (‘Aqida) wurde an die Umstände und Situation angepasst.

Die nahezu perfekte Beherrschung der Javanischen Sprache durch die Walisongo möchte ich an dieser Stelle noch einmal hervorheben, denn sie war für die erfolgreiche Verbreitung des Islam von herausragender Bedeutung. Dies beinhaltete auch die drei Sprachebenen, die je nach sozialer Schicht und familiärer Stellung teilweise ein vollkommen unterschiedliches Vokabular gebraucht. Die zum großen Teil nicht-javanischen Walisongo beherrschten Javanisch in einer Art und Weise, dass sie die javanische Dichtkunst für die Verbreitung ihrer Mission nutzen konnten. Sie erwarteten nicht, dass die Mehrheit der Bevölkerung Konzepte in arabischer Terminologie verstand, sondern übersetzten und übertrugen essentielle Lehren in die lokale Sprache. Sunan Ampel (1401-1481) zum Beispiel, der in Surabaya, in Ostjava tätig war, ist bekannt für seine Fünfer-Lehre, in der er die Javanische Bevölkerung über fünf negative Gewohnheiten aufklärt, die im Islam verboten sind. Moh Main, Moh Ngombe, Moh Maling, Moh Madat und Moh Madon. kein Glücksspielen, kein (Alkohol) trinken, nicht stehlen, keine Drogen ­konsumieren und keine außereheliche Beziehungen unterhalten. Eine ähnliche Herangehensweise finden wir auch in der Verbreitung des Islam in China, wo selbst das Wort ‘Islam’ in die chinesische Sprache, Weltanschauung und Spiritualität übersetzt und somit zugänglich gemacht wurde ohne die eigentliche innewohnende Essenz zu verlieren.

Weiterhin hatten die Walisongo sehr darauf geachtet, dass sie die Lehren des Islam nicht nur predigten, sondern diese auch im Alltag lebten. Hilfe für die ­Armen, Benachteiligten und Nachbarn und ein harmonisches Zusammenleben hatten dabei hohe Priorität. Und sie hatten sich neben ihrem Fokus auf die normale Bevölkerung auch speziell auf die führende Elite Javas konzentriert.

Orte der Walisongo heute
Bis heute werden die Walisongo von der indonesischen Bevölkerung respektiert und ihre unvergessliche Arbeit für den Islam in Indonesien wertgeschätzt. Unter anderem indem ihre Gräber besucht werden (arab. zijara) und für sie Bittgebete und Koran gelesen werden. Die historischen Moscheen, die von den Walisongo errichtet worden sind, sind spirituelle Orte der Einkehr und Besinnung. Sie zeigen des Weiteren ein wunderschönes architektonisches Beispiel wie der Islam in Indonesien lokalisiert wurde, denn die meisten alten Moscheen sind in einem lokalen Stil gebaut worden.

Zusammenfassung
Dieser Artikel stellt eine kurze Einleitung in das komplexe Thema der Verbreitung des Islam in Indonesien und speziell auf der Insel Java dar. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Islam in der südostasiatischen Region und speziell in dem Archipel von Nusantara friedlich verbreitet wurde und bis heute fast ausschließlich friedlich gelebt wird. Die ­Lokalisierung der islamischen Lehre ist dabei ein hervorstechendes Merkmal. Die harmonische Existenz verschiedener ­Religionen, Kulturen und ethnischen Gruppen ist typisch für Indonesien.

Meiner Meinung nach können wir von der Art wie Islam in Indonesien verbreitet wurde und heute gelebt wird auch für unseren deutschen und europäischen Kontext einige wertvolle Hinweise und Inspirationen finden. Die Methode der Lokalisierung sollte hierbei genauer ­betrachtet werden. Es ist weiterhin essentiell, dass wir diesem bevölkerungsreichsten muslimischen Land, seinen muslimischen Gelehrten und seiner ­islamischen Geschichte mehr Aufmerksamkeit in unserem framing der muslimischen Welt schenken. Und vor allem auch in der akademischen Welt, speziell in den Islamwissenschaften und der ­Islamischen Theologie, endlich anerkennen, dass auch die sogenannte und falsch verstandene „muslimische Peripherie“ in Südostasien zu unseren muslimischen und inter-religiösen Diskursen wertvolle Beiträge leisten kann.

Anmerkung: Die Jahresangaben sind teilweise nicht vollkommen authentisch nachvollziehbar, da mit der Kolonialisierung Javas durch die Holländer der traditionelle javanische Kalender teilweise nicht akkurat oder vollständig erhalten wurde. Wir können jedoch davon ausgehen, dass die Walisongo ab dem 15. Jahrhundert in Java wirkten.

Dr. Claudia Azizah Seise ist promovierte Südostasienwissenschaftlerin. Ihr Buch „Religioscapes in Muslim Indonesia“ ist bei regiospectra Verlag erschienen.

IG/Twitter: @clazahsei