Das Übel des Takfirs oder die Gefahr der Ignoranz

(iz). Vor wenigen Monate wurde die Studie eines US-amerikanischen Sicherheitsinstituts [Deadly Vanguards: A Study of al-Qa’ida’s Violence Against Muslims, CTC Publications] veröffentlicht, in der statistisch nachgewiesen wurde, dass die allermeisten Opfer des Terrors seitens extremistischer muslimischer Gruppierungen vor allem Muslime selbst sind.

Aber auch in Deutschland ist diese gefährliche Unsitte leider verbreitet. So erreichen unsere Redaktion manchmal aus diversen Emailverteilern namenlose Emails, die zum Takfir (die Erklärung, dass andere Muslime wegen angeblich falscher Absichten den Islam verlassen hätten) auffordern. Auch wenn solche Fehlgeleiteten keine Grundlage haben, auf der sie argumentieren könnten, verwirren sie gerade unter jüngeren Muslimen die schwächeren Gemüter.

Heutzutage haben einige Unarten um sich gegriffen, die dem Islam schaden können – zur Freude seiner Gegner. Dazu zählt die Behauptung, bestimme Muslime – die nicht die Positionen der entsprechenden Personen teilen – hätten ihren Glauben aufgegeben. Es gibt Aussagen unseres Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, über die Prüfungen unserer Zeit und ihrer Unordnung (arab. Fitna). Wir finden im Sahih von Imam Muslim und anderen Hadith-Meistern prophetische Aussagen, die vom Blutvergießen unter Muslimen in unserer Zeit sprechen.

Zu Beginn muss darauf hingewiesen werden, dass die Praxis des Takfir aus dem letzten Jahrhundert stammt und wir eine Zunahme beobachten. Diese Denunziation ist zu einem Werkzeug der Unwissenden geworden, Missbrauch und Ermordung von Muslimen zu rechtfertigen.

Im größten Teil der muslimischen Geschichte gibt es nur sehr wenige ernsthafte Fälle von Spaltungen. Wir haben unsere ‘Aqida (Glaubenslehre), das islamische Recht (Fiqh oder Schari’a) und Ihsan (Tariqa, Tasawwuf oder Reinigung des Selbst). Die führenden Rechtsgelehrten hegten Zuneigung für einander. Das gleiche galt für die Imame der ‘Aqida und anderer islamischer Wissenschaften. Sie waren eine große Familie, die sich gegenseitig Respekt zollte.

Diejenigen, die Takfir in der muslimischen Welt einführten, haben sich zwischen die Offenbarung und Muslime gestellt. Sie haben die Leute von den Gelehrten getrennt. Jene beschützten die Religion, indem sie sich an den ersten Generationen des Islam ausrichteten. Die Gelehrten vermieden die Beschuldigung eines Muslims, er oder sie hätte den Glauben verlassen. Wir erfahren aus einem Hadith unseres geliebten Propheten, dass wir jene Dinge meiden sollten, die das Leben oder die Gesundheit eines Muslims schädigen könnten.

In seiner “Tabaqat” schrieb Imam Asch-Scha’rani: “Einmal wurde Schaikh Al-Islam Taqi Ad-Din As-Subki gefragt, ob es notwendig sei, jene zu Nichtmuslimen zu erklären, die [schädliche] Neuerungen in den Islam einbringen und einige Verse des Qur’ans falsch auslegen? Er entgegnete: ‘Ich solltet wissen, dass es für jene, die Allah fürchten, sehr schwierig ist, jemanden des Unglaubens zu beschuldigen, der sagt, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Muhammad Sein Gesandter ist.'”

Einen Muslim des Unglaubens zu beschuldigen ist eines sehr gefährliche Sache. Die würde bedeuten, dass man ihm sagt: “Du wirst für immer in der Hölle bleiben.” Tausende nicht des Unglaubens zu beschuldigen und sich darin zu irren, ist besser als im Falle eines einzigen Muslims einen Fehler zu begehen, indem man diesen irrtümlich angreift. Es gibt das folgende Hadith: “Ich ziehe es vor, wenn ein Imam eine Person fälschlicherweise entschuldigt, als wenn er diese fälschlicherweise beschuldigt.”

Imam As-Subki führte dazu weiterhin aus: “Die Regeln des Takfir sind eine sehr komplexe Angelegenheit – mit wenig Klarheit und vielen Zweifeln behaftet. Es gibt dafür viele Richtlinien und Bedingungen. Zuerst einmal ist eine gute Beherrschung des Arabischen, all seiner Dialekte und Ausdrücke in ihrem wörtlichen und übertragenen Sinne nötig. Man muss alle Feinheiten der Wissenschaft des Tauhids und ihrer komplizierten Punkte kennen. Darüber hinaus muss man auch in vielen anderen Wissenschaften zu Hause sein. Dies ist für die meisten Gelehrten unserer Zeit kaum zu leisten, von einfachen Leuten ganz zu schweigen. Wie können diejenigen, die nicht in der Lage sind, ihre Zunge vor jenen Worten zu hüten, die ihren eigenen Glauben schaden, die Religion anderer vor schädlichen Worten beschützen? Uns bleibt nichts anderes übrig, als das Urteil in Sachen Takfir für jenen zu reservieren, welche die beiden Elemente des Glaubensbekenntnisses leugnen; und als Ergebnis den Islam verlassen haben. Jedoch ist dies nur ein seltener Fall.”

Imam As-Subkis Worten legen den Schluss nahe, dass nur die vollkommen Unwissenden und solche, die Allah nicht fürchten, leichthin Muslime zu Ungläubigen erklären. Wenn Takfir zu einer leichten Sache wird, führt dies zu Unruhe, Gewalt, Chaos und üblen Dingen. Dann gibt es keinen Platz mehr für den Islam. Dies ist genau das, was unser geliebter Prophet sagte, als er die Zeit kurz von dem Jüngsten Gericht beschrieb.

Es gibt ein Hadith des Propheten: “Wenn sich zwei Muslime mit ihren Schwertern bekämpfen, gehen sowohl der Mörder als der Ermordete in das Höllenfeuer.” Da wurde der Gesandte Allahs gefragt: “O Gesandter Allahs, warum muss der Getötete ins Feuer eintreten?” Der Prophet entgegnete: “Wäre er nicht getötet worden, dann wäre er der Mörder geworden, denn er hatte eine Tötungsabsicht.”

Gelegentlich kommen einige und rufen Ärger hervor. Diese Leute kennen nichts vom Islam außer wenigen Überlieferungen; als würde das heilige Gesetz nur auf drei oder vier Überlieferungen beruhen! Sie ignorieren die anderen qur’anischen Verse und Überlieferungen, die von den Imamen übermittelt wurden sowie ihre Erläuterungen jener Verse und Überlieferungen. Was geschieht, wenn Leute ihre Religion auf wenigen prophetischen Aussagen – die sie selbst auslegen – aufbauen?

Wir sollten uns daran erinnern, wer in der Geschichte Muslime getötet hatte. Wer tötete den zweiten, rechtgeleiteten Khalifen ‘Uthman? Und als was bezeichneten sie sich: Muslime oder Nichtmuslime? Sie behaupteten, sie seien Muslime auf der Suche nach einem guten Herrscher. Jedoch vergaßen sie, dass ‘Uthmans zweiter Name “Dhu’l-Nurain” war – der Besitzer der beiden Lichter. Der Prophet gab ihm zwei seiner Töchter als Ehefrauen. Erinnerte sich keiner seiner Angreifer, dass ‘Uthman ibn ‘Affan zu jenen Prophetengefährten gehörte, denen der Garten versprochen war? Ihr Hass auf die Wahrheit machte sie blind, führte zu Blutvergießen und schließlich zur Ermordung von ‘Uthman, der sein Leben gab, obwohl er sie hätte zu jedem Zeitpunkt ausschalten können. Ihm standen umfangreiche Mittel zur Verfügung, aber er fürchtete sich davor, das Blut der Gläubigen zu vergießen. Hätte er es den Muslimen befohlen, wären ganze Armeen zu ihm geströmt, aber er lehnte das Vergießen vom Blut der Muslime ab.

Wir wissen von den Büchern der islamischen Geschichte, dass es immer durch Leute mit einem schwachen Iman, einem falschen Verständnis ihrer Religion und einem beschränkten Verstand zu Problemen kam. Ibn Battal erläuterte in einem Kommentar auf ein Hadith aus dem Sahih Al-Bukhari, in dem der Prophet sagte: “Sollten ihr auf dem Weg zum Markt oder zur Moschee einen Pfeil mit euch führen, so haltet ihn an der Pfeilspitze fest.” Der Sinn dessen sei laut Ibn Battal, dass kein Mensch unbeabsichtigt dabei zu Schaden komme. Was würde der Prophet wohl zur heutigen Lage sagen?

Schaikh ‘Alawi Al-Maliki schrieb in seinem Buch “At-Tahzin min Mudschazat bi’l-Takfir”, dass die großen Gelehrten der Praxis des Takfir immer aus dem Weg gingen. Die Menschen brauchen Erziehung. Ziehen wir wirklich Nutzen aus der Fitna [wörtl. “Versuchung”, Unruhe oder Bürgerkrieg im übertragenen Sinne]? Wir sollten die Leute unterweisen, wie sie beten und fasten. Wir sollten sie lehren, den Propheten, seine Gefährten, die Imame und die Rechtschaffenen zu lieben. Stattdessen lernen die Jüngeren, wie man eine Fitna anfängt. Wäre es nicht besser für jene, die dem Islam helfen wollen, die Menschen darin zu unterweisen, die Schahada [das doppelte Glaubensbekenntnis] auszusprechen, zu beten und richtig zu fasten?

Aus gegebenem Anlass – Hintergrund: Antworten auf den zeitgenössischen Nihilismus aus dem muslimischen Denken. Von Abu Bakr Rieger

(iz). Wenn man sich die Frage nach Europa, dem Islam und dem Nihilismus neu stellt, dann ist dies für europäische Muslime nichts anderes als die eigene Frage als Gestalt. Dies gilt natürlich besonders für Europäer, die zum Islam konvertiert sind und heute als europäische Muslime über ihre eigenen Erfahrungen an der denkwürdigen Linie, die den Nihilismus und den Islam trennt, reflektieren.

Ich erinnere mich natürlich auch noch an meine persönliche Situation, die dazu führte, den Nihilismus als meine eigene geistige Haltung zu Gunsten des Islam aufzugeben. Diese „gefährliche Begegnung“ mit europäischen Muslimen geschah zu meiner Studentenzeit in Freiburg.

Ich hatte zu dieser Zeit das Christentum innerlich verlassen. Ich bewunderte Albert Camus; den französischen Schriftsteller mit der Zigarette, und las seinen „Mythos von Sysyphos“. Ich bewunderte damals den Versuch des Existenzialisten, in einer trostlosen und sinnlosen Zeit zumindest „Haltung“ zu bewahren.

Ich war allerdings auch ein wenig irritiert, dass Camus selbst, man könnte sagen „absurderweise“, seinen Tod bei einem merkwürdigen Autounfall fand. Er starb auf einer ewig geraden Landstraße. Sein Reifen war „zufällig“ geplatzt und sein Auto zerschellte an dem einzigen kleinen Bäumchen weit und breit.

Ich erinnere mich an eine Andere, vielsagende „absurde“ Episode in meinen Freiburg Studententagen. Genauer gesagt ging es um einen Vorfall, der die Freiburger Öffentlichkeit empörte und mich doch ein wenig amüsierte. Der prachtvolle Sitz des Freiburger Bischofs wurde mit großem Aufwand frisch gestrichen und erschien in weißem Glanz. Ein unbekannter Anarch schrieb nun an diese weiße Wand „Gott ist tot“. Der Sprayer unterschrieb diesen bösen Satz schlicht mit „Nietzsche“. Die Wand und der grelle Satz wurde natürlich über Nacht eilig weiß überstrichen. In der nächsten Nacht schrieb aber ein anderer Sprayer an gleicher Stelle „Nietzsche ist tot“ und unterschrieb in geschwungener Handschrift mit „Gott“.

Auf die dringliche Frage meines damaligen Gesprächspartners, der mich in langen Gesprächen geduldig in den Islam einführte, woran ich denn selbst glaube, antwortete ich daher wahrheitsgemäß: „An nichts. Ich denke Camus hat Recht. Das Leben ist absurd. Es gibt keinen Gott“.

Die Antwort der europäischen Muslime, mit denen ich zusammensaß, auf diese schienbar provokante Feststellung war souverän! Sie zeigten sich nicht etwa provoziert, lächelten sogar, und klärten mich auf, ich bestätigte ja immerhin bereits den ersten Teil der Schahada. Ich fand so heraus, dass die Feststellung Nietzsches, wonach Gott – im christlichen Sinne – tot sei, philosophisch aus der Sicht dieser Muslime in bestimmter Weise seine Berechtigung habe. Ich staunte! Im Übrigen – so die Muslime weiter – sei die Welt nichts Anderes als eine Art Spiegel, in den man hineinschaue. Was blieb mir übrig, als genauer nachzudenken, wie ich in diesen Spiegel künftig hineinschauen wollte?

Aber kommen wir noch einmal auf Friedrich Nietzsche zurück. Nietzsche, der berühmte Deutsche, der bekanntlich mit dem Hammer philosophierte und der einen gewichtigen Teil des europäischen Denkgebäudes zum Einsturz brachte. Natürlich wollte Nietzsche dabei weder ein gefährliches, neues gottloses Menschenwesen schaffen, noch plump alle Glaubensriten an sich abschaffen.

Nietzsche bewegte vielmehr die Not, den Menschen auf eine neue Welt, auf ein neues Denkgebäude – ohne den bisher gewohnten „christlichen Gott“ – vorzubereiten. Mit anderen Worten: Nietzsche dachte über den Nihilismus nach, ohne selbst einfach nihilistisch zu sein.

Dass es zu kurz fasst, Nietzsche als „Ungläubigen“ abzustempeln, zeigt eine andere Episode seines Denkens. Vor seinem Tode erklärte Nietzsche, er verstehe nicht, warum die Deutschen nicht den Islam statt dem Christentum angenommen hätten. Europa, so Nietzsche polternd, habe zwei Probleme: „Alkohol und Christentum.“ Nietzsches Pessimismus über die geistige Lage Europas gipfelte bekannterweise in dem Satz: „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.“ Die Frage nach dem Nichts beschäftigte jedenfalls zunehmend die großen Geister. In einem Brief des Dichters von Kleist an seine Verlobte aus dem Jahre 1801 findet sich eine treffende Beschreibung der persönlichen Erfahrung des Nihilismus dieser Tage.

Kleist beschreibt in diesem Brief die radikale Konsequenz des neuen Denkens, die Relativierung der Möglichkeit jeder Wahrheit: „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrscheinlich Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich-. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich hab nun keines mehr-.“

Keine Ziele, Keine Wahrheit – was folgt aus den Worten des jungen begabten Dichters? Geradezu Unglaubliches sollte nun gelten. Statt einer allgemein verbindlichen Wahrheit bleibt dem Menschen nur noch eine Art Subjektivität! Politisch blieb einer ganzen Generation von „jungen Dichtern, ohne objektiven Wahrheiten“ nur der aufkommende Nationalismus, eine aufbrausende Gefühlsregung und gefährliche Selbstüberhöhung zugleich, die Millionen Europäern als künftiger Religionsersatz dienen sollte. Aber nicht nur Gott befand sich in Auflösung, auch das eigene „Ich“ – und damit eigentlich alle überkommenen Vorstellungen von der Ordnung dieser Welt.

Dostojewski stellte nun eine weitere radikale Frage, nämlich die, ob in einer Welt ohne Gott nicht auch alles erlaubt sei? Eine Jahrhundertfrage, die einige Brisanz haben sollte. In der neuen gottlosen Welt standen sich ja plötzlich hochgerüstete, vom Nationalismus beseelte, subjektiv denkende Völker gegenüber. Ohne die gewohnte christliche Moral eine gefährliche und brisante Lage. Einige Jahrzehnte später, im Angesicht des anrollenden 1. Weltkrieges, rief der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke erschrocken aus: „Die Erde ist endgültig dem Menschen in die Hände gefallen.“

Die verheerenden Weltkriege und ihre furchtbaren Bilder sind es ja auch, die bis heute der verbreiteten nihilistischen Grundhaltung einiges an Argumenten liefern. Man denke nur an die industrielle Vernichtung von Menschen, den Holocaust und die Atombomben. Hannah Arendt kommentierte angesichts Ausschwitz und dessen andauernden Folgen für den Humanismus nur: „Dies hätte nicht passieren dürfen“.

Die Gründe für eine mögliche nihilistische Haltung sind wahrlich nicht ausgegangen, stehen wir doch alle in der Not, nicht zu wissen, was der Mensch angesichts von Leid und Umweltzerstörung überhaupt noch ausrichten kann. Die moderne Technik ist nach Heidegger aber nichts anderes als ein gewaltiges „Herausfordern“ der Schöpfung. Wir erleben dieses „Herausfordern“ – man erinnere sich nur an das Öl-Debakel im Golf von Mexiko – beinahe alltäglich. Alle Katastrophen lehren uns, dass, obwohl wir wissen, wir nicht handeln können! Uns scheinen sprichwörtlich die Hände gebunden!

Gerade die aktuelle Finanzkrise zeigt dabei die fragwürdige Rolle der politischen Souveränität. Weder Nationen noch Parteien scheinen noch die Macht zu haben, wie wir heute sehen, die globale Kraft der Finanzökonomie substanziell zurückzuweisen. Schlimmer noch: Jedem Widerstand – wie der Anti-Globalisierungsbewegung – droht der „Spirit“ auszugehen. Jeder, ob allein oder in Gruppen, der versucht, mit einigem Idealismus sich der „Wüste“ entegenzustellen, droht der „Spirit“, die nötige Geisteskraft auszugehen. Ist das etwa die geheimnisvolle, lähmende Kraft des Nihilismus, die uns jederzeit ergreifen kann? Schon im postmodernen Deutschland stritten sich der Philosoph Martin Heidegger und der Schriftsteller Ernst Jünger über die Folgen des Nihilismus. Sie diskutierten die alten, neuen Fragen unserer Zeit: Kann man noch gegen den Nihilismus handeln; und wenn ja, wo, wer und wie?

Was Jünger als Aktion gegen den Nihilismus vorschlug, war eine Art heldenhafter individueller Widerstand, eine Art extreme Auseinandersetzung mit dem Nichts, das dann, so Jünger, „nach seiner Überwindung jene Schätze freisetzen wird, die es ehemals verborgen hielt“. Jünger sah also durchaus Grund für Optimismus. In seiner berühmten Schrift „Über die Linie“ schrieb Jünger: „Die metaphysische Beunruhigung der Massen, das Auftauchen der Einzelwissenschaften aus dem kopernikanischen Raum und das Auftreten von theologischen Themen in der Weltliteratur, sind Positiva hohen Ranges, die man einer rein pessimistischen oder auf Untergang gerichteten Lagebeurteilung mit Recht entgegenhalten kann“.

Aber natürlich wusste auch Jünger, dass der Nihilismus nicht einfach mit ein wenig „gutem Willen“ überwunden werden kann. Auch Jünger sah, dass es dazu mehr brauchte als „nur“ eine menschliche Entscheidung oder eine schlichte Ideologie. Den Menschen kann überhaupt nur noch – wie es Heidegger später mysteriös im „Spiegel“-Interview formulierte – ein „Gott“ retten. Ein Gott? Was meint aber das Wort „Gott“ für den Nietzsche-Verehrer Heidegger? Nur so viel ist gewiss: Heidegger, insofern radikaler denkend als Jünger, setzte den vollendeten Nihilismus, die vollkommene Seinsvergessenheit mit der vollständigen Entmachtung der Subjektivität gleich!

Heidegger fasste dieses Dilemma in einem Briefwechsel mit Kästner so: „Kein menschliches Rechnen und Machen kann von sich aus und durch sich allein eine Wende des gegenwärtigen Weltzustandes bringen; schon deshalb nicht, weil die menschliche Machenschaft von diesem Weltzustand geprägt und ihm verfallen ist. Wie soll sie dann je noch seiner Herr werden?“

Die Werke Jüngers und Heideggers fassten aber immerhin einige wesentlichen Voraussetzungen für einen neuen Anfang und ein neues Denken. Man könnte diese so zusammenfassen: Ein neues Denken kann nicht im alten Subjekt-Objekt-Verhältnis denken. Nötig ist kein blinder Aktionismus, sondern das Überdenken der europäischen Geistesgeschichte – und, als eine Komponente jenseits des menschlichen Willens: Es braucht hierzu natürlich ein gutes Schicksal.

Hier nun taucht auch der Islam am Denkhorizont auf. Weist der Islam den Europäern etwa einen Weg aus dem Nihilismus und wenn ja, mit welcher denkerischen Berechtigung?

Zweifellos ist es die islamische Lebenspraxis selbst, die das Dasein zu ganz neuen, fundamentalen Wahrnehmungen führt. Im Kern dieser Wahrnehmung, jenseits von Subjekt und Objekt, jenseits von Ich und Gott, steht ein denkwürdiger Satz Ibn Al-Arabis: „Allah regiert die Schöpfung aus sich selbst heraus.“

Wie kommen wir an diesen Ort, der jenseits von „Innen“ und „Außen“ liegt und sich nicht finden lässt, wenn man sich als ein Gegenüber eines Gottes versteht? Imam Al-Dschunaid sagte über diesen denkwürdigen geistigen Vorgang, der so schwer in Sprache zu fassen ist: „Tasawwuf ist, dass du mit Allah bist ohne Verbindung, und dass Seine Wahrheit dein Ich verschwinden lässt und dann dich mit Ihm zurück zum Leben bringt“.

Bedenken wir aus dieser neuen Sicht heraus nochmals die Lebenspraxis des Islam. Die aufregende Frage ist dabei: Steht diese Praxis tatsächlich im Widerspruch zu den Einsichten der europäischen Philosophie? Hier muss man sich nochmals die Fünf Säulen des Islam vergegenwärtigen.

Da ist zunächst die Schahada, die, wie ich bereits erwähnt hatte, in ihrem ersten Teil die Verneinung der christlichen Metaphysik umschließt. Das Glaubensbekenntnis bestätigt die absolute Einheit und verneint – im Gegensatz zum Christentum – die Möglichkeit der Trinität.

Aus ihr folgt, das Gebet, das eine völlig neue Wahrnehmungsebene eröffnet. Das Gebet beginnt mit Feststellung, dass Allah nicht nur groß, sondern größer ist! Uns eröffnet sich eine dynamische, nie ganz zu fassende Wirklichkeit.

Wir erfahren auf der Hadsch die Subs­tanz der menschlichen Existenz, herausgelöst aus den Gegensätzen von Raum und Zeit, Vergangenheit und Zukunft, ein Kreisen, die Auflösung der Gegensätze, das Ende der Dialektik von Raum und Zeit. Die Zahlung der Zakat, zu der wir verpflichtet sind, nötigt uns auf, „Dinare“ beziehungsweise echtes Geld zu drucken, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Das Verbot der Zinsnahme, das uns Allah befiehlt, eröffnet uns die Möglichkeit einer neuen gerechten Wirtschaft! Und schlussendlich: Das offenbarte Konzept einer funktionierenden ökonomischen Ordnung eröffnet die Möglichkeit eines neuen Nomos.

Im Monat des Ramadan, dem wir mit Freude entgegensehen, erleben wir die Möglichkeit der Freiheit und das Zutrauen in die versprochene Versorgung.

Ist es also diese Lebenspraxis des Islam, die den Nihilismus überwindet? Das wird natürlich nicht heißen können, dass die alltägliche Auseinandersetzung mit dem Nihilismus für uns Muslime nicht mehr zu spüren wäre und dass man vor nihilistischen Zuständen als Muslim immer sicher wäre. Der Nihilismus ist tatsächlich ein so mächtiger Gegner, dass man ihm nicht alleine und ohne Hilfsmittel gegenübertreten kann. Im Islam und der Sunna des Propheten finden sich die Grundlagen für ein Miteinandersein, für die Erfahrung der Einheit und eine Sammlung von Handlungsanweisungen, die im Zusammenspiel an den Ort jenseits des Nihilismus führt.

In der Offenbarung des Qur’ans ist diese Botschaft einstimmig und eindeutig zusammengefasst. Sie steht der Offenbarungsform der Technologie, also der Vieldeutigkeit und Vielstimmigkeit des Internet gegenüber. In der Rezitation des Qur’ans, in der Feier der Sprache, wurzelt auch das Gegengift gegen die Stimmung der Langeweile und Lähmung, die sich im Nihilismus notwendigerweise breit macht.

Rainer Maria Rilke – der bis sehr nahe an das Tor des Islam rückte, dichtete unter dem Eindruck des europäischen Nihilismus: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“.

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Rechtsquellen von Imam Malik (6)

(iz). Es gibt auch den Fall, wenn der Grund für das Fehlen einer Definition eines Textes an etwas anderem als seiner linguistischen Form liegt. Ein Beispiel dafür sind die Worte […]

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Alltag der Muslime: Wie Waisen und Pflegekindern helfen?

„Hat Er dich nicht als Waise gefunden und (dir) dann Zuflucht verschafft und dich irregehend gefunden und dann rechtgeleitet und dich arm gefunden und dann reich gemacht?“ (Sura Ad-Duha) (iz). […]

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Brauchen wir einen Öko-Islam in Deutschland?

Dieser Beitrag wurde als Positionen zur Tagung „Wie ‘grün’ ist der Islam? – Umwelthandeln und Klimaschutz aus muslimischer Perspektive“ in der Evangelischen Akademie Loccum, Niedersachsen, am 5.11.2010 vorgetragen und ist hier für die IZ aktualisiert.

(iz). Als Vorstandsmitglied der Schura Niedersachsen, als Geologe und Muslim, mit der Erfahrung privater Mitwirkung in Umweltgruppen und 30 Jahren beruflicher Tätigkeit im kommunalen Umweltschutz, Umweltverwaltungsrecht und Umweltbildung in Südniedersachsen, erwächst aus dem Thema der Tagung „Wie grün ist der Islam“ unmittelbare Verantwortung. Deshalb gilt besonderer Dank der Evangelischen Akademie Loccum, denn das Thema Umweltschutz und Islam muss in Deutschland noch erweckt werden und in der Tat hat diese Tagung im November 2010 Anstöße gegeben!

Vorweg einige provokante Fragen
Hätte der frühe Homo sapiens – wäre er schon Christ gewesen – das Mammut nicht ausgerottet?
Wären Fischer aus Sansibar nachhaltiger auf Walfang gegangen als Fischer aus Nantucket?
Deutsche Flüsse 1970 – 201; die Gewässergüte wurde von Klasse 3-4 auf 1,5-2 angehoben: Wo ist der religiöse Einfluss?
Wer hat gesagt: „Du bist ein Gast der Natur, benimm Dich!“? Diese Erkenntnis scheint mir ganz ohne Offenbarungsreligion daher zu kommen.
Solardach, Fassadendämmung und Dreifachverglasung am Moscheeneubau in Deutschland: motiviert dazu der Islam, das Einsparen von Energiekosten oder zwingt nicht dazu ganz schlicht das moderne Baurecht mit der Energieeinspar-Verordnung?

Vorweg meine These: Wir brauchen keinen Öko-Islam in Deutschland!
In den islamischen Quellen (Qur’an und Sunna) gibt es zwar zahlreiche Prinzipien und Praktiken, die einen ethischen Umgang mit der Schöpfung und konkretes Umwelthandeln (u.a. Naturschutz, Wasserschutz) berühren und anschlussfähig wären für eine Entwicklung von Öko-Islam.

Umweltschutz in seiner komplexen Ursache-Wirkungsbeziehung – denken wir nur an die globale Erderwärmung und den Klimaschutz – erschließt sich eher kaum aus dem qur’anischen Islam; eher noch punktuell aus dem Vorbild des Propheten. Umweltschutz ist aber vielmehr ein Thema praktischer Vernunft und der Erkenntnis mit dem Ziel des Gemeinwohls. Dessen Wahrung und Entwicklung jedoch ist islamisches Gebot.

Die Bewahrung der Schöpfung ist im Qur’an genau so wenig wie in der Bibel ein Leitthema, denn zur Zeit der Textgenese war die faktische Einwirkung des Menschen auf die Umwelt – im Vergleich zu den heutigen Dimensionen – eher gering. Gleichwohl gab es massive Probleme – aber wohl eher ohne Problembewusstsein: die paläolithische Ausrottung von Mammut, Wollhaarnashorn, Höhlenbär, Riesenhirsch und anderen eiszeitlichen Großsäugern, wie oben in der Frage angedeutet, sowie die römische Entwaldung perimediterraner Räume für (Schiff-)Bauholz; dies aber mit bereits gravierenden regionalen Folgen des Klimawandels und der Agrarbedingungen.

Wir müssen also heute nach Argumenten für die Schöpfungsbewahrung im Qur’an geradezu suchen. Dies ist aber Gebot, denn der Qur’an entfaltet seine Wirkung überzeitlich. Die Entwicklung einer schöpfungsorientierten Blickweise – wenn nach ihr Bedarf besteht – steht weitgehend für den Islam in Deutschland aus. Hier kennt jeder Muslim bereits ein zentrales Hadsch-Gebot: im Ihram, also während des Weihezustandes auf der Pilgerfahrt nach Mekka, darf man keine Pflanzen pflücken oder Tiere jagen. Das Sich-selbst-Zurücknehmen wird jährlich im Ramadan eingeübt. Die Sozialabgabe (Zakat) knüpft begrifflich an die Pflicht an, sein Einkommen als Gottesgabe erst dann sich aneignen zu dürfen, wenn man es durch Teilen zugunsten von Bedürftigen „gereinigt“ hat.

In den „modernen“ Gesellschaften dominiert nicht die Erwartung, als höchstes Glück eines jüngsten Tages Gottes Angesicht teilhaftig zu werden; hier stellt sich das „Glück“ durch erfolgreiche Teilhabe am weltlichen Konsum ein. Wie schlimm, dass so viele Muslime im Lande sich auch hier hinein integrieren! Heißt es doch im Qur’an in der Sure Al-Takatur (Das Streben nach Mehr):

Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen
Das Streben nach Mehr lenkt euch ab, bis ihr die Gräber besucht.
Aber nein! Ihr werdet es bald erfahren.
Wiederum: Aber nein! Ihr werdet es bald erfahren.
Aber nein! Wenn ihr es nur mit Gewissheit wüsstet! Ihr werdet das Höllenfeuer sehen.
Doch, ihr sollt es noch mit dem Auge der Gewissheit sehen.
Dann werdet ihr, an jenem Tage, nach dem Wohlstand befragt.

Klarer ist aus Qur’an und Sunnah das Gebot der Gerechtigkeit abzuleiten, hier als Anspruch des gleichen allgemeinen Zugangs zu den natürlichen Ressourcen, die wir als Gabe des Schöpfers zu unserem Wohle auffassen dürfen. Dazu gehört horizontale Gerechtigkeit, also zwischen den Menschen heute; mehr noch: Gerechtigkeit in der Zeitachse, also zwischen den Generationen. Im hiesigen Kontext als Nachhaltigkeit bezeichnet, ein frühneuzeitlicher Leitgedanke der deutschen Forstwirtschaft. Generationengerechtigkeit: im Islam lässt sich anknüpfen an das wiederholte qur’anische Verbot des Verbrauchs des Vermögens von Waisenkindern durch Pflegeeltern. Bei näherer Betrachtung finden wir, dass das islamische Familienrecht vorrangig auf die Existenz- und Identitätssicherung der je nachwachsenden Generation, also der Kinder, abstellt. Die Entwicklung der öffentlichen Haushalte lehrt uns, dass unsere Generation jetzt schon auf Kosten der Enkelkinder lebt; die Bankenkrise, eigentlich nur ein Fenster in die Krise der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, hat dies überdeutlich gemacht. Das Zinsverbot im Islam ist ein starkes Argument in der finanzwirtschaftlichen Ausrichtung der Gesellschaft im Hinblick auf mehr Generationengerechtigkeit.

Wenn also der Islam in Deutschland und der „modernen“ Welt etwas zum Umweltschutz beitragen kann, dann ist es vielleicht dieser Gedanke der Generationengerechtigkeit, der als Leitbegriff weiterzuentwickeln wäre. Dies betrifft die nachhaltige Bewirtschaftung erneuerbarer Ressourcen (Holz, Wasser, Landwirtschaft und Fischerei, aber auch Atemluft), aber ebenso die vorausschauende Sicherung der Verfügbarkeit fossiler Ressourcen nach Menge, Wirtschaftlichkeit und Zugang: Öl-Gas-Kohle, Erze, Steine und Erden. Dazu gehört auch die sichere Verwahrung atomarer Hinterlassenschaft.

Gerechte Verteilung knapper Güter
Der Islam nahm seine geschichtlich geographische Entwicklung aus überwiegend ariden Gebieten. Wasser ist Lebenselixier und knapp. Seine Bewirtschaftung, also Gewinnung, gerechte Verteilung, Reinhaltung und sparsame Nutzung als Trinkwasser, besonders aber für die Landwirtschaft stellt stets eine außerordentliche Herausforderung dar. Rechtsgeschichtlich betrachtet, stellt sich das Wasserrecht als das älteste und regional bis heute tradierte Rechtsgebiet der Menschheit dar. Das Wasserrecht wiederum zählt zum Kernbereich des Umweltrechtes. Der Islam hat eigene Rechtselemente mitgebracht und in den Ländern existierende Rechtsordnungen und Technologien übernommen und weiterentwickelt. Zentral ist – neben Reinhaltungsgrundsätzen – die Regelung, wonach Wasser Gemeingut ist und nicht gehandelt werden darf: ein äußerst aktuelles Thema weltweit, aber zur Zeit auch in Impulsen einer diesem zuwider laufenden europäischen Gesetzgebung.

Überragende Beispiel der orientalischen Wasserwirtschaft sind die zum guten Teil noch heute bewirtschafteten Bewässerungsanlagen im maurischen Andalusien, besonders aber die Qanate im Iran. Diese mit unzähligen Lichtlöchern und ausschließlich mit Schlegel und Eisen bzw. Hacke, Kratze und Trog vorgetriebenen „Wasserläufe“ (bergtechnisch für horizontale Stollen zur Wasserführung) entnehmen natürlich gespeicherte Sickerwässer der Schuttfächer von Gebirgsfüßen und führen das i.d.R. ganzjährig verfügbare Wasser als Trink-, Kraftwasser und für die landwirtschaftliche Bewässerung über oft dutzende von Kilometern unter verflachendem Terrain bis in die Siedlungen bzw. Städte. Die Qanate sind mit z.T. 5.000 Jahren weit älter als der Islam, ihre Technik und Bewirtschaftung wurden übernommen und bis heute unverändert weitergeführt. Ein altes Beispiel ist das Qanat von Gonabad, mit einem Mutterbrunnen von 350 m Tiefe und einem Alter von über 2.500 Jahren. Zum Vergleich: der berühmte Ernst-August-Stollen im Westharz (fertiggestellt 1864) misst samt Flügelörtern gut 30 km, etliche Qanate im Iran messen über 60-100 km!

Hinter Verteilungsgerechtigkeit und Generationengerechtigkeit steht als Ziel der gute alte deutsche Begriff des Gemeinwohls. Als maslaha kommt es im Kontext des islamischen Rechts vor, ja, es ist hier auch als Handlungsgebot zu verstehen. Dies korrespondiert mit dem qur’anischen Verbot der Verschwendung. Damit hätten wir drei starke islamische Triebfedern eingegrenzt: Schöpfungsbewahrung, Generationengerechtigkeit und Gemeinwohl. Eine reine oder anteilige Orientierung an „Natur“, also Natur als Ersatzreligion, ist Schirk!

Umweltästhetik
Natur, heile Natur, die reine Schöpfung ist uns Menschen mit ihrem Sinn für Ästhetik auch stets ein Ort von Schönheit: Wälder, alte Bäume, Seen, der Strand und die Felsen, Berge und Flussauen, artenreiche Grassteppen, Dünen, der Dschungel und die Wüsten, das ewige Eis, die Farben und der Duft der Blumen und Blüten: all dies bezeugt in ihrer Schönheit, Lieblichkeit und Gewaltigkeit den Schöpfer. Der Mensch bedarf solcher Orte und solcher Momente für die Hygiene seiner Seele. Sie verkommt in der Betonwüste. Natur- und Artenschutz, Landschafts- und Naturdenkmalschutz und damit auch die Vorsorge für die Erholung des Menschen in der Natur fallen zutiefst in die Vorstellungswelt des Islam. Man betrachte nur die Szenerien iranischer oder osmanischer Miniaturmalerei, die Vierzeiler Omar Khayyams, das Mathnawi von Rumi, die Kunst und Tradition der Gärten: realiter oder virtuell – auf Teppichen.

Zurück in den Alltag
Den Muslimen in ihrer Mehrheit in Deutschland fehlen in Bezug auf den Umweltschutz weitgehend identitätsstiftende Vorbilder innerhalb ihrer Community. Solche müssen wachsen. Umweltschutz stand – auch infolge der sozialen Genese der muslimischen Gemeinschaften in Deutschland – nicht auf der Agenda der Verbände oder Ortsmoscheen. Auf die Agenda ist aber im Zuge der Integrationsdebatte und des Nachrückens der nachwachsenden Generation in das Bildungsbürgertum hinein das Gebot der Partizipation in zivilgesellschaftlichen Einrichtungen – mithin auch solcher des Umweltschutzes – getreten. Als gläubige Bürger können sich Muslime in vielen solchen Organisationen beteiligen und gute eigene Ideen und Werte einbringen. Auch soweit sie Migranten sind, sind sie nicht Menschen, die noch an einer Religiosität festhalten; als Gläubige handeln sie in dieser Gesellschaft aus ihrer Verantwortung vor Gott, durchaus im Sinne der Präambel des Grundgesetzes. Hierzu die Muslime und ihre Jugend zu erziehen, das ist eine exzellente Aufgabe im Spannungsfeld zwischen öffentlichen Bildungsträgern, Landesverband und Mitgliedgemeinden.

Was könnte Schura Niedersachsen für einen grünen Islam in Niedersachsen leisten? Gäbe es etwa Leuchtturmprojekte? Ziel wären vorrangig Bildung und daraus abgeleitet eine Partizipation von Muslimen und ihren Gemeinden mit Umweltverbänden:

Ausloten der Potentiale für einen „Grünen Islam“ im Kontext der derzeit laufenden Verhandlungen der muslimischen Verbände mit dem Land über den Abschluss eines Staatsvertrages.
Entwicklung eines umfassenden Halal-Gedankens in Bezug auf die Ernährung und ihre Produktionsbedingungen: „Jeder Ort ist ein Schlachthaus und jeder Tag ist Ramadan!“ könnte man in Anlehnung an eine andere islamische Parole ausrufen. Das heißt: eine sozial, umwelt- und gesundheitsgerechte Ernährung über das ganze Jahr – auch im Sinne von Enthaltsamkeit – und tierschutz-, flächen- und klimaschutzorientierte Fleischproduktion und ein ebensolcher, durch Zurückhaltung geprägter Fleischkonsum. Strikt halal geschächtet, aber voller Masthormone, Schadstoffe und transportbedingten Leidens? Viel Fleisch – Wohlstand – man ist angekommen! Rund um die Uhr in jedem Supermarkt die viele Meter lange Kühltheke mit billigem Fleisch und z.T. undurchsichtigen Fleischprodukten. So etwas hat es in der ganzen Geschichte der Menschheit noch nie gegeben! Morgens den Schalter mit bismallah umgelegt und zigtausend Hähnchen laufen bis Feierabend durchs nach Mekka ausgerichtete Elektromesser: halalzertifiziert, aber was hat dieser Fleischrausch mit Islam zu tun? Sollten wir nicht – als Vorbild für die ganze Gesellschaft – die Ernährungsweise des Propheten (s.a.s.) vorleben, der auch in guten Zeiten seinen Magen nie ganz füllte: „Ein Drittel Essen, ein Drittel Trinken, ein Drittel Luft“. Wie oft hat unser gesegneter Prophet überhaupt Fleisch gegessen, der uns doch sonst in allem als Vorbild gilt?
Schächtverbote in Deutschland führen zu unnötigen Tiertransporten, deutsche Schafhalter unterliegen der neuseeländischen Konkurrenz, überschüssiges, aber natur- und artenschutzwürdiges Grünland bedarf der Beweidung; hier sollten niedersächsische Schafzüchter und muslimische Verbraucher an einem Strang ziehen; sie haben gemeinsame Interessen!
Verbandsintern kann der Umweltschutzgedanke, auch durch Berufung eines/einer Umweltbeauftragten im Vorstand fest institutionalisiert werden, wie dies schon seit vielen Jahren bei den Kirchen bewährte Praxis ist.
Rahmenvereinbarungen mit Umweltverbänden mit Rückkopplung an die Schura-Mitglieder, also die Moscheevereine, zur Entwicklung von Modellprojekten und zur Umweltbildung.
Dazu kann auch die modellhafte Entwicklung einer „grünen“ Moschee gehören, etwa als zukünftige großstädtische zentrale Haupt- oder Freitagsmoschee. Umweltschutz findet draußen statt: Muslime in der Zuwanderungsgesellschaft leben extrem urban. Exkursionen in die niedersächsische Landschaft, also qualifizierte Führungen zu Natur, Umwelt, Heimat und regionaler Geschichte für alle Generationen sind hilfreich. Wo sie stattfinden, ist das Echo stets positiv.
In der islamischen Tradition hat die Gartenbaukunst hohen Stellenwert; hier ist – gerade auch für Menschen aus agrarischem Milieu – ein weites Betätigungsfeld. Gute Erfolge liegen ja mit internationale Schrebergärten vor: Integration und Umweltinformation beim Plausch überm Gartenzaun.
Schon banal ist die Vermittlung haushaltsnaher Alltagsinformationen: Infos und Beratung etwa über Mülltrennung (Grüner Punkt), Wasser- oder Energieeinsparung (Drosseln, Heizungsventile) kommen besser an, wenn sie mehrsprachig vorgelegt und in die Tiefe der Haushalte – gern auch durch Auslage in Moscheen – verteilt werden.

Vorweg stand meine These: Wir brauchen keinen Öko-Islam in Deutschland! Damit wollte ich überzogene Hoffnungen dämpfen. Aber wir brauchen Hoffnung, Zuversicht und Vertrauen. Mir gab dies vor 25 Jahren ein Buch des britischen Paläontologen Dougal Dixon: „After Man“, in dem der Autor die Entwicklung der Stammbäume und Arten nach dem Aussterben der Hominiden recht linear fortschrieb. Damit kommen wir zur Übereinstimmung mit dem Qur’an: Der Mensch ist nur ein Teil, ein austauschbarer Teil der Schöpfung. Vögel, Pflanzen: Alles hat sein Gebet. Damit sagt Gott auch: wir können Sein Schöpfungswerk nicht vernichten, nicht beeinträchtigen. Seine Schöpfung ist größer. Wenn es die Menschen eines Tages nicht mehr gibt: nichts, aber auch gar nichts wird im ganzen Universum davon Notiz nehmen. Der wahre Islam kennt kein anthropozentrisches Weltbild. Der Mensch steht nicht im Mittelpunkt der Schöpfung und ist nicht Ziel der Schöpfung, ist nicht Gottes Abbild. Gott sagt im Qur’an sinngemäß: Wenn ihr Menschen versagt, ersetze Ich euch durch eine andere Schöpfung. Nur eine Statthalterschaft wird erwähnt, unsere Aufgabe ist es, in dieser die Pflicht zur Verantwortung und zum Respekt vor der Schöpfung zu sehen, aus Liebe zum Schöpfer.

Wir sehen, Islam ist ein Kern von Umweltschutz. Dessen Umsetzung in konkretes Umwelthandeln beruht aber auf den besonderen Geschenk Gottes an die Menschheit: der Vernunft. Deshalb habe ich – um am Beispiel der Bewältigung des sansibarischen Dynamitfischens in tropischen Korallenriffen zu bleiben – „Bauchschmerzen“, das bessere Handeln aus konkreten und im islamischen Recht fixierten Begriffen festzumachen, hier wird aus der Vernunft abgeleitetes Handeln sekundär im Islam eingeordnet. Der Islam wird zum Vehikel; die Umsetzung wird den Ulema als örtlichen Multiplikatoren schmackhaft gemacht, wenn man ihm nur viel islamischen „Stallgeruch“ verleiht. Wenn es der Umwelt zuliebe funktioniert, dann soll es im Einzelfall so sein. Mir scheint der Islam dort vergewaltigt, wo wir das klare Sprechen aus Erkenntnis und Vernunft hintanstellen.

Denken und Handeln aus Vernunft bedarf eines soliden Fundaments aus Wissen, mithin Bildung. Bildung ist die Voraussetzung für eine innere Freiheit im Denken zur Erlangung von Erkenntnis, religiöser wie wissenschaftlicher. Bildung ist ein Menschenrecht. Der Islam aber stellt nicht nur auf Rechte ab, er kennt auch Pflichten. Bildung ist im Islam eine Pflicht, für die Gemeinschaft und jedes Individuum.

Ob das umweltwidrige Handeln haram – oder im Deutschen gar Sünde – ist und wie es im theologischen Diskurs mit Folgen belegt ist, das wäre eine Aufgabe von Forschung. Hier einen Weg umwelttheologischer Rechtfertigung für Deutschland zu finden, das wird eine reizvolle Aufgabe für die neu eingerichteten Lehrstühle für Islamische Studien, etwa in Osnabrück, Münster, Frankfurt oder Tübingen.

„Noch heutigen Tages verlässt der Iranier, sooft er nur kann, die Stadt und lässt sich in der weiten, sandfarbenen Ebene, die für ihn das Land darstellt, mit einem neuen Teppich und einem Samowar an einem Bächlein nieder. Wenn er dann in seinem Garten aus Wolle, dem einzigen farbigen Flecken weit und breit, neben seinem dampfenden Wasser sitzt und Gedicht von Hafiz rezitiert, möchte er mit niemandem auf der Welt tauschen.“ (A. Godard: Die Kunst des Iran.;Berlin 1964; S. 171.)

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Unsere Traditionen sind aktueller denn je

(iz). Der Mensch wurde als letztes beseeltes Lebewesen erschaffen, aber von Allah mit seiner Stellung als Khalif (Stellvertreter) bedacht – auch gegenüber den anderen Schöpfungen wie den Engeln und Dschinnen. […]

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Der muslimische Umweltschutzveteran Fazlun Khalid über Islam, die Umwelt und was jeder Einzelne tun kann

(iz) Im Juni empfahl der britische Thronfolger Prinz Charles in einer Rede ein Umweltschutzprojekt in Sansibar, bei dem die Islamische Stiftung für Ökologie und Umweltwissenschaften (IFEES) eine wichtige Rolle spielte. […]

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Glaube und Geld

(iz). Es ist in erster Linie eine Krise von Banken und Staaten, es ist aber auch unsere eigene Krise. Wir sind nicht nur als unbeteiligte Beobachter am Geschehen beteiligt, sondern […]

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Ein Gastbeitrag von Dr. Markus Fiedler

(iz). Seit geraumer Zeit mehren sich die Stimmen, die von einem wachsenden „muslimischen Anti­semitismus“ sprechen. Manche Autoren, wie zum Beispiel der extrem islamfeindlich auftretende Orientalist Hans-Peter Raddatz, führen einen angeblich […]

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Aus Liebe zum Propheten: von der Überlieferung der Sunna. Von Hassan Ritter, Leipzig

(iz). So wird überliefert, dass Imam Malik in der Moschee des Propheten, Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, einst zum Khalifen Abu Dscha’far sagte: „Oh Führer der Gläubigen! Erhebe […]

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