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Aus dem Wörterbuch des Ideologen – ein Glossar der Verschwörungsmythen

Migration islamberater islamischer staat

(iz). Die einen reden von „Reptiloiden“ und „Chemtrails“, die anderen von „New World Order“: Jede Verschwörungsideologie hat ihr eigenes Vokabular. Auch jene vom „Politischen Islam“. Ein Überblick über die wichtigsten Begriffe.

Aktionsgeflecht. Bietet die Möglichkeit, Personen und Organisationen miteinander in Verbindung zu bringen, die nichts miteinander zu tun haben. Um zum „Aktionsgeflecht der → Muslimbruderschaft“ zu gehören, reicht im Zweifel schon, mit der „falschen“ Person auf demselben Podium gesessen zu haben. Bedient zudem die Vorstellung eines geheimen mächtigen Netzwerkes – die Essenz einer jeden Verschwörungstheorie. Vor Jahren von dubiosen Islamistenjägern im Internet erfunden, findet sich der Begriff heute auch in Verfassungsschutzberichten. Personen, die ihn nutzen, bewegen sich übrigens auffällig häufig im „Aktionsgeflecht“ von Rechtsextremisten.

Atmosphärischer Dschihadismus. Behauptet die Existenz eines islamischen Terrorismus, der ohne Akteure und Strukturen auskommt und sich allein über „Stimmungen“ in der muslimischen Community bildet. Bietet die Chance, jede Äußerung, die vermeintlich zu dieser Stimmung beiträgt zum Dschihadismus zu erklären. Ursprünglich vom Politologen Gilles Kepel erfunden, um islamfeindliche Gesetzgebung in Frankreich zu legitimieren, wird der Begriff auch in Deutschland und Österreich zunehmend populär.

Herrschaftsanspruch. Klingt nach Osmanen-Herr vor Wien, richtet sich aber meist gegen Moscheevereine, die schon mit der Bewältigung der eigenen Gemeindearbeit überfordert sind. Wird häufig verwendet, um Forderungen nach Gleichberechtigung zu delegitimieren, indem diese zum Ausdruck einer herbeihalluzinierten islamischen Bedrohung verklärt werden. Beispiel: „Der Muezzin-Ruf des Türkischen Bildungs- und Kulturvereins im hessischen Raunheim belegt den Herrschaftsanspruch des Politischen Islam.“

Islamisierung. Galt bis vor wenigen Jahren noch als wichtigster Begriff der verschwörungstheoretischen Vorstellung, Muslime würden westliche Gesellschaften unterwandern, erobern oder nach anti-demokratischen Vorstellungen umbauen. Hat durch seine starke Verwendung in rechtsextremen Kreisen in den letzten Jahren an Attraktivität verloren und wurde in bürgerlichen Kreisen weitgehend durch → Politischer Islam ersetzt.

Islamismus. Bezeichnet ursprünglich politische Bewegungen, die im frühen 20. Jahrhundert unter anderem in Ägypten, Iran und auf der arabischen Halbinsel entstanden. Wird von Verschwörungsideologen heute vor allem genutzt, um Muslime begrifflich in die Nähe von Terroristen zu rücken. Zum Beispiel: „Islamist reißt sich und 20 Schulkinder in Nigeria in den Tod“ / „Islamist kandidiert für Dinslakener Gemeinderat“.

Islamkritiker. Erfüllt die für Verschwörungsideologien essentielle Rolle des allwissenden Insiders. Tritt häufig als geläuterter Aussteiger auf und genießt dank tatsächlicher oder behaupteter biographischer Bezüge zum „Islam“ quasi unfehlbare Autorität zu allen Themen rund um islamische Theologie, Kultur, Integration, Migration, Kriminalität, Rassismus und Sexualität in Deutschland, Europa und allen Ländern der islamischen Welt.

Muslimbruder. Eigentlich aus Ägypten stammende politische Bewegung. Wurde im 20. Jahrhundert von ägyptischer und saudischer Diktatur als Kampfbegriff etabliert, um jede Form von Opposition zu delegitimieren. Fand über den Umweg rechtsextremer Verschwörungsideologen in den USA in den letzten Jahren auch Einzug in die islamfeindliche Rhetorik in Deutschland und Österreich. Gelten – obwohl in Europa kaum vertreten – als allgegenwärtige und allmächtige Hauptakteure der → Islamisierung und des → Politischen Islam. Dient in Verbindung mit → Aktionsgeflecht als ultimatives Argument, um Muslime aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Beispiel: „Ein Akteur, der dem Aktionsgeflecht der Muslimbruderschaft zuzurechnen ist, kann kein Partner des Familienministeriums sein.“

Politischer Islam. Kernbegriff der Verschwörungsideologie. Im wissenschaftlichen Kontext Bezeichnung für politisch-islamische Akteure des Nahen Ostens wie Hamas und Muslimbruderschaft. Wird von Verschwörungsideologen als Sammel- und Kampfbegriff gegen unliebsame Muslime gebraucht. Suggeriert Wissenschaftlichkeit, ergibt aber in etwa so viel Sinn, als würde man die ugandische Lord‘s Resistance Army, Breivik, die CDU und die Caritas unter dem Begriff „politisches Christentum“ zusammenfassen. Kann beliebig genutzt werden, um alltägliche muslimische Religionsausübung zu problematisieren. Beispiel: „Beten/ Fasten/ Moscheebesuche sind Merkmale eines Politischen Islam, der in Deutschland immer weiter um sich greift.“

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Eine Positionsbestimmung der IZ-Redaktion, um die Debatte nach Pegida und Paris sinnvoll zu ordnen

(iz). Der Islam in Deutschland hat in diesen Tagen ein eindrucksvolles Zeichen gesetzt. Unter Verwahrung gegen jede Form der Kollektivschuld, haben führende Repräsentanten des Islam eine klare Linie gegenüber gewaltbereiten […]

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Was zeigt uns das Werk von Ibn ­Khaldun? Von Abu Bakr Rieger

(iz). Seit nunmehr einem Jahrzehnt versuchen wir als EMU die verschiedenen Facetten des Islam in Europa zu beleuchten. Zweifellos ist es gerade auch die Präsenz der europäischen Muslime, die deutlich macht, dass der Islam keinesfalls ein Phänomen der Fremde darstellt. Über Jahrhunderte hat der Islam tiefe Spuren in der Geschichte Europas hinterlassen. Hierzu gehört natürlich insbesondere das historische Erbe der Muslime Südost- und Osteuropas, Siziliens und Andalusiens. Man kann wohl mit Recht sagen, dass ohne das Studium der jahrhundertelangen Präsenz in Andalusien das Bild des Islam in Europa zutiefst unverstanden bleiben muss. Oh­ne klare Kenntnisse der Geschichte des Islam, wird es uns auch schwer fallen, den destruktiven Einfluss muslimischer Ideologen und Fanatiker auf das Erscheinungsbild der Muslime zurückzudrängen.

Genauso gilt es für ein tieferes Verstehen der islamischen Lebenspraxis, die großen Denker und Philosophen aus Ost und West und ihr Verhältnis zum Islam in Europa in Erinnerung zu rufen. Viele europäische Philosophen sahen im Phänomen der Einheit, für die der Islam ja steht, eine faszinierende Möglichkeit, das Denken und die Religion zu versöhnen. Im Februar 2013, um nur ein Beispiel zu nennen, hat unser NGO in Weimar, in einem Seminar über das Werk Johann Wolfgang von Goethes, diese facettenreiche Beziehung näher beleuchtet. Von Goethe selbst stammt ja auch der berühmte Satz: „Wenn Islam Gottergebenheit heißt, leben und sterben wir alle im Islam“.

Nachdem wir vor zwei Jahren über das Werk Rainer Maria Rilkes in Ronda nachgedacht haben, haben wir uns im Juni diesen Jahres vorgenommen, das Werk Ibn Khalduns in einen europäischen Kontext zu setzen. Der Historiker Arnold Toynbee sieht in ihm einen der „brillantesten und scharfsinnigsten Geister und einen der größten Historiker den die Menschheit je hervorbracht hat“.

Ibn Khaldun ist aber nicht nur Historiker, sondern auch ein bedeutender Rechtsgelehrter und überzeugter Verteidiger des Sufismus. Wie alle großen Persönlichkeiten und Denker der Vergangenheit, besticht das Werk Ibn Khalduns durch seine bemerkenswerte Aktualität. Ich möchte in aller Kürze versuchen, einige Leitgedanken Ibn Khalduns für die Deutung der Lage Europas, aber auch für die Situation der Muslime in Europa, hervor zu heben. Natürlich verführt die berühmte These Khalduns, die vom unaufhaltsamen Auf- und Abstieg aller Zivilisationen handelt, zunächst zu der Frage, wie es diesbezüglich um Europa steht. Wo steht also Europa heute?

Pessimisten sprechen bereits vom Untergang der europäischen Kultur zugunsten einer entleerten Weltkultur. Sie befürchten Überfremdung und immer neue unlösbare Probleme der Immigration. Es ist von der Krise des Christentums die Rede oder gar von einem bevorstehenden Kampf „heimischer“ und „fremder“ Kulturen innerhalb der Grenzen Europas. Verstärkt wird der neue Pessimismus durch die prekäre ökonomische Lage, in der wir uns in den Jahren der Finanzkrise befinden. Gerade die europaweit praktizierte Inflationskultur, die beinahe zwanghaft immer größere Geldmengen in Umlauf bringt, gibt dem Denkenden tatsächlich Anlass für wachsende Sorgen. Tatsächlich sind, gerade aus der Sicht Ibn Khalduns, Luxus, Konsum und Schulden – wie wir in seinen Werken lernen – sichere Zeichen einer zerfallenden Zivilisation. Auch die rettende Idee ewigen Wachstums, die in Europa nach wie vor bestimmend ist, kann vor seiner ökonomischen Vernunft sicher nicht bestehen.

Ein bedenkliche Folge dieser geistigen Krise und der Zunahme des neuen Pessimismus in Europa kann man – ich erinnere nur an den Ausgang der Europawahlen 2014 – in dem Erstarken rechter und nationalistischer Parteiungen sehen, die mit dem Vorschlag antreten, den kulturellen Zerfall und den Identitätsverlust Europas mit einer Wiederbelebung nationaler Ideen aufzuhalten. Das Beispiel der faschistoiden „Front National” in Frankreich zeigt den Trend, den alten Antisemitismus durch eine neue Islamfeindlichkeit zu ersetzen und die Muslime gar als Fremde ohne eigene Bürgerrechte einzustufen.

Das Motto der neuen Nationalisten ist eher simpel: „Wir sind Europäer, weil sie es nicht sind!“. Der neuen „rechten“ oder „nationalen“ Bewegung fällt es deutlich leichter, den Feind, den Gegner zu definieren, als etwa den positiven Inhalt einer neuen europäischen Kultur. Sie haben keine erneuerte Kultur anzubieten. Infam ist auch der Versuch, sogar in Europa geborene Muslime nicht als Europäer und als natürliche Träger allgemeiner Bürgerrechte zu sehen. Auch ökonomisch hat der neue rechte Populismus, nebenbei erwähnt, kein Konzept, wie eine neue „Nationalökonomie“ unter den globalen Bedingungen der Finanzmärkte bestehen kann.

Diese Bewegung nutzt auch – ob wir Muslime wollen oder nicht – immer öfter der wachsenden negativen Haltung vieler Europäer gegenüber dem Islam. In Deutschland sind, nach einer Untersuchung der Universität Leipzig, inzwischen 56% der Bevölkerung gegen eine weitere Zuwanderung aus der islamischen Welt. Zwar geht die Plage des Antisemitismus auch in Deutschland zurück, allerdings auf Kosten neuer Feindbilder, insbesondere einer wachsenden Ablehnung gegenüber dem Islam. Wir als Muslime müssen uns dabei Sorgen machen, dass islamfeindliche Positionen auch in der Mitte der Gesellschaft zu finden sind. Der ehemalige deutsche Bundespräsident Wulff, der nach 598 Tagen von seinem Amt zurücktreten musste, hat gerade in seinen Erinnerungen berichtet, wie sehr sein Bekenntnis „der Islam sei Teil Deutschlands” ihm Feindschaft und Gegnerschaft eingebracht hat.

Wir Muslime müssen also jetzt mit dafür Sorge tragen, dass sich in Europa ein neuer Optimismus durchsetzt. Wenden wir uns also nun der Anderen, der optimistischen Sichtweise zu.

Tatsächlich ist die Frage, wie Europa mit dem Islam umgeht, für den Charakter des künftigen Europa von entscheidender Bedeutung. Natürlich sind gerade wir, die europäischen Muslime, in unserer Heimat gefragt, an dieser Debatte aktiv teilzunehmen. Als Muslime, von Natur aus den Mittelweg suchend, wenden wir uns gleichermaßen gegen Modelle des provinziellen Nationalismus oder eines weltstaatlichen Zentralismus. Enorm wichtig ist für uns dagegen der soziale Zusammenhalt der gesamten Bevölkerung auf lokaler Ebene. Auch hier finden wir bei Ibn Khaldun einen weiteren Schlüsselgedanken: Assabiyya.

Der Begriff entzieht sich zunächst – wie so oft, wenn wir die eigenständige Terminologie des Islam benutzen – einer eindeutigen Übersetzung in eine europäische Sprache. Es handelt sich hier um die Benennung des sozialen Bindegliedes, den gemeinsamen Nenner zwischen den Menschen, der ihrer aktuellen politischen Natur und ihrem Status entspricht. Dieses setzt dabei immer eine freie Entscheidung voraus, welche ökonomischen, politischen, sozialen oder kulturellen Elementen gemeinsames Handeln ermöglichen soll. Ibn Khaldun wendet sich mit diesem Begriff gegen einen reinen Individualismus, der nach seiner Auffassung nicht der politischen und sozialen Natur des Menschen entspricht.

Nach Ibn Khaldun ist die höchste Form von Asabiyya die „religiös“ motivierte. Sie geht über das provinzielle Stammesdenken hinaus. Aus islamischer Sicht hat diese höchste Form der Assabiyya nichts mit Nationalismus oder der Dominanz einer bestimmten Kultur zu tun. Natürlich kann ich Spanier, Engländer oder Deutscher und gleichzeitig Muslim sein. Bedauerlicherweise entsteht heute in Europa ein falscher Eindruck, da sie noch immer viele antiquierte Organisationen auf Grundlage ethnischer Abgrenzung und Ghettoisierung konstituieren.

Wir definieren dagegen europäische Muslime, die als Europäer die europäischen Sprachen sprechen und ihren sozialen, ökonomischen und kulturellen Beitrag leisten wollen. Ein wichtiges Bindeglied für unsere Gemeinschaften ist dabei die korrekte Erhebung der Zakat und nicht etwa die Herkunft oder ethnische Kategorien.

Klar ist, nur wenn wir die Beiträge des Islam für das soziale und ökonomische Leben öffentlich machen, können wir in Europa eine positive und selbstbestimmte Rolle spielen. Noch immer sehen viele Europäer nicht den zivilisatorischen Beitrag des Islam, der sich aber in der Forderung nach dem freien Markt, dem globalen fairen Handel, dem Wirtschaftsrecht oder den Stiftungen zeigt. Und – dies zeigt sich auch in dem Denken Ibn Khalduns – das islamische Denken setzt die europäische Suche nach der Einheit des Daseins und dem Verstehen der Lebensvorgänge fort. Hier, bei der Bestimmung der eigentlichen konstruktiven Thematik des Islam, hat die European Muslim Union eine zweifellos wichtige Rolle. In Sevilla wurde dabei deutlich, was der Begriff „Assabiyya” für uns europäische Muslime heute positiv ausmacht.

Hintergrund: Die europäischen Muslime streiten um die Zukunft der politischen Terminologie. Von Sulaiman Wilms

„Tse Lu: Der Herr Wei wartet darauf, dass du eine Regierung bildest. Was wirst du als erstes tun? Kung: Die Namen klären. Tse Lu: Wie kann das sein? Du schweifst ab. Warum sie festlegen? Kung: Du Kürbis! Sprosse! Wenn ein Mann kein Wissen hat, sollte er Zurückhaltung an den Tag legen. Wenn Worte nicht genau sind, kann man ihnen nicht folgen oder eine Handlung entsprechend ihrer Bedingungen vollenden.“ (Konfuzius, aus der engl. Übersetzung von E. Pound)

(iz). Brühl. Am frühen Nachmittag des 12. Mai, fand eine Deutschlandpremiere statt. Das erste Mal stritten auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung/BpB ­Muslime über die Konstrukte „liberaler“ beziehungsweise „konservativer Islam“. Man muss der BpB dankbar sein, dass sie diese Gelegenheit ermöglichte. Die muslimischen Verbände jedenfalls ­waren bisher nicht in der Lage, diese ­überfällige und für die Muslime wichtige Debatte zu moderieren. Bereits wegen ihrer räumlichen Aufteilung mussten die TeilnehmerInnen (die Lehrerin Lamya Kaddor vom Liberal-Islamischen Bund e.V./LIB, der Lehrer und Blogger Hakan Turan, Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime und der Autor) wie Gegner wirken. (Dass sich meine Beiträge, wie sich zeigen sollte, auf alle Lager des „politischen Islam“ bezog, wollte oder konnte in der bi­nären Debatte nicht zur Kenntnis genommen werden.)

Obwohl die Teilnehmer stellenweise polemisch wurden, war die Diskussion hilfreich. Immerhin wurde dem Publikum ein Geschmack davon vermittelt, dass und wie um einen Begriff ­gestritten wird. Klar wurde auch, was sich anhand des „liberalen Islam“ zeigt: Die Terminologien, die innerhalb der europäischen Muslime und im Austausch mit ihren Gesellschaften üblich sind, werden ­bisher kaum hinterfragt. Dass diese Begriffe problematisch sind, zeigt sich gerade in der Reaktion auf die IZ: Manchen ist sie zu konservativ, anderen zu liberal.

Ein weiterer Mosaikstein ist ebenfalls von Bedeutung: Eine Rednerin war der Ansicht, wir sollten uns nicht zu lange mit der Bestimmung der Begriffe aufhal­ten. Genau aber diese sind ein Kernprob­lem, an dem europäische Muslime labo­rieren. Von Norwegen bis Italien und von Irland bis Russland: Überall werden sie mit „Islamismus“, „Salafismus“, „libe­ralem Islam“, „Reform des Islams“ oder „Multikulturalismus“ konfrontiert. Ressourcenmangel und fehlender Einfluss auf die Debatte verhindern, dass sich Muslime von ihr freimachen oder sie selbst gestal­ten können.

Dies ist kein abgehobenes Glasperlen­spiel. Begriffe werden von einer Bedeutung (und von politischen Handlungselementen) begleitet, die mit ihr einhergehen. Nehmen wir die allerorten, und selten hinterfragte Forderung nach „Inte­gration“: Natürlich gibt es Gruppen, die nicht oder nicht ausreichend in ihren Heimatländern eingefügt sind oder Probleme damit haben. Die permanente Anwendung der „Integration“ auf den Islamdiskurs aber erzeugt die Vorstellung, dass sich Muslime wegen ihrer Religions­zugehörigkeit „integrieren“ müssten. Wieso aber sollte dies gerade auf europä­ische Muslime zutreffen?

Der konkrete Begriff übersieht, dass die Mehrheit der Muslime in Europa (das Gebiet westlich des Ural) gebürtige Europäer sind und es daher nichts zu integrieren gibt. Das Problem der fremdbestimmten Terminologie geht tiefer: Mittlerweile ist „Integration“ in ihrer dominanten Form in den muslimischen Diskurs „integriert“. So hieß es in einer merk­wür­digen Presseerklärung über den gemeinsamen Ramadananfang der muslimi­schen Verbän­de, dass diese Entscheidung der „Integra­tion“ diene.

Islamismus – der Bulldozer der Debatte
Ortswechsel. Auf der Webseite der „Zeit“ fand vor Kurzem eine muntere Debatte statt, als ein ägyptischer Präsidentschaftskandidat als „netter Islamist“ bezeichnet wurde. Die ­Forumsteilnehmer diskutierten versiert über die Gültigkeit des „Islamismus“-Begriffs; viele stellten ihn in Frage und hielten diesen „Ausgrenzungsbegriff“ (Prof. W. Schiffauer in der IZ) für ungeeignet. Kurzum, man rieb sich die Augen und wünschte sich, dass auch Muslime so debattiert würden.

Während in den letzten Jahren Konflikte um vermeintliche „Massenvernich­tungswaffen“ geführt wurden, kam – sozusagen auf geistiger Ebene – spätestens seit dem 11. September 2001 der „Islamismus“ zum unterscheidungslosen Einsatz. Genauso wenig, wie Luftangriffe im afghanisch-pakistanischen Grenzland „chirurgische“ sind, und manchmal zivi­le Hochzeitsgesellschaften treffen, genau­so wenig enthält der „Islamismus“ genug Substanz, um kundig einen Sachverhalt zu beschreiben. Wie das Flächenbombardement einer B-52 betrifft er alle: Terroristen, Wahhabiten, Hamas-Sympathisanten, den politischen Islam, aber auch viele gesetzestreue und engagierte europäisch-muslimische MitbürgerInnen.

Einmal als „Islamist“ etikettiert, eröff­net sich die ganze Palette implizierter, angeblicher Einstellungen: anti-demokratisch, fundamentalistisch, frauenfeindlich und antisemitisch. Nichtsdestotrotz, oder gerade vielleicht deswegen, werden Muslime damit überzogen und es bleibt ihnen – von Ausnahmen abgesehen – oft nichts übrig, als sich dem Bulldozer-Charakter dieses Begriffes zu beugen. Eine Ausnahme war der türkische Außenminister Davutoglu, der bei einem Deutschlandbesuch im Gespräch mit ­Innenminister Friedrich diese Terminologie von sich wies.

Obwohl „Islamismus“ ­wissenschaftlich klingt, sehen sich Ganz- oder Halbexper­ten gezwungen, ihn durch Zusätze qualifizieren zu müssen. So vermeinen sie, zwischen einem „legalistischen, gewaltfreien Islamismus“ und einem „gewalttä­tigen Islamismus“ unterscheiden zu können beziehungsweise zu müssen. Sucht man nach „Islamismus“ auf Wikipedia (dem angeblich zuverlässigen online-Kom­pendium allen Wissens), erscheint zuerst eine Notiz, wonach das ­ellenlange Elaborat einer Überarbeitung bedarf. Nicht wirklich vertrauenserweckend. Der Rest liest sich wie eine der handelsüblichen Zusammenstellungen, die man auch in Zeitungsartikeln oder in staatlichen Veröffentlichungen geboten bekommt. Laienhaft formuliert steht der „Islamismus“ in den Augen seiner User für den „politischen Islam“ (allerdings nur für den unangenehmen; seine politisch korrekte Variante – die liberale – ist durchaus willkommen), der seine religiösen Ansichten politisch umsetzen will.

Und hier liegt das Problem: Wird jeder Muslim, der sich veranlasst sieht, sich dank seiner Religion sozial zu ­engagieren oder Lösungsansätze für Probleme zu formulieren, damit zum „Islamisten“? Wenn nein, wo fängt er an? Es ist genau diese Unschärfe, die den „Islamismus“ hat so erfolgreich werden lassen. Je unbestimm­ter, desto mehr sind wir von ihm betrof­fen und desto weniger können wir uns zur Wehr setzen. So ist in diesem Kontext der Kategorisierung islamischer Lebenspraxis zu fragen: Ist die Zahlung oder die Einsammlung der ­Zakat etwas Politisches, etwas ­Religiöses oder Ökonomisches?

Es ist natürlich zu bezweifeln, dass sich der ideologische Begriff aus der islamischen Lehre ableiten ließe. „Islamismus“ hieße ja, dass Musli­me den Islam und seine Überzeugungen anbeten würden. Dies widerspricht aber im Kern dem Din selber, der ja ein Mittel zu Anbetung Allahs ist – und kein Ziel in sich.

Phänomen Salafismus
Würde die öffentliche-mediale Wahrnehmung stimmen, dann wäre Salafismus eine Steigerungsform des „Islamismus“, wenn nicht gar des Islam selbst. Gemeinhin werden die Anhänger jener Bewegung, die ihre Wurzeln in der wahhabitischen Bewegung Arabiens hat, oft als sehr strenge Muslime definiert. Eine Vorstellung, von der sie selbst am meisten profitieren, weil ihnen das den Nimbus von „Frömmigkeit“ und „Reinheit“ verleiht.

Hierbei wird übersehen, dass diese Gruppierung in ihrer Anfangszeit (bis zum Ende des Khalifats) als Sekte (manche sahen in ihr eine Nachahmung der Khawaridsch) galt. Weil Salafisten aber seit Jahrzehnten jeder anderen muslimi­schen Formation vorwerfen, irre geleitet zu sein (bis hin zur Unterstellung, man werde durch angeblich falsche Ansichten zum Nichtmuslim), drängten sie die Mehrheitsmuslime in die Defensive. Wird der Wahhabismus aber als eine Art Steigerungsform des Islam wahrgenommen, dann verwischt sich die Grenze zwischen sektiererischen Ansichten und dem Mehrheitsislam.

Diese Selbstzuschreibung von „Salafis­ten“ als quasi „Avantgarde“ ist nichts anderes als eine Anmaßung gegenüber den Mehrheitsmuslimen. Sie pachten durch diese ­Adaption der „Salaf“ (jener respek­tierten ersten Generationen des frühen Islam) einen Begriff (und damit einen Anspruch) für sich, der im Grunde jedem praktizieren­den Muslim zukommt. Dieser Anspruch wird nicht durch eine Behauptung zu einer Realität, sondern durch die Lebensführung. Wo aber zahlen „strenggläubige“ Salafisten ihre ­Zakat, gründen Stiftungen oder organi­sieren Märkte?

Alles liberal, oder was?
Wie der „Salafismus“ entstand der „liberale Islam“ (und sein notwendiges Gegenteil, der „konservative“) innerhalb der Community selbst – aber auch in Abgren­zung zur absoluten Mehrheit. Natürlich wurde der angebliche Streit dankbar von Massen­medien aufge­nom­men, die seinen VertreterInnen bisher einen deutlichen Vorrang einräumten. Um Missverständnisse zu ­vermeiden: „Liberal“ und „konservativ“ sind beides poli­tische Begriffe. Es geht hier nicht darum, eine Position zu bevorzugen und es ist keine Anmaßung zu vermuten, dass die Mehrheit der europäischen Muslime weder das eine, noch das andere Etikett für sich beanspruchen.

Hier ist kein Platz für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit einem, als „libe­ral“ etikettierten Islamverständnis. Dies ist auch nicht einfach, weil bisher nur Hakan Turan mit seinen „Fünf Thesen“ überhaupt eine kohärente Definition des „liberalen Islam“ lieferte. Aufgrund ­seines Sachverstands musste er, dem es nicht an Ernsthaftigkeit mangelt, in seinem Text vom 17. Mai manche Ansicht in bisherigen Publikationen korrigieren.

Es ist eine Pointe, dass den vermeintli­chen „Liberalen“ bisher nicht von „Konservativen“ widersprochen wurde. Niemand stand auf und sagte: „Ich bin konservativ, und ihr habt Unrecht!“ Die Mehrheit der Gegenstimmen zum Streit, der am 8. August 2011 durch einen Beitrag von Lamya Kaddor in der „Süddeut­schen Zeitung“ ausbrach, verweigert sich gerade jeder Etikettierung. Auch auf ­Nachfrage in Brühl konnte sie die Gruppe junger konservativer Muslime nicht eingrenzen, die sie in ihrem Text zu identifizieren suchte.

Wie im obigen Falle haben wir es mit einer Terminologie zu tun, deren ­Inhalt nicht in einer öffentlichen Debatte bestimmt wurde oder sich im Rahmen eines Konsens entwickelte. Sie entstand als Mittel im Kampf um Deutungshoheit. Darüber hinaus bleibt er unbestimmt, wie Hakan Turan schreibt: „Es ist erfor­derlich, dass innermuslimisch definiert wird, in welchem Sinn und in welchem Interesse diese Begriffe verwendet werden.“ Ein Blick auf die Webseite des LIB e.V. eröffnet bisher keine tiefere Durchdringung des eigenen Anspruchs, soweit es positive Begriffsdefinitionen betrifft.

Das liberale Konstrukt basiert wie alle, auf Gegensatzpaaren beruhenden Begriffe seit dem 11. September 2001 auf simplen Mechanismen. Indem man sich als „liberal“ bezeichnet, wird das Gegen­über fast automatisch „konservativ“ (inklusive aller negativer Zuschreibungen). Diese negative Abgrenzung erspart den mühsamen Weg hin zur Formulierung von positiven Inhalten, was auch der Text von Hakan Turan andeutet. Es wäre vergebene Liebesmüh, von den Fraktionen des politischen Islam sozio-ökonomische Lösungsansätze zu erwarten, die Kernelemente der islamischen Sozialethik (Mu’amalat) sind.

Außerdem offenbaren die bisher mit dem Begriff des „liberalen Islam“ in Verbindung stehenden Debattenfelder alte säkularen Glaubensfragen im neuen Gewand – „liberale Demokratie, Meinungs­freiheit und Pluralismus“ (Turan). Derartig ideologisch aufgeladen und mit solchen Ansprüchen aus der Werte-Debatte versehen, ist der „liberale Islam“ ein Kampfmittel im Streit um die Deutungs­hoheit innerhalb der muslimischen Community. Wie man die Sinnlosigkeit des „Liberalismus“-Begriffs weiter auf die Spitze treiben kann, belegte am 24. Mai die „New York Times“. Die US-Tageszeitung nannte den eingangs erwähnten Präsidentschaftskandidaten Aboul Foutouh einen „liberalen Islamisten“. Man könnte auch ergänzen, er ist ein ­liberaler Konservativer.

Auf dem Weg zur Verchristlichung?
Es gibt eine untergründigere, nur ­selten an die Oberfläche tretende Entwicklung, von denen der Liberalismus-Begriff nur eine Äußerung ist. In seiner spirituellen Ausformung, aber auch in der Lebenswirklichkeit könnte man das, wie es der Islamwissenschaftler und Autor Muham­mad Sameer Murtaza messerscharf in Brühl tat, als Verchristlichung bezeichnen. Analog zur Entwicklung des Protes­tantismus, der sich auf einen esoterischen „Glauben“ reduzierte, erlebte die musli­mische Moderne – interessanterweise ­jenseits sämtlicher Ideologien -, dass sich viele Muslime heute stärker denn je auf symboli­sche Handlungen und bestimmte Themen fixieren. Und dies, obwohl die religiöse Lebenspraxis dieses Dins in ­ihren Kernbereichen keine Symbolik kennt.

Auf ritueller Ebene wäre dies die Konzentration auf das Freitagsgebet, während viele Moscheen – aufgrund der Dominanz der ökonomischen Sphäre – tagsüber leere Räume sind. Ein anderes Beispiel ist die Obsession mit Lebensmittel­zusätzen, die in den frühen 1990er Jahren einen großen Platz innerhalb muslimischer Publikationen einnahmen. Und, last but not least, die Reduktion von Frauen auf das Kopftuch. So, als wäre dies das Endziel der spirituellen, gemein­schaftlichen oder sozialen Aktivitäten von Musliminnen.

Was den „liberalen Islam“ von konven­tionellen Formen muslimischer Überzeugungen trennt, ist sein Hang zur expli­ziten Zuspitzung. Auf der LIB-Webseite findet sich dazu der Satz: „Die theologische Basis für die Repräsentanz von liberalen Muslimen und Musliminnen in Deutschland lässt sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: die Schahada – das islamische Glaubensbekenntnis. Dieses bezeugt den Glauben an den Einen Gott sowie den Glauben an Muhammad als Gesandten Gottes. Bei allem, was über diesen Kern hinausgeht, darf dogmatische und kulturelle Einheit weder Ziel noch Voraussetzung sein.“ Um solche obskure Neuinterpretationen zu rechtfertigen, ist es notwendig, sich in regelmä­ßigen Abständen von der Tradition abzugrenzen.

Die Tendenz einer verchristlichten Zwei-Welten-Lehre ist kein Privileg einer spezifischen Ausformung des politischen Islam. Sie ist – leider – massenkompatibel. Eine ihrer Manifestationen ist die Trennung zwischen persönlichen Glaubensüberzeugungen und dem Handeln in dieser Welt. Vergleichen wir die Quantität der ökonomischen Verpflichtungen des Dins mit der heutigen Glaubenspraxis müssen wir eine enorme Diskrepanz festhalten. Mehr noch: ­Während Imame die kleinsten Feinheiten der ritu­ellen Waschung oder ­erstrebenswerte Charaktereigenschaften in den Mittelpunkt ihrer Freitagspredigten rücken, spielen die Mu’amalat und namentlich die ökonomischen Gesetze keine Rolle.

Die Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt, zwischen „Glauben“ (kaum ein gebildeter Muslim würde diesen Begriff verwenden) und „Handeln“ widerspricht der islamischen Einheitsleh­re. Das gleiche gilt für die Aufspaltung der Kernelemente des Dins in Glaubens­lehre/Iman und rituellen Handlungen/­Islam. In einer der wichtigsten prophetischen Überlieferung, die wegen ihrer Relevanz auch als „Mutter der ­Hadithe“ bezeichnet und von ‘Umar überliefert wurde, erklärte der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, dass der Din aus den drei verbundenen Teilelementen Islam (die fünf Säulen: Schahada, Gebet, Zakat, Fasten im Ramadan und Hadsch), Iman (die sechs Glaubensgrundlagen) sowie Ihsan (spirituelle Perfektion) besteht. Hier eine künstliche Trennung vorzuneh­men, ­hieße die Lehre der Einheit und der Eigenschaften Allahs (Tauhid) von dem zu trennen, was der Prophet an Verhaltensmustern hinterließ. Jede politische Dialektik übt einen permanenten Zwang zur Zuspitzung (früher sprach man von permanenter Revolution) aus: Konsequent fortgeführt, endet diese Denkrich­tung in der de facto Leugnung des zweiten Teils der Schahada. Darüber hinaus bewirkt das künstliche Begriffspaar liberal-konservativ eine fortlaufende Spaltungsmöglichkeit. Wer heute noch liberal ist, kann morgen schon durch eine noch liberalere Glaubensrichtung als konservativ definiert werden.

Imam Abi Zaid Al-Qairawani schrieb im Vorwort seiner „Risala“, in der Einleitung zu seinem Kapitel über die Glaubenslehre: „Glaube [Iman] wird mit der Zunge ausgedrückt, durch die Aufrichtigkeit des Herzens und die Handlung der [Körper-]Glieder bestätigt.“

Die Kultur-Lüge
Bis jetzt hatten wir es mit Begriffen zu tun, die im Rahmen der europäischen Islam-Diskurse entstanden. Sie sind ihrem Wesen nach politische und folgen den Gesetzmäßigkeit moderner Politik. Der letzte Begriff hat sich separat von den obigen entwickelt und reflektiert die Tatsache, dass sich in den letzten 60 ­Jahren umfangreiche Einwanderergruppen in den westeuropäischen Staaten ­ansiedelten. In Ablehnung des real existierenden Rassismus der 1980er und 1990er ­Jahre, aber auch als Reaktion des Überbaus auf die Globalisierung der Ökonomie und ihres Zwangs zur uneingeschränkten Bewegung von Menschen, entwickelte sich das Konzept des „Multikulturalismus“.

In dieser Gemengelage aus Zuwanderung, Integration, Kulturkampf, Identität etc. wurde in Folge – und zum Leidwesen der europäischen Muslime – auch noch das Element „Islam“ eingebracht. So kam – bei vermeintlichen pro- wie anti-muslimischen Stimmen – das schädlich Missverständnis in die Welt, der Din sei eine wie auch immer geartete separa­te Kultur – entweder zu bejahen oder abzulehnen -, die seit Beginn der Einwande­rung von Muslimen hier heimisch wurde. Dieser irrige Begriff errichtet ständig neue Barrieren zwischen einer vermeint­lich christlich-abendländischen Kultur und dem – angeblich fremden – Islam. Sehen wir von realen kulturellen Verfallserscheinungen ab, die einige wenige Einwanderergruppen nach West­europa brachten (ein bekanntes Beispiel sind die unseligen und unislamischen „Ehrenmorde“), wirkt das alltägliche Missverständnis wesentlich subtiler, der Islam beziehungsweise der Muslim sei der Andere, der von der europäischen Kultur verschieden sei und daher „integriert“ werden müsse.

Die freundliche Sonne des „Multikulturalismus“ scheint aber nur auf denjenigen, der sich als fremder Exot in unsere bunte Patchwork-Gesellschaft einbringt. An jenen, die als Europäer in ihrer Religion authentische ­Antworten für diese Zeit und diesen Ort zu finden suchen, findet sie kein Vergnügen.

Die Zugehörigkeit zum Islam – wie die unzähligen neuen europäischen Muslime, Bosnier, Albaner, Bulgaren, West-Thraker und vor allem russischen Muslime belegen – bedeutet weder eine kulturelle Differenz, noch die Notwendigkeit für Muslime, der Multikulti-Ideologie anzuhängen. Sie stehen für das Ende vermeintlicher Hindernisse aus ­Identität und Kultur und stellen selbstverständlich auch keine Bedrohung für Europa dar. Genau hierfür braucht es Muslime (die natürlich die religiöse Lebenspraxis mit dem Rest der muslimischen Welt teilen) europäischer Mentalität, nicht Herkunft, welche durch ihre Existenz und ihr gelebtes Vorbild be-greifbar machen, dass der Islam keine Kultur ist.

Wollen Deutschlands und Europas Muslime zu einem handelnden Subjekt werden – und ihre Tendenz zu Atomisierung umkehren -, braucht es trotz gegenteiliger Annahme ein Nachdenken und auch einen Streit um die Begriffe. Nur wenn sie dieses vermögen, können sie sich freimachen von irrigen Konzepten und Vorstellungen, die ihnen von innen und außen aufgedrängt wurden. Die passive Übernahme der vorherrschenden Terminologie bedeutet die Fortsetzung bestehender Missverständnisse und Benachteiligung in den Debatten um den Islam.