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86 Tote: Prozess um Nizza-Anschlag endet mit langen Haftstrafen

Ein Lastwagen rast am 14. Juli 2016 über Nizzas gut besuchte Uferpromenade – 86 Menschen sterben bei dem Terroranschlag. Für Handlanger und Unterstützer des toten Attentäters gibt es nun teils heftige Strafen. Opfer hoffen, dass die Aufarbeitung weitergeht.

Paris (dpa). Applaus ertönt im Gerichtssaal, als der Vorsitzende Richter 18 Jahre Haftstrafe für einen der Angeklagten im Prozess um den wohl „islamistisch“ motivierten Terroranschlag von Nizza mit 86 Toten verkündet. Das Gericht hat ihn am 13. Dezember in Paris wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt, ebenso einen weiteren der acht als Handlanger und Unterstützer geltenden Angeklagten. Beide hätten den Attentäter moralisch und materiell unterstützt und ihn inspiriert.

Bei dem Anschlag vor sechseinhalb Jahren war der Tunesier Mohamed Lahouaiej Bouhlel auf der Flaniermeile Promenade des Anglais in Nizza mit einem tonnenschweren Lastwagen in eine Menschenmenge gerast. Er schoss auch auf Menschen. Letztlich gab es 86 Todesopfer, darunter zwei Schülerinnen und eine Lehrerin aus Berlin. Mehr als 200 Menschen wurden bei dem Anschlag am 14. Juli 2016, dem französischen Nationalfeiertag, verletzt. Der Gewalttäter wurde nach der Tat erschossen.

Nach dem Anschlag reklamierte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Tat für sich. Laut Gericht war dieses angebliche Bekenntnis trotz des Interesses des Täters für den Dschihadismus opportunistisch. Eine Verbindung zu einer Terrororganisation sei nicht gefunden worden, aber eine klare Inspiration beim Dschihadismus.

Die beiden zu 18 Jahren Haft verurteilten Angeklagten wussten laut Staatsanwaltschaft um die Gesinnung des Mannes und dass er in der Lage sei, einen Anschlag zu begehen. Auch sollen sie in die Suche nach einer Waffe eingebunden gewesen sein.

Das Gericht verhängte zudem zwölf Jahre Haft für den Mann, der dem Attentäter die Schusswaffe besorgt hatte, die dieser beim Anschlag benutzte. Die weiteren fünf Beschuldigten in dem Prozess, die laut Urteil ebenfalls in die Beschaffung der Pistole oder einer weiteren Waffe involviert waren, sollen zwischen zwei und acht Jahre in Haft. Die Angeklagten können noch Berufung gegen die Entscheidung des Gerichts einlegen.

Möglich, dass manche der Hinterbliebenen und Überlebenden sich noch höhere Strafen erhofft hatten. Doch bereits die Staatsanwaltschaft hatte klargestellt, keiner der acht Beschuldigten könne verurteilt werden, als sei er der Attentäter. Die vom Gericht verhängten Strafen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gingen nun sogar über die Forderung der Staatsanwaltschaft hinaus.

Für Anwältin Alexandra de Brossin de Méré, die in den Verfahren die Mütter einer der getöteten Berliner Schülerinnen sowie die der Lehrerin vertritt, ist es insgesamt ein Urteil, mit dem man leben könne, wie sie der Deutschen Presse-Agentur sagte. „Für die Zivilparteien und die Opferfamilien ist das ein schönes Signal, dass die Justiz sich mit so viel Ernsthaftigkeit damit befasst hat und getan hat, was sie tun konnte, in so einer so schwierigen Lage.“

Seit September hatte das Spezialgericht in Paris den Anschlag von Nizza aufgerollt. Auch wenn der erschossene Attentäter selbst nicht vor Gericht war, befasste sich der Prozess eingehend mit seinen Anschlagsplänen und seiner Gesinnung. Der Vorsitzende Richter Laurent Raviot sagte, der Täter habe sein Vorgehen gewählt, um Terror zu verbreiten. Er habe an einem immer vollen Ort und bei einem Fest, das die Republik und ihre Werte hochleben ließ, zugeschlagen. Der Anschlag sei auch ein nationales Trauma gewesen.

Mehr als 2.000 Angehörige und Opfer traten als Nebenklägerinnen und Nebenkläger auf. Über mehrere Wochen hinweg berichteten sie vor Gericht von ihren Erinnerungen an die Attacke und den Spuren, die der Terrorakt bei ihnen hinterlassen hat. Auch die Mutter einer der getöteten Berliner Schülerinnen sprach unter Tränen vor Gericht. De Brossin de Méré sagte, das habe ihrer Mandantin sehr gut getan.

Dass die Staatsanwaltschaft behördliche Fehler eingestand und sich für diese entschuldigte, dürfte die Erwartungen vieler Überlebender und Hinterbliebener übertroffen haben. Das Urteil markiert für sie nun einen wichtigen Schritt. Dennoch hoffen zahlreiche Opfer, dass die juristische Aufarbeitung damit nicht vorbei ist. Denn die Frage nach den Sicherheitsvorkehrungen in Nizza wurde in dem Pariser Verfahren nur am Rande behandelt. Untersuchungen dazu laufen in der Mittelmeerstadt noch, zahlreiche Opfer hoffen auf einen zweiten Prozess.

Und auch Sorgen begleiten bei einigen das Prozessende. Die 20-jährige Lucie Lemaire sagte der Zeitung „Libération“, sie fürchte, die Allgemeinheit werde nichts aus dem Verfahren, das in Frankreich auf eher geringes Interesse stieß, im Kopf behalten und sich auch nicht an den Anschlag erinnern. „Ich will nur sagen: Vergessen Sie uns nicht!“

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Weitere Truppenabzüge: UN-Friedensmission Minusma in Mali geschwächt

Entschieden ist noch nichts. Aber die Bundesregierung debattiert über einen Abzug der Bundeswehr aus Mali. Dort wird ihre Rolle positiver wahrgenommen als in Deutschland.

Bamako (KNA). Deutschland könnte Großbritannien und der Elfenbeinküste folgen. Beide Länder kündigten Anfang der Woche an, sich nicht mehr an der UN-Friedensmission im Norden Malis (Minusma) zu beteiligen. Laut Medienberichten soll es in den nächsten Tagen Gespräche zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) über den Militäreinsatz in dem westafrikanischen Land geben.

In Deutschland wird die Mission, an der die Bundeswehr mit mehr als 1.000 Soldaten beteiligt ist, kritisch betrachtet. Dazu beigetragen hat 2020 der Putsch, durch den Assimi Goita an die Macht kam. Er setzte den anfangs vereinbarten Wahltermin für Frühjahr 2022 aus. Organisationen wie Human Rights Watch werfen ihm vor, dass Meinungs- und Pressefreiheit zunehmend eingeschränkt werden. So musste der Fernsehsender „Joliba TV News“ kürzlich nach Kritik an der Regierung sein Programm für zwei Monate einstellen.

Europa verurteilt jedoch vor allem die Kooperation mit der russischen Sicherheitsfirma Wagner. Zusammen mit der malischen Armee sollen die Söldner in Moura im März 300 Zivilisten getötet haben. Der Zeitschrift „The Africa Report“ sagte ein Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation ACLED, die Daten zu internationalen Konflikten sammelt, Wagner kämpfe hauptsächlich gegen die Terrorbewegung „Gruppe für die Unterstützung des Islam und der Muslime“ (JNIM) sowie gegen die Peul-Volksgruppe in Zentralmali. Es heißt, dass JNIM seine Anhänger vor allem aus dieser ethnischen Gruppe rekrutiert. Peul-Vertreter klagen indes seit Jahren über Stigmatisierung und Übergriffe.

Ohnehin ist die Zusammenarbeit zwischen Minusma und malischer Regierung kompliziert. Besonders Deutschland bemängelt, dass die Personalrotation schwierig sei. Im August hatte Lambrecht den Einsatz bereits vorübergehend ausgesetzt. Generell wird bemängelt, das Projekt sei nicht erfolgreich. Die Gewalt habe sich aus dem Norden bis ins Zentrum des Landes ausgebreitet.

„Minusma ist sehr weit davon entfernt, perfekt zu sein“, sagt Christian Klatt, Landesvertreter der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Malis Hauptstadt Bamako. „Ohne sie wäre es aber aller Wahrscheinlichkeit nach deutlich schlechter um das Land bestellt.“ Die Städte Gao und Timbuktu, die 2012 von Terrorgruppen besetzt waren, seien heute wieder sicherer, die Märkte geöffnet. Laut Klatt genießt die Mission im Norden einen besseren Ruf als in den übrigen Landesteilen.

Sollte sich Deutschland – die Bundeswehr ist vorwiegend für Logistik und Aufklärung zuständig – tatsächlich zurückziehen, hätte das beträchtliche Auswirkungen. Im Vergleich zu Truppenstellern aus der Region sind Soldaten aus Europa gut ausgerüstet. Blauhelm-Soldaten aus Afrika und Asien sind schlechter geschützt, weshalb ihr Einsatz riskanter ist.

Auch nach Einschätzung von Ulf Laessing, Leiter des Regionalprogramms Sahel der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, ist Minusma weiterhin sinnvoll. Im Norden breiteten sich Dschihadisten weiter in Richtung Menaka und Gao aus. „Die Menschen haben den Wunsch, dass Miunusma und Bundeswehr bleiben.“ Sie seien zudem wichtige Arbeitgeber. Seit Jahren ist klar, dass sich junge Männer nicht unbedingt aus ideologischen Gründen islamistischen Gruppen anschließen, sondern nicht zuletzt aus Perspektivlosigkeit.

Ein übereilter Abzug könnte obendrein dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen geopolitischen Erfolg bescheren. „Er will, dass der Westen geht“, sagt Laessing. „Diesen Triumph sollten wir ihm nicht gönnen.“ Gleichwohl müsse mittelfristig ein koordinierter Abzug – anders als beim Debakel in Afghanistan – geplant werden.

Die UN-Mission Minusma, die im Juli 2013 ihre Arbeit aufnahm, hat ein Mandat für bis zu 13.289 Soldaten sowie 1.920 Polizisten. Sie wurde ins Leben gerufen, weil im Jahr zuvor nach einem Aufstand von Teilen der Tuareg-Bevölkerung sowie einem Staatsstreich Dschihadisten-Gruppen den Norden besetzten.

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In Burkina Faso ist jeder Zehnte auf der Flucht

Binnenvertriebene in Burkina Faso haben fast alles verloren. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft geben viele dennoch nicht auf. Unterstützung bekommen sie vor allem von Angehörigen. Ouagadougou (KNA) Niemata Konfe […]

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Festnahmen nach Anschlag in Türkei: Wer sind die Verantwortlichen?

Der Tag nach dem Anschlag im Zentrum Istanbuls mit sechs Toten steht ganz im Zeichen der Aufklärung. Für die türkische Polizei und das Innenministerium stehen die Verantwortlichen fest. Von Anne Pollmann und Linda Say

Istanbul (dpa/iz). Die Ermittlungen zum Anschlag mit sechs Toten in Istanbul haben gerade erst begonnen, doch für die türkische Polizei war der Fall am Montag klar: Sie veröffentlichte Fotos einer Frau in Handschellen. Sie soll die Bombe auf der Einkaufsstraße Istiklal platziert haben. Bei dem Anschlag am Sonntag auf der belebten Einkaufsstraße waren sechs Menschen getötet worden, 81 wurden verletzt.

Wenig später habe die Syrerin gestanden, ihren „Befehl“ von der „PKK/YPG/PYD“ bekommen zu haben. Aus türkischer Sicht sind die syrische YPG und deren politischer Arm PYD Ableger der verbotenen Terrorgruppe PKK und ebenfalls „Terrororganisationen“. Beide dementierten am Montag jegliche Verantwortung für den Anschlag mit mehr als 80 Verletzten.

Noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen sind, hätten türkische Beamte für eine neue Militäroperation in Nordsyrien plädiert, sagte Berkay Mandirici von der International Crisis Group. Ein Vorhaben, das Präsident Recep Tayyip Erdogan seit Mitte des Jahres ankündigt. Ankara geht regelmäßig gegen alle drei Gruppierungen militärisch vor, in der Südosttürkei, dem Nordirak und in Nordsyrien.

Mit der angeblichen Unterstützung für die YPG etwa hatte Ankara auch das Veto für die Nato-Norderweiterung um Schweden und Finnland begründet. Die USA wiederum sehen die YPG im syrischen Bürgerkrieg als Partner im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Innenminister Süleyman Soylu warf Washington erneut vor, „Terrororganisationen“ zu unterstützen. Er lehnte Beileidsbekundungen aus Botschaft und Konsulat ab.

Mandirici sagte, es bleibe abzuwarten, ob die türkischen Ermittlungen weitere Beweise einer Schuld der PKK/YPG aufdeckten. Die Terrormiliz Islamischer Staat oder das Terrornetzwerk Al-Qaida und Sympathisanten dieser Gruppen sollten noch nicht als potenzielle Täter ausgeschlossen werden. In der Türkei gebe es Schätzungen zufolge Tausende von IS-verbundenen Personen, sowohl türkische Staatsbürger als auch Ausländer, die aus Syrien und dem Irak eingereist sind. „Der Istiklal-Angriff spiegelt in Bezug auf Verhalten und Ziel frühere Angriffe des IS mit Blick auf Methode und Ziel in der Türkei in den Jahren 2015/2016 wider.“

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„Keine Reue“: Christchurch-Attentäter will Urteil anfechten

2019 griff ein Rechtsextremist in Neuseeland zwei Moscheen an und tötete 51 Menschen. Für die unfassbare Bluttat bekam er eine für das Land bislang einzigartige Strafe: lebenslange Haft ohne Bewährung. Dagegen will der Täter nun vorgehen. Die Wut im Land ist groß.

Wellington (dpa). Er löschte Dutzende Leben aus und filmte seine rassistisch motivierten Morde per Helmkamera: Nun will der Attentäter von Christchurch seine Verurteilung zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung anfechten. Wie das zuständige Berufungsgericht in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington am Dienstag mitteilte, hat der heute 32 Jahre alte Rechtsextremist Brenton Tarrant formalen Widerspruch gegen das Urteil vom August 2020 eingelegt.

Der Australier hatte am 15. März 2019 zwei Moscheen angegriffen und 51 Menschen getötet. 50 weitere wurden teilweise lebensgefährlich verletzt. Das minutiös geplante Massaker übertrug der Täter per Helmkamera ins Internet. Zuvor hatte er ein „Manifest“ mit rassistischen und rechtsextremen Parolen per E-Mail verschickt und ins Netz gestellt.

Ein Datum für eine mögliche Anhörung in dem Fall nannte das Berufungsgericht ebenso wenig wie eine inhaltliche Begründung für das juristische Vorgehen des Terroristen. Er hatte sich in dem damaligen Verfahren schuldig bekannt. Es war das erste Mal, dass in Neuseeland ein Angeklagter zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit auf Bewährung verurteilt wurde In Folge der Tat verschärfte die Regierung die Waffengesetze.

Das Verbrechen in Christchurch auf der Südinsel Neuseelands gilt als das blutigste in der jüngeren Geschichte des Pazifikstaats. Viele Überlebende leiden bis heute unter den Folgen, sind arbeitsunfähig oder müssen mit starken Schmerzen leben. Bei dem Prozess hatten mehr als 80 Überlebende und Hinterbliebene die Möglichkeit, Erklärungen abzugeben. Mit emotionalen und teils wütenden Wortmeldungen wandten sie sich oft direkt an den Täter.

„Ich habe vor langer Zeit versprochen, den Namen des Terroristen vom 15. März nicht öffentlich zu nennen“, sagte Ministerpräsidentin Jacinda Ardern. „Seine Geschichte sollte nicht erzählt werden, und sein Name sollte nicht wiederholt werden.“ Ardern hatte nach dem Urteilsspruch vor rund zwei Jahren bereits betont: „Er verdient völlige Stille auf Lebenszeit.“ Tarrant sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis in Auckland in Einzelhaft.

Die Föderation der islamischen Verbände von Neuseeland (FIANZ) sprach von einem weiteren Versuch des Todesschützen, Berühmtheit zu erlangen. Er wolle lediglich das Justizwesen als Plattform für Hassreden missbrauchen und versuchen, neue Anhänger für seine Sache zu gewinnen. „Dies ist ziemlich offensichtlicher und kalkulierter Versuch, die Opfer von Christchurch im Besonderen und die Nation als Ganzes erneut zu traumatisieren. Das zeigt, dass der Terrorist vom 15. März keine Reue kennt“, teilte FIANZ mit.

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NSU-Enttarnung vor zehn Jahren: Was wussten die Sicherheitsbehörden?

Die Angehörigen der Mordopfer des NSU tragen eine schwere Last: Der Verlust des geliebten Menschen. Die falschen Verdächtigungen. Und viele nagende Fragen, auf die es bis heute keine Antworten gibt. Wie konnten die Rechtsterroristen so lange unbehelligt bleiben? Von Anne-Béatrice Clasmann und Stefan Hantzschmann

Berlin (dpa). Zwei Leichen und acht Schusswaffen in einem brennenden Wohnmobil: Mit diesem grausigen Fund in Eisenach in Thüringen flog vor zehn Jahren die NSU-Terrorzelle auf. Erst nach dem blutigen Ende von Uwe Bönhardt und Uwe Mundlos am 4. November 2011 dämmert der Polizei, dass es Neonazis waren, die zwischen 2000 und 2007 acht Gewerbetreibende mit Wurzeln in der Türkei, einen griechischen Schlüsseldienstbetreiber und eine junge Polizistin töteten.

Dass nach den Attentaten jahrelang in die falsche Richtung ermittelt wurde – die Vermutungen gingen in Richtung Drogengeschäfte und Organisierte Kriminalität, auch trauernde Angehörige gerieten unter Verdacht – hat tiefe Spuren hinterlassen. „Die NSU-Mordserie hat sich wirklich in das kollektive Gedächtnis von türkeistämmigen Menschen eingebrannt“, resümiert die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD). Das Vertrauen in Polizei und Verfassungsschutz sei damals schwer beschädigt worden. Bis heute sei dieser Schaden nicht wirklich behoben, denn „danach gab es noch viele weitere rassistische und rechtsextremistische Anschläge – sie wurden auch nicht verhindert“.

Für den Dachverband wiegt schwer, dass das Versprechen, das Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Februar 2012 bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des NSU gab, aus Sicht der TGD nicht erfüllt wurde. Merkel hatte gesagt: „Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“

Vom NSU-Trio selbst konnte nur noch Beate Zschäpe vor Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. Das Oberlandesgericht (OLG) München verurteilte sie als Mittäterin zu lebenslanger Haft. Außerdem stellten die Richter die besondere Schwere der Schuld fest. Ralf Wohlleben wurde als Waffenbeschaffer wegen Beihilfe zum Mord zu zehn Jahren Haft verurteilt, Holger G. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren Haft. Diese Urteile sind bereits rechtskräftig. André E. wurde wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, über eine Revision ist hier noch nicht entschieden.

Die Arbeit der Behörden „war in Teilen geprägt von chaotischen Zuständen und Mitarbeitern, an deren fachlicher Eignung Zweifel angemeldet werden dürfen“, meint der FDP-Innenpolitiker Benjamin Strasser. Inwiefern der Verfassungsschutz über seine Quellen Informationen zu der Terrorzelle und ihrem Unterstützerumfeld erlangen konnte, sei bis heute nicht geklärt, kritisiert der Bundestagsabgeordnete.

Der Berliner Politologe und Buchautor Hajo Funke („Staatsaffäre NSU“), macht seine Kritik auch an Personen fest. Er sagt: „In der Zeit vor der Enttarnung des NSU hat vor allem der bayerische Innenminister Günther Beckstein von der CSU verhindert, dass die Ermittlungen zu dieser Mordserie in Richtung Rechtsextremismus gingen. Dabei gab es schon damals im Bundeskriminalamt durchaus Beamte, die der Frage nachgehen wollten, ob da Rechte hinter stecken.“ Das habe ihm der Anfang September verstorbene ehemalige BKA-Vizepräsident Jürgen Maurer noch kurz vor seinem Tod bestätigt. „Später war es Hans-Georg Maaßen, der nach dem Skandal um geschredderte Akten als neuer Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz eigentlich einen Neuanfang in dieser Behörde hätte anstoßen sollen, der die lückenlose Aufklärung zum NSU-Komplex behindert hat.“

Vor allem zwei Fragen treiben Beobachter, Ermittler, Anwälte, die Angehörigen und auch Maaßens Nachfolger Thomas Haldenwang bis heute um: Was war das Motiv für den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn? Und ist es wirklich möglich, dass sich ein Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz während der Ermordung des Internetcafé-Betreibers Halit Yozgat in Kassel in direkter Nähe aufhielt, aber trotzdem nichts sah oder hörte?

Buchautor Funke hat auch Zweifel an der offiziellen Darstellung dessen, was am 4. November 2011 in dem Wohnmobil geschah. Dass zwei schwer bewaffnete Terroristen, die schon oft getötet haben, ihrem Leben ein Ende setzen, weil sich zwei Polizisten ihrem Fahrzeug nähern, leuchtet ihm nicht ein. Er sagt: „Das war kein doppelter Selbstmord. Davon gehe ich aus. Wie es zum Tod der beiden Terroristen kam, das wissen wir bis heute nicht. Auch die Aufklärung zum Unterstützerkreis des Trios bleibt bis heute lückenhaft.“

Die frühere Obfrau der Grünen im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages, Irene Mihalic, fragt sich bis heute: „Wie waren die hessische und die Dortmunder Nazi-Szene eingebunden in die NSU-Morde in Dortmund und Kassel?“ Aus ihrer Sicht wäre es „sehr verwunderlich, wenn gerade der Verfassungsschutz mit V-Leuten in unmittelbarer Nähe des Trios auf den Etappen seines Wirkens im Untergrund keine Kenntnisse zu diesem gehabt hätte“.

In Thüringen arbeiteten nach dem Auffliegen des NSU zwei Untersuchungsausschüsse die Verfehlungen von Sicherheitsbörden auf. Die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes wurde reformiert, die Kontrolle durch das Parlament gestärkt. Die Thüringer Linke-Abgeordnete Katharina König-Preuss kommt zu der Einschätzung, dass der Verfassungsschutz weiterhin nicht ausreichend in der Lage sei, rechte Strukturen zu erkennen.

„Es ist einiges in Bewegung gekommen, aber wir sind noch lange nicht da, wo wir gerne hingekommen wären“, sagt die SPD-Landtagsabgeordnete Dorothea Marx, die maßgeblich in beiden Untersuchungsausschüssen mitwirkte. Ein Dunkelfeld sei immer noch die Rolle der Polizei beim Behördenversagen zur Aufklärung der NSU-Taten geblieben, findet Marx. Man habe nicht herausfinden können, was möglicherweise Vertrauenspersonen der Polizei wussten. „Da hatten wir keine uneingeschränkte Akteneinsicht mehr.“

Der Magdeburger Soziologe und Extremismus-Experte Matthias Quent schrieb nach dem Auffliegen des NSU seine Doktorarbeit über die Terrorgruppe. Er hält es für schwer vorstellbar, dass heute noch eine solche Mordserie verübt werden könnte, ohne dass ein rassistisches oder rechtsextremes Tatmotiv in Erwägung gezogen wird. „Das liegt aber nicht unbedingt an den Schlussfolgerungen, die struktureller Natur in den Behörden gezogen wurden“, sagte Quent. Grund sei vielmehr, dass sich Betroffene heute stärker zu Wort meldeten.

Die Türkische Gemeinde sieht bis heute Rassismus und ungelöste „strukturelle Probleme“ bei der Polizei und „keinen Willen zur Veränderung“. Sie kritisiert: „Gefühlt jede Woche wird eine neue rechtsextreme Chatgruppe der Polizei aufgedeckt“. Mihalic sagt: „Die massiven Ermittlungsfehler und der mangelnde Aufklärungswille in deutschen Sicherheitsbehörden hat das Vertrauen zahlreicher Menschen mit Migrationsgeschichte in die Sicherheitsbehörden nachhaltig geschwächt.“ Die Grünen wollen auf Bundesebene einen unabhängigen Polizeibeauftragten schaffen, auch um „etwaige rassistische Vorkommnisse und Ermittlungen“ schneller zu erkennen.

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Das Radikalisierungsdrama „Je suis Karl“ überzeugt trotz Überzeichnungen

(iz). Der neue Rechtsextremismus, das ist die Botschaft dieses Films, ist nicht mehr auf den ersten Blick als solcher sichtbar. Er ist habituell und intellektuell angekommen in der Mitte der Gesellschaft. Bei einem Bombenanschlag auf ein Wohnhaus in Berlin verliert Maxi (Luna Wedler) ihre Mutter (Mélanie Fouché) und ihre beiden kleinen Brüder. Ihr Vater Alex (Milan Peschel), ein Lehrer, flüchtet sich in Wahnvorstellungen, bleibt aber der linke, idealistische Menschenfreund. Maxi aber gerät in die Fänge Karls (Jannis Niewöhner), eines jungen, gutaussehenden Studenten, der sich in einem neurechten Netzwerk namens „Regeneration“ gegen Migration und für „Identität“ engagiert, seine Mitstreiter und -streiterinnen sind „junge Europäer“, überwiegend akademisch, überwiegend gutaussehend.

Auf deren Tagungen werden die üblichen antimigrantischen Klischees hergebetet, allerdings ohne die alte neonazistische Stumpfheit. Ja, es gebe Situationen, in denen man sein Brot teilen müsse, sagt das bildschöne, in marianisches Weiß gewandete Postergirl der französischen Rechten mit dem etwas zu sehr sprechenden Namen Odile Duval (Fleur Geffrier); aber man dürfe, peroriert sie, den Flüchtlingen eben nicht immer nur sagen „kommt“, sondern auch wieder „geht zurück“. Ihre Kombattantin, die hübsche Tschechin Jitka (Anna Fialová) – sie ist gestylt wie die Taylor Swift zwischen „1989“ und „Reputation“ –, ruft auch schon mal „Sieg Heil“. 

„Regeneration“ ist kein stumpfsinniges Sitzen um den Metkessel in der Uckermark, sondern eine Internationale des neofaschistischen Glamours. Jitka singt schwermütigen Gothic im Enya-Sound, auf den Tagungen wird kreuz- und quer gevögelt, ein Babylon Berlin, aber in Prag und Paris, und nicht 1920, sondern 2020. Konservative Revolution, George-Kreis für Millennials, inklusive homoerotischer Spannung unter Frauen und Männern. Faschismus, aber fesch.

In all das schlittert die halbfranzösische Maxi, die mit Karl natürlich eine Affäre anfängt, widerstandslos hinein, geht sie doch davon aus, dass hinter dem Anschlag auf ihr Elternhaus Islamisten steckten. Was sie nicht weiß, der Zuschauer aber schon: es war kein Islamist, sondern Karl, der, maskiert als „orientalischer“ Paketbote, die todbringende Fracht an Maxis Vater übergeben hatte, der sie arglos in der eigenen Wohnung abstellte. 

Karl ist der thanatophile Agent provocateur, dem auch seine eigenen, falschen, Ideale letztlich egal sind; dem es allein um destruktive Selbstwirksamkeit geht, um den „Willen zur Tat“. Rasch überredet er Maxi, auf einer Kundgebung der Bewegung in Straßburg zu sprechen, als das Mädchen, das seine halbe Familie durch islamistischen Terror verloren habe. Die er zur Traumatisierten machte, missbraucht er nun als Testimonial.

Die Inszenierung eines Milieus, das habituell nicht eindeutig als „rechts“ zu erkennen – und vielleicht auch gar nicht eindeutig rechts – ist, ist eine Stärke des Films. Wenn der Nihilist Karl die rechte Standardfloskel nachbetet, „die Begriffe links und rechts gebe es für ihn nicht mehr“, dann ist das womöglich gar nicht gelogen. Wenn Odile in ihrem Besteller lamentiert, ihre Eltern hätten ihr eine politische Welt hinterlassen, „in der sie nicht atmen, nicht leben könne“, so könnte diese Phrase genauso gut von „Fridays for Future“ stammen. 

Diese Stärke des Films, das Atmosphärische, ist freilich zugleich eine seiner Schwächen. Seit „Napola“ und „Die Welle“ neigt der deutsche Aufklärungsfilm zur Ästhetisierung, die zur involontären Identifizierung mit dem Gegenstand einlädt; Schwochos „Je suis Karl“ bildet hier keine Ausnahme. Die andere Schwäche liegt in der Überzeichnung: Als es im Anschluss an die Straßburger Kundgebung zur finalen Eskalation kommt, verwandelt sich die Stadt in ein Bürgerkriegsgebiet. Vater Alex, der seiner verlorenen Tochter hinterhergereist ist, flüchtet mit ihr an der Hand durch die Kanalisation, während draußen Schüsse gellen und ein rechter Mob auf Menschenjagd geht. Immerhin: die tödlich verstörte Maxi wird so innerhalb weniger Filmminuten von ihrem kurzen rechten Wahn geheilt. Ihre Hand dabei hält, ein sanftes arabisches Lied auf den Lippen – Yusuf (Aziz Dyab). Den jungen Libyer hatten ihre Eltern zwei Jahre zuvor nach Deutschland geschmuggelt und in ihrer Wohnung aufgenommen; er hat Maxi in Frankreich ausfindig gemacht und ihren Vater zu ihr geführt.

Der Gute in diesem Todesspiel ist der Migrant – der Böse Karl. Der hat sich nach seinem Auftritt in Straßburg von einem Mitstreiter erschießen lassen, um so ein Fanal zu setzen, und auch gleich den passenden Slogan dazu entworfen (nämlich „Je suis Karl“), und tatsächlich: als Maxi seinen blutenden Leichnam in den Armen hält, gibt es keinen Zweifel: Karl ist tot. 

Der Neonazi als Selbstmordattentäter – auf diesen dramaturgischen Kniff muss man erst einmal kommen. Er reprojiziert den paranoiden Verdacht der Rechten, Migranten seien Messermänner und Bombenleger, auf die Rechten selbst – angesichts der Geschichte des europäischen Faschismus kein unrealistischer Gedanke. Die Katharsis, die dem Film so gelingt, ist vollkommen.  

„Je suis Karl“ (Regie: Christian Schwochow, Drehbuch: Thomas Wendrich) lief auf der Berlinale 2021 und ist ab dem 16. September in den deutschen Kinos zu sehen. Der Film ist in vier Kategorien (u.a. als bester Spielfilm) für den Deutschen Filmpreis nominiert und kandidiert als deutscher Beitrag zu Oscar für den besten internationalen Film 2022.

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Peking ist vorsichtig: Taliban setzen voll auf Hilfe aus China

China

Die Taliban sprechen von ihren „Freunden“ in China, die Afghanistan wiederaufbauen wollten. Zwar tritt Peking in das Machtvakuum, das die USA hinterlassen haben. Aber Investitionen erfordern Sicherheit. So ist China vorsichtig. Kann es den Taliban überhaupt trauen? Von Andreas Landwehr

Peking (dpa/iz). Die Hoffnungen der Taliban auf baldige wirtschaftliche Hilfe aus China zum Wiederaufbau Afghanistans könnten enttäuscht werden. Nach ihrer Machtübernahme in Kabul setzen die Militanten auf den großen Nachbarn, der die „Gotteskrieger“ schon früh als die neuen Herrscher des Landes diplomatisch aufgewertet hatte. „China ist unser wichtigster Partner und bedeutet für uns eine grundlegende und außergewöhnliche Chance, denn es ist bereit, zu investieren und unser Land neu aufzubauen“, sagte ihr Sprecher Sabiullah Mudschahid der italienischen Tageszeitung „La Repubblica“.

Mit Chinas Hilfe planen die Taliban ein Comeback des schwer angeschlagenen Afghanistans. In dem Land gebe es „reiche Kupferminen, die dank der Chinesen wieder in Betrieb genommen und modernisiert werden können“, sagte der Sprecher. Der Wert der Bodenschätze in Afghanistan wird tatsächlich auf eine Billion US-Dollar geschätzt. Nur fehlt es an Investitionen und Infrastruktur, um den Reichtum auch zu bergen – vor allem aber mangelt es an der nötigen Sicherheit.

Erstmal verspricht Peking nur humanitäre Nothilfe und Impfstoffe gegen die Pandemie in einem Wert von 200 Millionen Yuan, umgerechnet 26 Millionen Euro. China ist diplomatisch aktiv, das von den USA nach ihrem Rückzug hinterlassene Machtvakuum auszufüllen. Außenminister Wang Yi spricht mit den Nachbarländern. Afghanistan ist am Donnerstag auch wichtiges Thema des Brics-Gipfels mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, Russlands Wladimir Putin und den anderen Staats- und Regierungschefs aus Indien, Brasilien und Südafrika.

Die Erwartungen der Taliban, China könnte den Wiederaufbau maßgeblich mitfinanzieren, wirken aber unrealistisch. So hat Peking die Milliardeninvestitionen in seine Infrastrukturinitiative der „Neuen Seidenstraße“ (Belt and Road Initiative) zum Aufbau neuer Handelswege schon heruntergefahren. Auch verweisen Experten in China auf die schlechte Sicherheitslage in Afghanistan und beäugen die Taliban misstrauisch.

Selbst früher, vor dem Ausbruch der Pandemie, als die Lage vergleichsweise stabil war, gab es keine größeren Investitionen Chinas. Zwei große chinesische Projekte in Afghanistan sind schon damals nicht ans Laufen gekommen. So erhielt 2008 ein Unternehmen aus China einen auf drei Milliarden US-Dollar geschätzten Zuschlag für die Entwicklung einer der größten Kupferlagerstätten weltweit in Mes Aynak. Und 2011 wollte ein chinesischer Konzern die Ölfelder am nördlichen Grenzfluss Amudarja erschließen. Nichts ist passiert.

„Deswegen denke ich, dass China gerade jetzt, wo es nicht nur potenziell, sondern tatsächlich Instabilität in fast allen Bereichen in Afghanistan gibt, nicht viel investieren wird“, sagt Professor Shi Yinhong von der Pekinger Volksuniversität. „Afghanistan hat jetzt drastische Veränderungen durchgemacht“, sagt der Experte. „Es gibt weder angemessene Sicherheit, noch lässt sich über nachweisliche und vergleichsweise langfristige, vernünftige Stabilität sprechen.“

Schon im befreundeten Pakistan, wo China im Rahmen der „Seidenstraße“ rund 60 Milliarden US-Dollar in Infrastruktur für den China-Pakistan Wirtschaftskorridor investiert hat, gebe es „feindliche Kräfte“, die chinesische Unternehmen und Personal attackiert haben, hebt der Professor hervor. Auch die Taliban an sich seien „komplex“, sagt Shi Yinhong auf eine Frage nach rivalisierenden Gruppen.

Ob China den Taliban überhaupt trauen kann? „Die chinesische Regierung hofft darauf, aber sie ist nicht naiv“, sagt der Professor. So haben die neuen Herrscher in Kabul versprochen, niemandem zu erlauben, vom Boden Afghanistans aus chinesische Interessen zu gefährden. Gemeint sind Extremisten und Unabhängigkeitskräfte, die China in seiner angrenzenden Region Xinjiang fürchtet – dem ehemaligen Ostturkestan. Dort gehen die Chinesen gegen muslimische Uiguren vor, haben Hunderttausende von ihnen in Umerziehungslager gesteckt.

Es hat schon eine gewisse Ironie: Während China in Xinjiang mutmaßliche Extremisten bekämpft, stellt es sich in Afghanistan an die Seite militanter Islamisten, die die Chinesen als ihre „Freunde“ preisen. Aber von echtem Vertrauen ist in Peking wenig zu spüren. „Ohne Beweise oder Prüfung über eine beträchtliche Zeit kann niemand glauben, dass die Taliban, die in der Vergangenheit untrennbar mit der ostturkestanischen Bewegung verbunden waren, so schnell und definitiv ihr Versprechen halten werden, das sie Chinas Regierung gegeben haben“, sagt Shi Yinhong.

Aber Peking ist pragmatisch. Denn es geht nicht nur um Xinjiang, sondern auch darum, dass Afghanistan ein Nährboden für Terrorismus und eine Quelle der Unsicherheit für Chinas Interessen in ganz Zentralasien und in Pakistan werden könnte. Selbst wenn China echte Sorgen über die Bereitschaft der Taliban habe, ihre Versprechen einzuhalten, seien die Beziehungen und der potenzielle Gewinn für Peking „einfach zu wichtig, um ignoriert zu werden“, glaubt der Sicherheitsexperte Derek Grossmann von der Rand Corporation. „Ähnlich wichtig ist das Risiko, die Taliban damit zu verärgern, ihnen verspätet die Anerkennung und Legitimation zu geben, die sie ersehnen, was Chinas Sicherheitsinteressen gefährden könnte.“

Krise im Sahel verschärft sich weiter

In Mali, Burkina Faso und Niger gab es in den vergangenen zwölf Monaten mehr als 1.000 Anschläge auf Zivilisten. Mehr als zwei Millionen Menschen sind auf der Flucht; und die Gewaltspirale dreht sich weiter.

Cotonou (KNA). Die Zahlen sind alarmierend. Nach Informationen der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wurden zwischen Januar und Juli allein im Westen des Niger mehr als 420 Zivilisten ermordet. „Die bewaffneten Islamisten führen einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung“, sagt Corinne Dufka, Sahel-Leiterin der Organisation; „sie töten, plündern und zerstören Leben“. Besonders betroffen ist die Region Tillaberi, die an Burkina Faso und Mali grenzt. Erst am vergangenen Wochenende starben dort 19 Personen; eine Woche zuvor waren es 37. Für Hilfsorganisationen wird die Arbeit immer schwerer.

Der schwerste Anschlag der vergangenen Wochen in Burkina Faso fand Mitte August zwischen Arbinda und Gorgadji statt, als mutmaßliche Dschihadisten einen Konvoi angriffen und 80 Menschen ermordeten. Unter den Opfern waren Soldaten, Zivilisten und Mitglieder von Selbstverteidigungsmilizen. Die katholische Bischofskonferenz sprach von einem „Akt der Barbarei“.

In Mali war zuletzt die Region Gao, die an den Niger grenzt, besonders betroffen. Angriffe auf die Gemeinde Ouatagouna mit mehr als 50 Toten bezeichnete die Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen für Mali (Minusma) als eine „Verletzung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts“ und forderte eine Untersuchungskommission. Die Minusma ist derzeit mit knapp 13.000 Soldaten im Land; dazu kommen eine Reihe weiterer Militäroperationen wie Barkhane mit 5.100 Soldaten. Die französische Mission zur Terrorbekämpfung soll bis 2023 halbiert werden, da der überwiegend militärische Ansatz als gescheitert gilt. In Mali, aber auch in Frankreich hatten das Experten lange vor der Entscheidung von Präsident Emmanuel Macron betont.

Die Region mit rund 65 Millionen Bewohnern ist schließlich trotz der starken Militärpräsenz seit 2013 immer instabiler geworden. Nach Einschätzung des Welternährungsprogramms WFP sind heute 13,4 Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen; knapp 2,1 Millionen sind in ihren Heimatländern auf der Flucht. Aktuell werden häufig Bauern beim Bewirtschaften ihrer Felder angegriffen. Das führt dazu, dass vielerorts Flächen brachliegen, was die schlechte Versorgungslage zusätzlich verschärft.

Betroffen ist auch das Bildungssystem. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung im Zentralsahel liegt bei 16,2 Jahren. Schon vor der Krise war Schulbesuch besonders auf dem Land keine Selbstverständlichkeit, vor allem nicht für Mädchen. Die wenigen Schulen waren schlecht ausgestattet, die Klassenräume mit 70 bis 80 Schülern völlig überfüllt. Seit 2017 haben sich im Sahel Anschläge auf Schulen versechsfacht, wie der im Februar gewählte nigrische Präsident Mohamed Bazoum kürzlich vor dem Weltsicherheitsrat betonte. Im Sahel sind daher knapp 5.000 Bildungseinrichtungen geschlossen; mehr als 700.000 Kinder haben keinen Unterricht; 20.000 Lehrer können nicht arbeiten. „Jede Schule, die geschlossen wird, ist ein Fenster, das sich schließt“, so Bazoum.

Das kann die Gewalt zusätzlich anheizen. Mitglieder der verschiedenen Terrorbewegungen wie der Gruppe für die Unterstützung des Islam und der Muslime (JNIM) und dem Islamischen Staat in der größeren Sahara (EIGS) verbreiten zwar eine salafistische Ideologie. Sie verbieten Feiern, den Gebrauch von Französisch, zwingen Frauen, sich zu verschleiern und planen Experten zufolge, ein Kalifat zu errichten. Doch auch Perspektivlosigkeit treibt junge Menschen in die Arme von Terroristen. Die US-Hilfsorganisation Catholic Relief Service sieht zudem Arbeitslosigkeit und entrechtete Jugendliche als ursächlich für die Gewalt an.

Neben einer Verbesserung der wirtschaftlichen Perspektiven mahnt die Denkfabrik International Crisis Group (ICG) mit Sitz in Brüssel außerdem bessere Regierungsführung an. Auch das Fehlen von Regierungshandeln hat letztlich dazu geführt, dass sich Terrorgruppen ausbreiten und große Teile der Bevölkerung ihr Vertrauen in den Staat verloren haben.

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