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GfbV würdigt Tilman Zülch: „Visionär und unbeugsamer Anwalt für Verfolgte“

Tilman Zülch

Tilman Zülch, langjähriger Verfechter für die Rechte verfolgter Völker ist nach Angaben der von ihm gegründeten GfbV am 17. März im Alter von 83 verstorben.

Göttingen (GfbV). „Am 17. März starb unser Gründer und Vereinsvater, Freund und langjähriger Initiator unserer Menschenrechtskampagnen, Tilman Zülch, im Alter von 83 Jahren in Göttingen. Wir sind tief betroffen über diesen Verlust. Mit unseren Gedanken sind wir bei seinen Angehörigen und Freunden in aller Welt“, teilt Burkhard Gauly, Bundessvorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Völker stellvertretend für Vorstand und Geschäftsstelle mit.

Tilman Zülch: Visionär der Menschenrechtsarbeit

Tilman Zülch war ein Visionär der Menschenrechtsarbeit. Sein Blick auf das Schicksal von verfolgten ethnischen und religiösen Minderheiten sowie indigenen Völkern, sein selbstloses Engagement gegen Völkermord und Vertreibung stehen heute beispielhaft für internationale Menschenrechtsarbeit. Denn die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass gerade Minderheiten, Völker ohne Staat und indigene Völker oftmals schutzlos der Verfolgung und Bedrohung, gar der Vernichtung ausgesetzt sind.

Dass sie eine internationale Lobby brauchen, die vehement für sie eintritt, war eine der Grundüberzeugungen von Tilman Zülch. Für ihn, geboren in Ostpreußen, mit seiner Familie vertrieben und geprägt durch die Erfahrungen des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, stand fest, dass das Wissen um die Shoa dazu verpflichtet, heute Verantwortung zur Verhinderung von Genozid und Gewalt zu übernehmen.

Diese Prinzipien und Tilman Zülchs Haltung, den Menschen in den Blick zu nehmen, Empathie zu empfinden und zu zeigen, auch selbstlos Menschen in Not zu helfen, werden wir als Gesellschaft für bedrohte Völker in unserem täglichen Einsatz für Verfolgte in aller Welt beherzigen.

Biafra, Irak sowie Sinti und Roma

Gemeinsam mit Klaus Guercke gründete Tilman Zülch 1968 die „Aktion Biafra-Hilfe“, aus der die GfbV hervorging. Diese setzte sich für die zehn Millionen Angehörigen des Ibo-Volkes ein, die von der nigerianischen Regierung mit militärischer Unterstützung der Sowjetunion und Großbritanniens einer Hungerblockade ausgesetzt wurden.

Mit der kirchlichen Luftbrücke flog Zülch in den Biafra-Kessel und wurde direkter Zeuge des Aushungerns, dem zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen. Im Oktober 1968 hielt Günter Grass eine viel beachtete Rede auf der ersten großen Biafra-Demonstration in Hamburg. Persönlichkeiten wie Ernst Bloch, Heinrich Böll, Paul Celan, Helmut Gollwitzer, Erich Kästner, Siegfried Lenz oder Carl Zuckmayer unterstützten die Aktionen der Biafra-Hilfe. 

In den nächsten Jahrzehnten gelang es Zülch, viele Menschen für die GfbV zu begeistern und an die Organisation zu binden: prominente Persönlichkeiten, Minderheitenvertreter, Vereinsmitglieder und über 30.000 Unterstützerinnen und Unterstützer.

Foto: Guillaume Le Bloas, Adobe Stock

Mit Tilman Zülch an der Spitze ist die GfbV immer wieder gegen den Strom geschwommen und hat sich nicht zuletzt für Volksgruppen eingesetzt, „von denen keiner spricht“, so der Titel eines der von Zülch herausgegebenen Bücher. Seit 1970 setzt sich die GfbV kontinuierlich für Kurden, Yeziden oder assyro/aramäische/chaldäische Christen im Nahen Osten ein.

So deckte die GfbV die Beteiligung deutscher Firmen am Aufbau der Giftgasindustrie und einer Kampfhubschrauberflotte im Irak auf, der in der kurdischen Stadt Halabja 5.000 Menschen zum Opfer fielen. 1977/78 wurde die erste große Europarundreise für indigene Delegierte aus 16 Staaten Nord- und Südamerikas organisiert – mit überwältigender öffentlicher Resonanz.

1979 bis 1981 machte die GfbV den bis dahin tabuisierten Holocaust an Sinti und Roma bekannt. Der von Zülch 1979 herausgegebene Band „In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt“ (mit einem Vorwort des kürzlich verstorbenen Philosophen Ernst Tugendhat), ein gemeinsam mit dem Verband deutscher Sinti unter Romani Rose organisierter Trauermarsch zur KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen (1979) mit der damaligen Präsidentin des Europaparlaments, Simone Veil, und Heinz Galinski, damaliger Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland sowie schließlich der Internationale Roma-Kongress (1981) in Göttingen unter Schirmherrschaft von Simon Wiesenthal und Indira Ghandi, mit 400 Roma-Delegierten aus 26 Staaten und fünf Kontinenten, brachten den Durchbruch:

Der Genozid wurde von der Bundesregierung anerkannt. Staatenlose Sinti erhielten ihre deutsche Staatsbürgerschaft zurück, die Bezeichnung Sinti/Roma anstelle von Zigeuner wurde durchgesetzt und die neu entstandenen Institutionen der Volksgruppe wurden nun staatlich gefördert.

Die lauteste Stimme für Bosniaken und Krimtataren

Die GfbV war die wohl lauteste und nachdrücklichste Stimme im deutschen Sprachgebiet, als im Bosnienkrieg (1992–95) Hunderttausende Europäer, bosnische Muslime, um ihr Leben liefen, vor geschlossenen Grenzen standen, in Konzentrations- und Vergewaltigungslagern, bei standrechtlichen Erschießungen und den Bombardements ihrer Städte starben.

Das Massaker von Srebrenica war der tragische Höhepunkt ihres Martyriums. Die GfbV organisierte 1993 die Bosnien-Demonstration vor der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, dabei waren auch Marek Edelman, Kommandeur der Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto, der französische Philosoph Alain Finkielkraut und der litauische Präsident Vytautas Landsbergis.

Foto: The Advocacy Project, via flickr | Lizenz: CC BY-ND 2.0

Es folgten u.a. die große Bosnien-Demonstration mit 50.000 Teilnehmern in Bonn (1994), die Gründung des Bosnischen Forums (1994), der Aufbau eines symbolischen Friedhofes vor dem Wohnhaus von Bundeskanzler Helmut Kohl (1995) und der bosnische Genozidkongress in Frankfurt (1995). Auch hier gilt unser Dank der Unterstützung von Persönlichkeiten wie Rita Süssmuth, Christian Schwarz-Schilling und Martin Walser.

Schon seit den 1980er Jahren setzte sich die GfbV als eine der ganz wenigen Organisationen für sowjetische Dissidenten wie den Anführer der Krimtataren Mustafa Dzhemilev ein. Nur folgerichtig war daher auch die intensive Arbeit gegen die Kriege in Tschetschenien (1992-1994, 1999-2006), das Anprangern der entsetzlichen Verbrechen durch das Putin-Regime dort und die harte Kritik an der deutschen Russlandpolitik in den 2000er Jahren. Die GfbV unter Tilman Zülch machte die indigenen Krimtataren und die von rücksichtslosem Rohstoffabbau und Rassismus betroffenen indigenen Völker der russischen Arktis zu ihrem Anliegen.

Foto: ZUMA Press Inc., Alamy

„Für die Rechte so vieler Menschen“ (S. Wiesenthal)

1999 schrieb Simon Wiesenthal an Tilman Zülch: „Sie haben eine Organisation mit gegründet und aufgebaut, die allen Menschen, die sich bedroht fühlen, eine Anlaufstelle für Hilfe bedeutet, mag die Bedrohung gegen Einzelpersonen oder Gruppen gerichtet sein. Sie haben sich für die Rechte so vieler Menschen eingesetzt, dabei den Menschen in den Mittelpunkt Ihrer Bemühungen gestellt – ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile und Anfeindungen – und auf diese Weise beispielgebend Großartiges geleistet. Ich war immer froh, auf Ihre Mitarbeit zählen zu können. Mögen Ihnen und Ihren Mitstreitern noch viele erfolgreiche Jahre und Aktionen beschieden sein!“

Zülch, der Herausgeber einer Reihe von Büchern über Völkermord und Vertreibung sowie der Zeitschrift „bedrohte Völker -–pogrom“ ist, erhielt für seinen unermüdlichen Einsatz als unbequemer Mahner und Warner zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, den Niedersachsenpreis für Publizistik, den Göttinger Friedenspreis, die Ehrenbürgerschaft der Stadt Sarajevo, den Bürgerrechtspreis des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma oder den Srebrenica Award against Genocide. 

Zülch betrachtete diese Auszeichnungen auch als Anerkennung der Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und der Regionalgruppen sowie des Engagements der Mitglieder und Förderer der GfbV.

Sein von Ideologie und Parteipolitik unverstellter Blick für Unrecht, seine Tatkraft und Entschlossenheit, seine große Bereitschaft, Schwächeren bei der Durchsetzung ihrer Rechte zur Seite zu stehen, bleiben unser Vorbild. Wir werden ihm in unserem Verein ein liebevolles und ehrendes Andenken bewahren.

Publizist Peter Scholl-Latour im Alter von 90 Jahren gestorben

Bonn (KNA). „Matata am Kongo“ – so hieß das erste Buch von Peter Scholl-Latour, das 1961 auf den Markt kam. 2012 brachte er mit „Die Welt aus den Fugen“ eines seiner letzten Veröffentlichungen heraus. Dazwischen liegen zig Titel etwa zu den Konflikten in Afrika, Asien oder Arabien, die den Ruf des deutsch-französischen Journalisten als einer der erfolgreichsten Sachbuchautoren hierzulande begründeten. Am Samstag ist der umtriebige Publizist im Alter von 90 Jahren nach schwerer Krankheit gestorben.

Bis zuletzt saß Scholl-Latour regelmäßig am Schreibtisch, reiste um den Globus und deutete in Talkshows oder Kolumnen das Weltgeschehen. Die Arbeit an einem Buch, das die aktuellen Krisenherde im Nahen Osten und in der Ukraine in den Blick nimmt, habe er noch abschließen können, teilte der Ullstein Buchverlag mit.

Scholl-Latours Leben selbst bietet für eine Biografie Stoff in Hülle und Fülle. Geboren in unruhigen Zeiten am 9. März 1924 in Bochum, als französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt hielten, verbrachte der Arztsohn von 1936 bis 1940 einen Teil seiner Schulzeit am Jesuitenkolleg Sankt Michael im schweizerischen Freiburg. Sein Abitur legt er 1943 in Kassel ab – und geriet wenig später mitten hinein in die Wirren des ausgehenden Zweiten Weltkriegs. Bei dem Versuch, sich 1945 der Partisanenarmee des späteren jugoslawischen Staatschefs Josip Broz Tito anzuschließen, wurde er in der Steiermark von den Nazis aufgegriffen und in Haft gesteckt.

//2// Foto: Wikimedia Commons|GFDL

Eigentlich habe er niemals Sympathien für Tito und seine Kommunisten gehegt, bekannte Scholl-Latour 2007 in einem Gespräch mit dem Linken-Politiker Gregor Gysi. „Ich wollte einfach aus Deutschland raus!“ Den Drang in die Freiheit und die Fremde hätte der damals 21-Jährige jedoch beinahe mit dem Leben bezahlt. Im Wiener Gestapo-Gefängnis infizierte sich Scholl-Latour mit Flecktyphus. Von der Krankheit habe es geheißen: „Entweder man stirbt daran, oder man wird verrückt“, so der Publizist. „Ich habe eine dritte Lösung gefunden und bin gesund geworden.“

//3l//Krisenfest und kaltschnäuzig: Diese beiden Eigenschaften sollten für das deutsche Fernsehpublikum ab den 1960er Jahren zum Alleinstellungsmerkmal der Marke „PSL“ gehören. Zunächst für die ARD berichtete der promovierte Politologe, der zudem an der katholischen Sankt-Joseph-Universität in Beirut Arabistik und Islamkunde studierte, vor allem aus Afrika und Asien. 1963 eröffnete er dann das ARD-Studio Paris, das er bis 1969 leitete. Nachdem er 1971 zum ZDF wechselte, wurde Scholl-Latour neben anderen Funktionen erneut mit der Studioleitung in der französischen Hauptstadt betraut, diesmal für den Mainzer Sender.

Kongo-Krise, Vietnam-Krieg oder der Aufstieg des Ajatollah Khomeini im Iran: Scholl-Latour war bei vielen historischen Schlüsselmomenten zugegen – und brachte sie seinen Zuschauern und Lesern in Deutschland nahe. Dabei geriet der Reporter immer wieder in brenzlige Situationen. So etwa im August 1973, als er und sein Kamerateam in die Hände der vietnamesischen Guerilla-Organisation, des Vietcong, gerieten. In solchen Situationen brauche es einen gewissen Instinkt, hatte Scholl-Latour in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) gesagt. „Den erwirbt man mit der Zeit.“

//1//Es gab aber auch Kritiker, die Scholl-Latour, seine Analysen als stereotype Darstellungen im Kolonialromanstil bezeichneten. Zudem provozierte der Publizist gern.

Ob man angesichts aller Gewalt und allen Elends überhaupt an Gott glauben könne, beantwortete der Katholik im KNA-Interview so: Die christliche Lehre der Erbsünde sei ihm vertraut. „Der Mensch ist nicht von Grund auf gut.“ Und weiter: „Die Vorstellung, dass wir in einem ‘Tal der Tränen’ leben, trifft es ganz gut, finde ich.“ Auf die Frage, wie er in Erinnerung bleiben möchte, hatte er in dem Interview geantwortet, „mir sind, denke ich, ein paar ganz gute Bücher gelungen. Der Rest ist Staub“.