„IZ-Begegnung“ mit dem grünen Europaabgeordneten Sven Giegold über Bedeutung und Auswirkungen des TTIP-Abkommens

(iz). Während das politische Berlin über das Tagesgeschäft debattiert, ­wird in Brüssel still und heimlich ein wichtiges Abkommen verhandelt: der Vertrag über die transatlantische Freihandelszone (TTIP). Amerikanische und europäische Lobbyisten versuchen gerade, ihre Rechte in Geheimverhandlungen zu stärken.

Das neue Abkommen wird globalen ­Multis außergerichtliche Son­der­rech­te und besondere Beteiligungsrechte am EU-Gesetzgebungsverfahren zubilligen. Sollte ein nationales Gesetz später ihre Investitionen gefährden, können diese Großfirmen bei Schiedsgerichten Schadensersatz einfordern.

Gegenstand der geplanten Vereinbarung ist also keine Kleinigkeit. Globalisierungskritiker wie Attac ­er­warten, „dass demokratische Rechte, soziale Stan­dards, Klimaschutz und Finanzmarktkontrolle auf dem jeweils niedrigsten Level harmonisiert werden sollen“. Bei den Stichworten Gen­food, Hormonfleisch und Chlorhühnchen, die bei der Deregulierung des Lebensmittelmarktes fallen, dürfte auch die Idee von Halal-Produkten betroffen sein.

Hierzu sprachen wir mit dem bündnisgrünen Europaabgeordneten Sven Giegold. Er gründete das globalisierungskritische Netzwerk Attac mit und war lange Zeit eines seiner führenden Köpfe. Im September 2008 wurde er Mitglied der Grünen. Seit Juni 2009 ist Sven Giegold Abgeordneter im ­Europäischen Parlament. Innerhalb und außerhalb engagiert er sich unter anderem für eine demokratischere Kontrolle der EU-Wirtschafts- und Handelspolitik.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Giegold, könnten Sie uns vielleicht – weil es doch offenkundig eine relativ komplexe Materie ist – kurz beschreiben, worum es bei dem transatlantischen Freihandelsabkommen geht?

Sven Giegold: Bei dem Abkommen geht es der Europäischen Union und der Regierung der Vereinigten Staaten darum, dass der Marktzugang zu den jewei­ligen Märkten einfacher ist. Es gibt ja kaum noch Zölle. Folglich handelt es sich vor allem um so genannte „nicht-tarifäre Handelsverhältnisse“. Das bedeutet zum Beispiel Standards, die auf beiden Seiten des Atlantiks für Produkte oder Dienstleistungen gelten. Beispielsweise dürfen Sie in Europa kein Fleisch von geklonten Tieren verkaufen oder kein Fleisch in Chlor baden, um es zu desinfizieren. In den USA ist so etwas grundsätzlich erlaubt. Jetzt können die dortigen Bauern ihre Produkte nicht nach Europa liefern und um ­solche Art von Handelsverhältnissen geht es in dem Vertrag.

Islamische Zeitung: Einige Autoren und Aktivisten haben die Verträge mit drastischen Begriffen beschrieben. Ein Kritikpunkt ist beispielsweise, dass Konzerne und internationale Unternehmen, wenn sie sich beeinträchtigt fühlen, die entsprechenden nationalen Regelungen relativ leicht ­aushebeln können. Trifft das zu?

Sven Giegold: Das ist ein zweiter Aspekt. Die erste Frage ist, dass in einem Vertrag versucht wird, die Standards des jeweils anderen Vertragspartners im eigenen Land oder im eigenen Handelsraum anzuerkennen und so einen großen Markt zu schaffen. Wenn dann aber die jeweiligen Länder den Investoren in einem anderen Staat oder dem Handels­partner schaden, dann werden so genann­te Investorenschadensklagen ermöglicht. Diese Klagen erlauben es beispielsweise einem Investor, dessen Investitionen nicht mehr so profitabel sind, weil beispielsweise eine Umweltregel geändert wurde, den entsprechenden Staat auf Schadensersatz zu verklagen.

Das ist natürlich antidemokratisch, ist aber bereits Bestandteil von vielen inter­nationalen Handelsverträgen. Auch von solchen, die die Europäische Union abgeschlossen hat – aber eben nicht mit den Vereinigten Staaten. Und die Handels- und Investitionsbeziehungen zu den USA sind natürlich besonders umfangreich. Also muss man davor warnen.

Islamische Zeitung: Haben die interessierten Konzerne die Möglichkeit, rückwirkend auf bestehende Gesetze einzuwirken?

Sven Giegold: Nein. Der Vertrag wird beschlossen und dann wird ein Standard festgelegt. Danach wird es dann schwerer, die jeweiligen Standards, etwa in den Bereichen Verbraucherschutz und Umwelt, weiter zu ändern. Man gerät dann in Gefahr, dass Änderungen zu Ersatzkla­gen führen oder eben als unerlaubte Handelsverhältnisse wirken. Das ist eigentlich der Regelfall. Das größte Problem besteht in etwas anderem: Das Problem der Handelsverträge ist die gegenseitige Anerkennung von Standards. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem Bereich, den Finanzmärkten.

Man legt mit dem Vertrag einen bestimmten Standard für die Bankaufsicht fest. Jetzt erkannt man, dass eine Bank immer noch zu wenig Eigenkapital hat. Und Europa will den Banken mehr Eigenkapital vorschreiben. Gehen wir einmal davon aus, dass die Vereinigten Staaten das nicht wollen. Dann stehen die jeweiligen Banken im Wettbewerb. Über den Handelsvertrag wird aber festgelegt, dass die Grenze offen für die jeweiligen Anbieter ist und dann haben die nationa­len Regierungen ein Problem: Dann müssen die Banken mit höheren Eigenkapitalanforderungen mit solchen, die niedrigere haben, konkurrieren. So macht es das Abkommen sehr schwer, einmal gefundene Standards noch zu erhöhen, weil die eigenen Anbieter mit jenen im Wettbewerb stehen, die niedrigeren Standards unterworfen sind. Sie dürfen sich nicht mehr gegen diese Unterschiede schützen.

Islamische Zeitung: In welche Lage bringt das die betroffenen nationalen Regierungen beziehungsweise die Wähler und Bevölkerungen?

Sven Giegold: Die Bevölkerung verliert faktisch einen relevanten Teil ­ihrer Demokratie.

Islamische Zeitung: Und wird das , wie frühere EU-Verträge, über Volksabstimmungen in den jeweiligen Ländern ratifiziert oder beschließt das die EU-Kommission ohne Rückfragen?

Sven Giegold: Das ist ein Missverständnis. Das ist kein EU-Vertrag, sondern ein Vertrag der EU. Das ist ein großer Unterschied. Die Europäische Union schließt Handelsverträge mit anderen Ländern ab. Das hat sie auch schon in vielen anderen Fällen getan, da gibt es auch keine Volksabstimmung. Bis vor Kurzem wurden solche Handelsverträge ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen.

Seit dem Lissabonner EU-Vertrag hat das Europaparlament dem zuzustimmen. Das bedeutet: In vermutlich einigen Jahren wird das Verhandlungsergebnis dann dem Europaparlament zur Zustimmung oder Ablehnung vorgelegt. Deshalb ist es auch ein wichtiges Thema für den kommenden Wahlkampf zu der Europawahl.

Islamische Zeitung: Gibt es irgendwie eine Möglichkeit der Einflussnahme durch zivilgesellschaftliche Gruppen oder NGOs?

Sven Giegold: Man muss erst einmal sagen, dass dieser ganze Vorgang sowieso abgeschlossen ist, denn die Verhandlungen finden im Geheimen statt. Selbst das Europaparlament bekommt nicht die Unterlagen vorgelegt. Wir werden zwar informiert, aber wir bekommen nicht den tatsächlichen Stand der Verhandlungen mit.

Zweitens, die Zivilgesellschaft hat erfreulicherweise schon angefangen, sich auf Europäischer Ebene einzumischen. Auch in Deutschland gibt es große Bündnisse gegen diese Verhandlungen auf der Grundlage des bestehenden Mandats. Es gibt auf einer Internetplattform eine sehr große Petition, die bereits von 270.000 Menschen gegen diese Verhandlungen unterschrieben wurde.

Islamische Zeitung: Wie haben die EU-Kommission, die Politik in Europa und in Deutschland auf Ihre Kritik reagiert?

Sven Giegold: Zuerst haben wir als Grüne im Europaparlament die Parlamentsresolution zu dem Verhandlungsmandat abgelehnt, weil es aus Sicht von Demokratie und Verbraucherschutz völlig inakzeptabel ist. Im Moment gehen die Verhandlungen weiter wie bisher.

Islamische Zeitung: Ist das Thema für Sie – einmal positiv gedacht – auch ein Kristallisationspunkt, an dem sich die europäischen Bürger bewusst machen können, wie ihre demokratische Zukunft aussehen könnte, wenn sie keine Beteiligung haben?

Sven Giegold: Sicherlich. Die Proteste sind ja jetzt schon erstaunlich stark. Ich kann nur sagen, dass ich mich freuen würde, wenn jetzt auch noch Kirchen und Religionsgemeinschaften anfangen würden, sich da einzumischen. Auch die Gewerkschaften sind langsam aufgewacht. Jetzt gibt es kritische Berichte vom Wirtschaftsforschungsinstitut IMK. Auch Ver.di sieht in dem Abkommen eine Beschränkung der demokratischen Rechte, und zwar in sehr sensiblen Bereichen. Nicht bei irgendwelchen Regeln zur Gestaltung von Kabelummantelungen, sondern bei Fragen, die die Bürger direkt betreffen. Insofern glaube ich, dass die Proteste zunehmen werden. Auch frühe­re Verträge sind im Handelsbereich ja immer wieder am Protest der Bürger ­gescheitert.

Islamische Zeitung: Lieber Herr Giegold, vielen Dank für das Gespräch.

Vor dem Bundespräsidenten-Besuch schlagen die Wellen hoch

Münster (KNA). Klappern gehört zum Handwerk. Vor allem zur rechten Zeit. Das haben offenbar auch die muslimischen Verbände verstanden. Sie sind unzufrieden mit dem Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster – kurz ZIT genannt. Diese Einrichtung, an der angehende Lehrer für den neuen bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht studieren, findet besonderes Interesse bei Bundespräsident Joachim Gauck. Ende November will er die Universität besuchen. Da stößt die Kritik der Verbände auf besonderes Echo.

Der Unmut wurzelt im komplizierten Verfassungsrecht. Zwar feiert die Politik den neuen islamischen Religionsunterricht an Schulen und die bundesweit insgesamt vier Studiengänge für die Lehrerausbildung als Meilenstein, weil sich nur so die religiöse Unterweisung junger Muslime aus Hinterhofmoscheen herausholen lässt. Doch die Frage, wer verbindlich über die Inhalte von Unterricht und Studiengang sowie das Lehrpersonal an Schulen und Uni bestimmt, ist nur behelfsmäßig gelöst.

Bei der christlichen Theologie sind die Kompetenzen klar in Konkordaten und Staatskirchenverträgen geregelt: Die Uni als staatliche Behörde garantiert die Forschungs- und Lehrfreiheit, die Inhalte aber bestimmen die Kirchen. Das Personal wird nach wissenschaftlichen Kriterien ausgesucht, aber nur mit Zustimmung der Kirchen ernannt.

Solche Rechte kommen den Muslimen nicht zu. Sie werden wegen fehlender Mitgliederlisten vom Staat nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt. Allerdings kann eine Landesregierung nicht festlegen, was zum muslimischen Glaubensbekenntnis gehört. Diese Aufgabe soll in Münster nach einem Vorschlag des Wissenschaftsrates ersatzweise ein Beirat übernehmen: Vier Vertreter benennt die Universität im Einvernehmen mit dem Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM), vier weitere schlägt der KRM selbst vor.

Die Zahl vier passt genau auf den Zuschnitt des Koordinationsrates. Denn er ist Dachverband von eben genau vier Verbänden: dem Zentralrat der Muslime, der DITIB, dem Verband der Islamischen Kulturzentren und dem Islamrat. Intern gilt die Regelung, dass jede Organisation einen Vertreter entsendet. Für den Islamrat sollte das sein Generalsekretär Burhan Kesici sein. Der Bund aber, der das Zentrum in Münster mitfinanziert, zweifelt an dessen Verfassungstreue und meldete Vorbehalte an. Auch für eine weitere vorgeschlagene Theologin gab es kein grünes Licht. Die Folge: Der Beirat hat sich noch gar nicht konstituiert, obwohl der Lehrbetrieb in Münster bereits seit einem Jahr läuft.

Die Verbände fühlen sich nun übergangen. Vor allem aber stoßen sie sich an dem mit ihrer Zustimmung berufenen ZIT-Leiter Mouhanad Khorchide. In Büchern wie „Scharia – der missverstandene Gott“ vertritt Khorchide eine gemäßigte Form des Islam und lehnt eine buchstabengetreue Erfüllung von Gesetzen ab. Nun haben die Verbände ein Gutachten über den Professor angekündigt.

Die Rektorin der Universität Münster, Ursula Nelles, weist entschieden zurück, die Mitspracherechte der Verbände zu übergehen. Bislang seien mitwirkungsbedürftige Beschlüsse nicht gefällt und Professoren nur befristet beschäftigt worden. Auch die Lehrinhalte seien nur für ein Semester fortgeschrieben und vom NRW-Schulministerium abgesegnet worden.

Auch dort gibt es einen Beirat, der über die Lehrpläne für den Religionsunterricht befindet. Das Pikante: Dort darf Islamrat-Generalsekretär Kesici mitarbeiten, der auch Vizevorsitzender der Islamischen Föderation Berlin ist. Die muslimischen Verbänden verstehen die Ungleichbehandlung ihres Kandidaten nicht und machen vor dem Gauck-Besuch in Münster ordentlich Druck. Uni-Rektorin Nelles hält eine Abberufung Khorchides sogar für möglich – wenn der Uni-Beirat das so entscheidet. Dazu muss er sich aber formieren. Der KRM sucht nach einem neuen Kandidaten.

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Wer den Verträgen gerecht wird

Wer, wie beispielsweise wir auch, gele­gentlich mit vergesslichen Kunden zu tun hat, muss gelegentlich die Erfahrung ausstehender Rechnungen machen. Dabei drängt sich gelegentlich der Verdacht auf, dass der Erfüllung einer […]

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