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Das Völkerrecht ist im freien Fall

IGH Urteil Völkermord Völkerrecht

Ein Gastkommentar von Aiman Mazyek über die Erosion des Völkerrechts im Gazakrieg.

(iz). Angesichts der gegenwärtigen Ereignisse im Gaza-Krieg wird deutlich, dass sämtliche Handlungen im Widerspruch zum Völkerrecht stehen: die Massentötung von Zivilisten, Journalisten und humanitären Helfern, die fortlaufende Besetzung palästinensischen Territoriums, die weitreichende Zerstörung Gazas – darunter Krankenhäuser, Moscheen, Kirchen und Schulen – sowie die Folter von Gefangenen und die absichtliche Aushungerung der Bevölkerung.

Fot: Anas-Mohammed, Shutterstock

Kontrast zwischen regelbasiertem Völkerrecht und realer Kriegführung

Noch nie zuvor wurde der massive Kontrast zwischen den auf Regelungen basierenden Prinzipien des Völkerrechts und der aktuellen Kriegsführung täglich und über eine so lange Zeit vor Augen geführt.

Die Konsequenzen für die Integrität der internationalen Beziehungen und Ordnung sind bedeutend. Die Weltmächte haben effektiv die Weltordnung, die sie größtenteils nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen haben, zerstört – nicht zuletzt aufgrund einer Doppelmoral, die einerseits die bedingungslose Einhaltung der Menschenrechte einfordert, sie aber in anderen Fällen bewusst ignoriert.

Foto: UN Women, via flickr | Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0

Im freien Fall: verheerende Botschaft der Großmächte an die internationale Gemeinschaft

Die Botschaft, die vom Gaza-Krieg (und der Lage in der Westbank) ausgeht, lautet: Institutionen, Regeln und Normen, auf denen eine wertebasierte Außenpolitik und eine globale Weltordnung beruhen, sind bedeutungslos geworden.

Wir befinden uns nun praktisch im freien Fall in einem Weltsystem, in dem die Autorität von Polizei, Regierungen und grundlegenden Überzeugungen infrage gestellt wird. Dies verändert alles.

Gaza ist nicht nur ein Friedhof für mittlerweile 33.000 Menschen, sondern auch ein Friedhof der internationalen Ordnung geworden. Die größten Unsicherheiten bestehen nun darin, ob eine neue Weltordnung ohne einen großangelegten globalen Konflikt und Krieg entstehen kann, wer die Grundlagen dafür legen wird und wie sie gestaltet werden kann, um für alle fair zu sein und von allen respektiert zu werden.

Foto: Deutscher Bundestag / Florian Gaertner / photothek

Wie positioniert sich Deutschland?

Und in Deutschland? „Nie wieder“ bedeutet, dass die Lehren des Holocaust, die in ihrer beispiellosen und von Menschen gemachte (in dem Fall deutschen Nazis) Vernichtung alles Jüdischen, universell gültig sind, und zwar für alle Menschen weltweit gelten. Deutschland hat sich dazu verpflichtet, wenn es sagt: „Nie wieder“.

Bedauerlicherweise haben uns wir im deutschen Diskurs – und die Welt reibt sich darüber verwundert, teils auch mit Schrecken die Augen – davon entfremdet und erreichen sogar einen Punkt, an dem der Holocaust in Teilen instrumentalisiert und als Rechtfertigung für den Verzicht auf moralische Klarheit herangezogen wird.

Doch die Furcht vor einem Verrat an den Lehren des Holocaust muss immer größer sein als die Angst vor der Kritik an Kriegshandlungen einer in diesem Fall rechtsextremen, fundamentalistischen Regierung, die versucht, alle ihre Kritiker (einschließlich Juden, Israelis selber) als Antisemiten zu brandmarken und zu verunglimpfen, die sie für ihre Kriegsverbrechen kritisieren.

* Dieser Text wurde erstmals am 11.04.2024 auf der Webseite der taz unter dem Titel „Gefährliche Doppelmoral“ veröffentlicht. Wiedergabe mit Einwilligung des Autors. Die IZ-Seite veröffentlicht ihn in seiner vollen Länge.

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Palästina fordert Gerechtigkeit

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Ist Israels Besatzung palästinensischer Gebiete legal? Mit der Frage befasst sich erstmals das höchste Gericht der UN. An der Anhörung beteiligen sich Dutzende Staaten und mehrere internationale Organisationen.

Den Haag (dpa/IZ) Zum Auftakt der Anhörung zur Rechtmäßigkeit von fast 60 Jahren israelischer Besatzung beim Internationalen Gerichtshof hat der palästinensische Außenminister Gerechtigkeit für sein Volk gefordert. Seit Jahrzehnten verstoße Israel bewusst gegen internationales Recht, sagte Riad Malki am Montag vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen in Den Haag. „Die Kraft des Rechts muss siegen.“

Die UN-Generalversammlung hatte 2022 ein Rechtsgutachten des Gerichtshofes beantragt. Es soll prüfen, inwieweit die 57 Jahre dauernde Besatzung legal ist und welche rechtlichen Konsequenzen sich daraus ergeben. Das Gutachten ist zwar nicht bindend, kann aber den internationalen Druck auf Israel im aktuellen Gaza-Krieg weiter erhöhen.

Nach Auffassung der Rechtsvertreter Palästinas verstößt Israel seit 1967 gegen internationales Recht, indem es breite Streifen Land annektiert habe und den Palästinensern das Selbstbestimmungsrecht nicht zugestehe. Die Richter sollten seiner Ansicht nach in ihrem Gutachten unmissverständlich klarstellen, dass die Besatzung illegal sei und das Recht auf Selbstbestimmung bekräftigen. 

Israel hatte 1967 das Westjordanland und Ost-Jerusalem erobert. Dort leben heute inmitten drei Millionen Palästinensern rund 700.000 israelische Siedler. Die Palästinenser beanspruchen die Gebiete für einen unabhängigen Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. 

Israel weist in einer vom Gericht veröffentlichten schriftlichen Stellungnahme die Anhörung als „Missbrauch des internationalen Rechts“ zurück. Israel unterstreicht „das Recht und die Pflicht, seine Bürger zu schützen“ und verweist auf die andauernde Gefahr für seine Bürger und die nationale Sicherheit durch palästinensische Terroristen. Die Stellungnahme Israels war bereits nach Angaben des Gerichts im Juli 2023 abgegeben worden, also noch vor dem Beginn des aktuellen Gaza-Kriegs

Das Leid in Palästina

 Der palästinensische Außenminister verwies am Montag auf das Leiden von Millionen Palästinensern im Gazastreifen durch die israelischen Angriffe, sie würden „belagert und bombardiert, getötet und verstümmelt, ausgehungert und vertrieben“. Malki warf Israel zudem systematische Unterdrückung sowie „Kolonialismus und Apartheid“ vor. 

Insgesamt beteiligen sich am Montag 52 Staaten und drei internationale Organisationen an der auf sechs Tage angesetzten Anhörung vor dem UN-Gericht – eine Rekordzahl in der Geschichte des Gerichts. Bis das Gutachten vorgelegt wird, kann es Monate dauern. 

Die Vereinten Nationen hatten Palästina 2012 den Status als Beobachterstaat eingeräumt. Von 193 UN-Mitgliedsstaaten haben bisher 139 Palästina als unabhängigen Staat anerkannt. 

Die Anhörung ist losgelöst vom Völkermord-Verfahren, das Südafrika gegen Israel wegen des Gaza-Krieges angestrengt hatte. In diesem Verfahren hatten die höchsten Richter Ende Januar in einem Zwischenentscheid Israel aufgetragen, alles zu tun, um Tod, Zerstörung und Völkermord im Gazastreifen zu verhindern. Israel wies die Vorhaltungen Südafrikas zurück. Pretoria wirft Israels Armee vor, beim Vordringen in den Gazastreifen gegen das Übereinkommen zur Verhütung und Bestrafung eines Völkermordes verstoßen zu haben.

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Kinder leiden, während das Völkerrecht verletzt wird

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Kinder im gegenwärtigen Krieg sind die Hauptleidtragenden vom weitverbreiteten Bruch des Völkerrechts. (The Conversation). Unter den Opfern, die bei den jüngsten Feindseligkeiten zwischen Israel und der Hamas ums Leben gekommen […]

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Bildersturm – über eine Reise nach Genf

bildersturm genf Deutschland

Bildersturm: Im Schweizerischen Genf drängen sich verschiedene Bilder ein. Hier ist Krieg und das Völkerrecht nie weit.

(iz). Vor meiner Abreise in die Schweiz besuche ich die Reiseabteilung einer Berliner Buchhandlung. Die Zeit drängt und ich wähle nach dem Zufallsprinzip den Titel „Fundstücke eines Bilderjägers“.

Auf dem Flug lese ich das Buch von Nicholas Bouvier; diesen Genfer Reiseschriftsteller kannte ich bisher nicht. Berühmt ist seine Reise von der Schweiz nach Afghanistan mit einem kleinen Fiat in den 1950er Jahren.

Bildersturm – in Genf mischt sich alles von Diplomaten bis Waffenhändlern

Seine Heimatstadt ist ein Eldorado der Ikonographen, die Bilder aus der Welt der Politik, Religion, Zoologie und Pflanzenkunde sammeln. Das Werk führt in einen Kosmos, erzählt langsam die Geschichten der Illustrationen, die der Sammler meist in alten Büchern gefunden hat.

Während das Flugzeug mit leichtem Zittern durch die Wolken gleitet, denke ich an den Bildersturm heute, der uns in den sozialen Medien überfällt, oft pornographisch Emotionen aufzwingt.

Im Zeitalter der Reproduzierbarkeit – wie es Walter Benjamin formulierte – mangelt es vielen Photographien an einer Aura, an Distanz, an einem Geheimnis.

Genf ist zweifellos eine faszinierende Stadt. Hier mischen sich Einheimische mit Diplomaten, Touristen, Finanzjongleure, Menschenrechtler und Waffenhändler. Angezogen von der Idee einer Schweizer Neutralität siedelten sich hier zahlreiche internationale Organisationen an.

Es gibt eine lokale Debatte über die Zukunft dieser Parteilosigkeit. Man fragt in diesen Tagen, ob diese zeitgemäß ist. Oder es werden die Machenschaften diverser Banken kritisiert, die traditionell Geld aus trüben Quellen verwalten.

Mitten in der Stadt am Genfer See sehe ich in das klare Wasser und auf die Berge am Horizont, die im Wind klirrenden Flaggen – typische Elemente auf Schweizer Postkarten, eine Bilderbuchlandschaft. Am anderen Ufer thront das „Beau Rivage“, ein pompöses Hotel.

Ein Bild drängt sich auf. Ich sehe vor mir die Aufnahme des verstorbenen Ministerpräsidenten Uwe Barschel, der in einem der Hotelzimmer in der Badewanne tot aufgefunden und von einem Journalisten fotografiert wurde. Ein alter Medien-Skandal der 1980er Jahre, Mord oder Selbstmord, bis heute ungeklärt. Warum nur habe ich dieses Bild nicht vergessen?

Menschenrechtsrat Genf UNO

Foto: Ludovic Courtès, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0

Am Platz der Nationen

Mit dem Bus fahre ich zum Platz der Nationen. Dort ist ein Stand mit israelischen Flaggen aufgebaut. Ein Aktivist hebt ein Schild in den Himmel, auf dem steht „bring them home!“. An einer Wand Bilder von jüdischen Geiseln, Opfer des terroristischen Anschlages vom 7. Oktober: Männer, Frauen, Kinder. In den Gesichtern spiegelt sich die Verzweiflung.

Auf der anderen Seite des Platzes – direkt vor dem UN-Gebäude – stellen sich drei Jugendliche auf. Mädchen aus der Schweiz, denke ich. Sie werfen sich eine palästinensische Flagge über die Schultern, zeigen in Blickrichtung zum UN-Palast das Victoryzeichen.

Ein junger Mann macht ein Foto von ihnen. Ich bin sicher, dieser Moment der Solidarität wird in wenigen Minuten virale Aufmerksamkeit erregen.

Den Hügel hinauf gehe ich zum Museum des Internationalen Roten Kreuzes. In den Räumen wird die Entstehungsgeschichte der Organisation erzählt, Einsatzorte vergangener und aktueller Tragödien präsentiert.

Es gibt ein Zimmer, in dem man auf ein Meer von Karteikarten stößt; eine Art Ordnung, die versucht, das Schicksal von Millionen Kriegsgefangenen und Verschollenen aus dem 1. Weltkrieg zu verwalten.

Foto: Time Life Pictures | gemeinfrei

„Mindeststandard von menschlicher Würde“

Hoffnung vermittelt hier eine andere Erzählung, die Lehren aus verschiedensten Kulturen und Religionen integriert, die sich alle um einen Mindeststandard von menschlicher Würde drehen – gerade im Krieg. Die islamische Welt präsentiert ein Zitat aus einem andalusischen Rechtsbuch im Jahr 1280: „Die Vernichtung von Frauen, Kindern und Kranken ist verboten!“ 

Ich kaufe ein Buch von Henry Dunant, dem Gründer des internationalen Komitees des Roten Kreuzes im 19. Jahrhundert und setze mich in das Museumscafé. Ich lese seine Erinnerungen an Solferino.

Der Ort in Italien war Schauplatz einer Schlacht zwischen Franzosen und Österreichern am 24. Juni 1859. Auf einer touristischen Reise gerät der Autor zufällig in diesen Krieg mit abertausenden Toten, ein furchtbares Gemetzel voll barbarischer Brutalität.

Einer der wenigen Standards, die beiden Seiten akzeptierten, war es, keine Lazarette zu bekämpfen. Durant kümmert sich mit einigen Helfern um die Sterbenden, Verletzten, organisiert Krankentransporte und tröstet Verwundete. Die Schilderungen sind so realistisch, der Schrecken so eindrucksvoll, ganzheitlich beschrieben, wie es – wie ich finde – keine Bildersprache vermag.

Von diesen Erfahrungen wird später die erste Genfer Konvention geprägt und der Versuch gewagt werden, Meilensteine der Humanität zu setzen.

Gaze Krieg Bomben

Screenshot: YouTube

Sprachlosigkeit angesichts der Ereignisse

Ich habe die Zeit vergessen und begebe mich auf den Weg ins Hotel. Am Abend schalte ich die Nachrichten an. Ein Krankenhaus im Gazastreifen wurde von einer Rakete getroffen. Die Aufnahmen zeigen Verwundete, Tote, Männer, Frauen und schreiende Kinder. Es ist empörend. Unrecht. Man ist sprachlos. Das Schweigen dauert nur einen Moment.

Ich wechsle das Medium. In den sozialen Medien herrscht Wut. Es folgen Anschuldigungen und Theorien. Jeder fügt das Geschehen sofort in seine Deutung der Lage ein. Und Bilder lügen nicht – oder doch?

Später schaue ich mir Analysen an, begleitet von Endlosschleifen der furchtbaren Eindrücke. Welten: Welt 1 = ZDF, Welt 2 = BBC-News, Welt 3 = Al Jazeera. Auf welchem Planeten leben wir, denke ich? Spät am Abend bezahlt der Zuschauer den Preis für den Konsum der Bilderflut: Schlaflosigkeit. Es ist eine dunkle Nacht.

Am Morgen beschließe ich, das Leben fortzuführen. Was sonst? Die Fahrt in die Stadt führt wieder am Platz der Nationen vorbei. Er ist leer. Regen. Ich denke über die aktuellen Stellungnahmen des UN-Generalsekretärs nach.

Einerseits, die Verurteilung des Terrors der Hamas, andererseits, der Aufruf zur Wahrung des internationalen Rechts. Das Mindeste, was zu erwarten ist: die klare Unterscheidung zwischen Palästinensern und Terroristen. Sie ist, wie ich im Museum des Roten Kreuzes gelernt habe, die Basis für alle Zivilisationen. Dann regiert die Politik.

Was meine Identitäten angeht, bin ich flexibel und mutiere zum Touristen. Die Genfer Altstadt ist ein Besuch wert. In den Geschäften gibt es Schokolade und teure Uhren. In einer Gasse fasziniert mich das kleine Büro „zur Lösung internationaler Konflikte“. Der Blick durchs Fenster: Zwei Männer in Anzügen sitzen an ihren Laptops und arbeiten an wichtigen Problemen, immerhin.

An der Kathedrale entdecke ich das Museum der Reformation und entschließe mich zu einem spontanen Besuch. An der Kasse werden Bücher verkauft: „Luther und die Juden“ zum Beispiel. Die revolutionäre Idee des Protestanten: Gläubige lesen die Bibel künftig selbst; lobenswert, finde ich. Allerdings werden sie in seinen eigenen Reden herben antisemitischen Aussagen begegnen.

Die Nationalsozialisten werden sich Jahrhunderte später auf die ökonomischen Theorien Luthers berufen, in ihrer Gottlosigkeit komplett pervertieren und die schlimmste Judenverfolgung aller Zeiten organisieren. Nach der Verfolgung ist es für viele Juden nicht mehr denkbar, in Deutschland zu leben. Sie finden einen Fluchtort: Israel.

Das Museum ist sehenswert und zeigt – neben der Geschichte der Religionskriege in Europa – das humanitäre Engagement der AnhängerInnen dieses Glaubens. Auf Schaubildern sieht man die Expansion der evangelikalen Lehre in alle Welt. Im 19. Jahrhundert findet diese Verbreitung im Rahmen der Kolonialisierung statt: in Südafrika, im arabischen Raum, in Amerika und in China.

Ich denke wieder an den Gründer des Roten Kreuzes, Henry Dunant. Der Unternehmer betrieb damals ein Geschäft in Algerien, der Kolonie Frankreichs. Der Glaube an die Gültigkeit universeller Werte ist seit den Zeiten der Kolonialpolitik erschüttert.

Wie in jedem Glaubenssystem kämpft man gelegentlich gegen Zweifel an. Sicher ist, das Leben schafft  Widersprüche. Sie zu ertragen, gehört dazu.

Foto: A-One Rawan, Shutterstock

Nüchternheit ist schwierig

Am frühen Nachmittag treffe ich mich mit ein paar Juristen aus Europa und dem arabischen Raum. Normalerweise gehört zur Rechtswissenschaft, bevor ein Urteil gefällt wird, das nüchterne Studieren der Argumente der Anklage und der Verteidigung. Im Fall des israelisch-palästinensischen Konfliktes lassen sich politische Überzeugungen, Behauptungen, Emotionen und juristische Sachverhalte nur schwer trennen.

Der Streit um Begriffe, die Anwendung und Macht der internationalen Normen, die Grenzen des Widerstandsrechts und so weiter – all das gehört zum Geschäft. Und: die Politisierung des Rechts ist schon lange ein allgemeines globales Problem. Das Gespräch gipfelt in einer Bemerkung eines Kollegen: „Die Bilder des Konfliktes sprechen doch eine eindeutige Sprache!“

Hm, ist das so? Zum Glück beherrschen die Beteiligten die Kunst der Deeskalation. Eine Prügelei wäre aus Sicht der ehrwürdigen Profession trostlos. Man trennt sich – ernüchtert, aber freundlich.

In der Nacht fliege ich zurück nach Berlin. Auf den Straßen der Hauptstadt wird demonstriert. Dabei herrscht Gott sei Dank Konsens, dass jüdisches Leben in dieser Stadt beschützt wird. Was mir in den Sinn kommt, ist die Ironie der Geschichte:

Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in einer Rede vor der Knesset im Jahr 2008, die Sicherheit und Existenz Israels zur deutschen „Staatsräson“ erklärte. Die gleiche Politikerin wurde später von ihren konservativen Kollegen zerrissen, von uns bewundert, im Jahr 2015 eine Million Flüchtlinge ins Land gelassen zu haben. Ich erinnere mich nicht, dass die Kanzlerin, die zweifellos für beide Seiten der Medaille steht, von Muslimen je kritisiert wurde.

Die Gesellschaft, deren Teil wir alle sind, diskutiert heute, was diese Verpflichtung für das Existenzrecht des Landes faktisch bedeutet. Ich verstehe Angela Merkels Position nicht im Sinne eines Freibriefes für beliebige Reaktionen des israelischen Militärs oder der Regierung, sondern lese darin ein Bekenntnis zum internationalen Recht der UN und zu den Besonderheiten unserer Geschichte. Darum geht es in Deutschland.

Drohnen 2023: Die Himmel über Kampfzonen füllen sich zusehends

Drohne

Militärische Drohnen schwärmen über der Ukraine und anderen Konfliktherden aus – und wenn es um das Völkerrecht geht, ist alles erlaubt.

(The Conversation). Laute Explosionen erschüttern den Abendhimmel. Lichtstreifen erscheinen wie Kometen. Raketen regnen herab. Unten drängen sich die Menschen in Deckung. So sieht der Alltag in der Ukraine aus, wo in einem realen Krieg mit Russland unbemannte Fahrzeuge den Himmel übersähen. Von Tara Sonenshine

Foto: aleksandarlittlewolf, Freepik.com

Kriegsdrohnen sind zum wichtigen Werkzeug geworden

Beide Kriegsparteien setzen solche Flugkörper ein, um unter anderem Ziele aus der Ferne zu orten und Bomben abzuwerfen. Heute werden sie in weiteren Kriegen eingesetzt, aber auch für Paketzustellung, Wetterbeobachtung, Abwurf von Pestiziden und zur Unterhaltung von Drohnenbastlern.

Willkommen in der Welt der Drohnen! Sie reichen von kleinen Vier-Rotor-Modellen bis zu ferngesteuerten Kampfflugzeugen. Alle Arten werden von Militärs weltweit eingesetzt. Als Dozent für öffentliche Diplomatie – und ehemaliger stellvertretender Außenminister – weiß ich, wie wichtig es ist, sie und ihre Verbreitung zu verstehen.

Das gilt insbesondere angesichts von Kriegsrisiken, Terrorismus und ungewollten Kollisionen in der Welt von heute.

Foto: MaxPixel

Die USA machten den Anfang

Die USA gehören zu den mehr als 100 Ländern, die Drohnen in Konflikten nutzen. Auch Terroristen haben das getan, denn diese Systeme sind relativ preiswert und erzeugen hohe Opferzahlen unter Zivilisten. Bis 2025 soll es weltweit mehr als sieben Millionen Drohnen für Endverbraucher geben. Und von 2021 zu 2022 stiegen die globalen Verkaufszahlen um 57 Prozent.

Angesichts des exponentiellen Anstiegs der Drohnenkäufe gibt es für die Käufer nur wenige Beschränkungen. Das führt zu einem wilden Westen mit ungeregeltem Zugang und unkontrollierter Nutzung.

Jeder Staat kann frei entscheiden, wann und wo diese Geräte fliegen, ohne sich gegenüber einem anderen oder einer internationalen Behörde für ihre Anwendung zu verantworten. Der Himmel ist oft mit Drohnenschwärmen gefüllt, abgesehen davon, dass es vor Ort keine Anleitung zu seinen Regeln gibt.

Jede Regierung hat ein spezifisches Interesse für den Kauf und die Nutzung von Drohnen. China setzt zunehmend ausgefeilte Geräte in der verdeckten Überwachung ein – vorrangig in den Gewässern um die umstrittenen Inseln im südchinesischen Meer. Sein erweitertes Drohnenprogramm veranlasste andere Staaten, ebenfalls mehr in diese Technologie zu investieren.

Foto: Армія Інформ, via Wikimedia | Lizenz: CC BY 4.0

Die türkische Bayraktar-Drohnen erobern den Markt

Das türkische Militär verfügt über eine hoch entwickelte Drohne. Die Bayraktar TB2 kann lasergesteuerte Bomben tragen und ist klein genug, um in einen Pritschenwagen zu passen. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) importieren Flugkörper aus China und der Türkei, um sie im Jemen und in Libyen zur Überwachung von Warlords einzusetzen, falls ein Konflikt ausbricht.

Südkorea erwägt die Gründung einer Drohneneinheit, nachdem es auf einen kürzlichen nordkoreanischen Drohnenangriff nicht reagieren konnte. Als Nordkorea im Dezember 2022 fünf Drohnen startete, musste Seoul seine Kampfjets zu Warnschüssen veranlassen.

Staaten schaffen ihre eigenen Regeln, anstatt sich auf international vereinbarte Regelwerke verlassen zu können. Das Völkerrecht verbietet den Einsatz bewaffneter Kräfte, solange der UN-Sicherheitsrat diesem nicht zustimmt oder solange kein Fall von Selbstverteidigung vorliegt. 

Unterhalb der Schwelle eines konventionellen Krieges können Drohnen legal gegen Terroristen, zur Überwachung und anderen Bedürfnissen eingesetzt werden, die nicht der Selbstverteidigung dienen.

Aber das schafft eine abschüssige Ebene, die in einen bewaffneten Konflikt führen kann. Bisher war es hart, nationale und internationale Regeln für sie zu schaffen. Das ist ein Vorhaben, an dem Juristen seit 20 Jahren arbeiten. Die Gefahren von Drohnen sind real.

Viele Drohnenexperten wie ich sind der Meinung, dass es unsicher ist, wenn die Militärs der einzelnen Länder ihre eigenen Entscheidungen über Drohnen treffen, ohne dass es Regeln gibt.

Drohnen fordern das Recht heraus

Spätestens seit dem Aufflammen des Terrorismus in aller Welt und dem globalen Krieg gegen den Terror wird auch die Krise des internationalen Rechts augenfällig. Hierbei geht es nicht nur um die Rechtspraxis, sondern auch um die rechtsphilosophische Begründbarkeit neuer Phänomene staatlicher Gewaltausübung.

Typischerweise liegen dabei die Probleme der modernen Rechtsphilosphie meist im Kontext der technischen Revolution und den zahlreichen Innovationen im Sicherheitsbereich und in der Militärtechnik verborgen. Wenn der Krieg – wie Heraklit meinte – der „Vater aller Dinge” sei, dann sind die philosophischen Konsequenzen dieses Neulandes kaum abzusehen.

Eine Zeit lang wirkten Drohnen wie ein technischer Spleen ohne großen Praxisbezug. Das war einmal. Heute werden diese Flugmaschinen zunehmend zu einem Symbol einer neuen Zeit.

Drohnen liefern Pakete, kundschaften den Nachbarn aus oder sind fliegende Reporter, die von amerikanischen Fernsehanstalten an die Orte mit „Breaking News“-Potenzial gesendet werden.

Natürlich wird schon die zivile Nutzung von Drohnen einige gesellschaftliche Debatten auslösen müssen. Aber, hier liegt der Kern, Drohnen fordern vorrangig als Kriegswerkzeug unsere ethischen Grundlagen heraus.

* Abdruck im Rahmen einer CC-Lizenz.

** Mit Material aus dem IZ-Archiv.

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Gesellschaft für bedrohte Völker zu sechs Monaten russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine

Ordnung

Göttingen (GfbV). Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat Bundeskanzler Olaf Scholz aufgefordert, sich für die Schaffung eines internationalen Gerichtes einzusetzen, das die russischen Verantwortlichen für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zur Rechenschaft zieht:

„Wladimir Putin und seine Geheimdienste haben sich geirrt, als sie am 24. Februar 2022 davon ausgingen, dass die Menschen in der Ukraine ihre Unabhängigkeit und ihre Demokratie mehr oder weniger kampflos aufgeben. Am heutigen Nationalfeiertag der Ukraine ist die Entschlossenheit, die russische Invasion zurückzuschlagen, größer als je zuvor. Die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofes für die russischen Verbrechen gegen die Ukraine würde zeigen, dass Putin auch die Willenskraft der Staatengemeinschaft unterschätzt hat. Die Strafverfolgung der für den Krieg Verantwortlichen ist darum ein wichtiges Signal“, sagte GfbV-Direktor Roman Kühn am heutigen Mittwoch in Göttingen.

„Grundlage aller Verbrechen, die die russische Armee in den letzten sechs Monaten auf dem Territorium ihres Nachbarstaates begangen hat, ist der Angriffskrieg Putins. Die Erschießungen von Zivilisten, Bombardierungen von Krankenhäusern und Opern, die Deportation von Ukrainerinnen und Ukrainern nach Russland und die kommenden Pseudo-Referenden über die Zugehörigkeit okkupierter Gebiete zu Russland sind Konsequenz der Entscheidung des Kremls, ein benachbartes Land anzugreifen.“ 

Ukrainische Ermittler verfolgen derzeit ungefähr 25.000 Fälle von Kriegsverbrechen russischer Soldaten in der Ukraine. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat Ermittlerinnen und Ermittler in die Ukraine geschickt, die Fällen von Kriegsverbrechen nachgehen. Er hat aber im Falle der Ukraine und Russlands keine Zuständigkeit für das von Putin begangene Verbrechen der Aggression, dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. 

„Ein neuer ad-hoc-Strafgerichtshof, der eigens für den russischen Krieg eingesetzt wird, würde den Fokus auf die Entscheidung Putins lenken, einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu beginnen“, so Kühn. „Die Verteidigung der ukrainischen Unabhängigkeit und territorialen Integrität verlangt nach einem Gericht, dass Verantwortliche auf höchster Ebene belangen kann. Deswegen sollte sich Bundeskanzler Scholz gemeinsam mit Deutschlands Verbündeten für ein solches Gericht einsetzen.“

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Die Theorie des Partisanen holt die Taliban ein

(iz). Die Bücher des, wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus verfemten, Staatsrechtlers Carl Schmitt behandeln Kernfragen moderner Ordnungsmodelle. So werden Werke wie „Nomos der Erde“, „Der Begriff des Politischen“ oder „Theorie des Partisanen“ weiterhin zitiert, wenn es um die Einordnung geopolitischer Ereignisse geht. In der letztern Schrift (1962 publiziert) drehte sich sein Denken um die weltpolitische Bedeutung des Partisanen.

In seiner Abhandlung beschreibt der Jurist das alte Paradox, das verhältnismäßig kleine Partisanengruppen unter Ausnutzung der Verhältnisse am Boden große Mengen regulärer Truppen binden. Der Fall Afghanistan sowie Sieg der Taliban zeigen, dass dieses Phänomen immer noch Aktualität beansprucht. In seiner Theorie sind es vier Kriterien, welche die spezifischen Eigenschaften jener Kämpfer aufzeigen: Irregularität, gesteigerte Mobilität, Intensität des politischen Engagements und ihr tellurischer Charakter.

Ihre Partisanentaktik erklärt den schockierenden Erfolg der Taliban. Wobei ihre religiösen (man sagt „mittelalterlich“ geprägten) Überzeugungen die Intensität ihres Kampfes begleiten, wenn auch nicht vollständig erklären können. Bereits ihre Ausrüstung und Umgang mit Kriegsmaterial der neuesten Generation, ihre Fähigkeit zum totalen Krieg und ihr Wille zur Macht ohne Rücksicht auf Verluste zeigen, dass sie Kinder der Moderne sind. Jetzt wird sich zeigen, ob sie zu einer Formensprache finden, die so etwas wie Realpolitik ermöglicht.

Nach Jahrzehnten trostloser Auseinandersetzungen muss der Frieden für alle Beteiligten das primäre Ziel sein. Am Rande könnte der Westen einige seiner eigenen Widersprüche auflösen. Die Irregularität des Taliban-Kampfes hat die Amerikaner zu einer Strategie der Luftschläge und Drohnenkriege verführt und mündete zu Recht in die Debatte, ob diese Mittel – man denke nur an zivile Opfer – vertretbar sind. Auf dem Boden war die westliche Koalition nie in der Lage, das Land nachhaltig zu befrieden.

Jetzt wird sich erweisen, ob es den Taliban gelingt, ihren Status als kämpfende Kriminelle zu überwinden und Ordnungsmacht zu werden. Bisher waren sie nur ein „Unwert“ im westlichen Wertesystem. China und Russland sind hier zu Zugeständnissen bereit. Vermutlich ebenso die Amerikaner, die sie mit ihren Geheimverhandlungen faktisch aufgewertet hatten.

Es gibt eine Passage in „Theorie des Partisanen“, die zumindest aus weltpolitischer Sicht ein wenig Hoffnung auf ein gutes Ende in der Region stiftet. Nach Schmitt hat der Partisan einen wirklichen, aber keinen absoluten Feind. Für ihn folgte daraus eine andere Grenze der Feindschaft aus dem tellurischen Charakter des Irregulären, der ein Stück Erde verteidige, zu dem er eine autochthone Beziehung habe. Nur weil dieser absolute Begriff der Gegnerschaft den ehemaligen Kämpfern fehle, sei überhaupt ein Friedensabkommen im Bereich des Möglichen.

Im Gegensatz zur Pragmatik der Taliban zeigt sich der Terrorismus der IS-Terroristen klarer. Das sind Gruppen, die ebenso irregulär kämpfen, aber keine vergleichbaren politischen Motivationen kennen, sondern ihren religiös verklärten Nihilismus global verbreiten. Der Vernichtungswille dieser Verbrecher ist seiner Natur gemäß absolut, ihr Ziel ist das Chaos, während die Taliban – zumindest rhetorisch – in Kabul so etwas wie eine Ordnung im Rahmen eines lokalen Rechtssystems etablieren. Mit der Trennung von Ordnung und Ortung definierte Schmitt im „Nomos der Erde“ den eigentlichen Wesenszug von Nihilismus. Frei von dieser nihilistischen Seite waren auch die Amerikaner nicht. Man denke nur an die geheimen Lager und rechtsfreien Zonen in der Region sowie in Guantanamo.

Bei aller Vorsicht angesichts der tatsächlichen Ambitionen der Taliban streben sie zumindest bisher kein weltumspannendes Machtsystem unter ihrer Führung an. Es wäre sogar denkbar, dass ironischerweise ausgerechnet die neuen Machthaber in Kabul am internationalen Kampf gegen den Terrorismus teilnehmen könnten. Wenn auch nur, um ihre lokale Macht abzusichern. Zumindest in dieser Hinsicht und aus dem Sicherheitsinteresse Europas heraus betrachtet, wäre dies ein Fortschritt und eine Eindämmung in der Produktion neuer Terroristen.

Ihre Ankündigung, ein „Emirat“ auf Grundlage einer souveränen Nation zu formen, steht zunächst für die Hoffnung, die eigene Irregularität zu verlassen. Sie wären nicht die ersten Kämpfer in der Weltgeschichte, denen die Verwandlung zu Politikern gelingt. Dabei werden sie die Geister, die sie riefen, nicht loslassen. Schon jetzt bilden sich am Hindukusch neue Partisanengruppen gegen ihre Macht. Da jeder Partisan meist mit Hilfe Dritter handelt, wird man hier genau hinsehen müssen, wer diesen Terror von Außen unterstützt.

Bald werden die Talibantruppen offizielle Uniformen anziehen müssen, um von anderen Partisanen unterscheidbar zu werden. Zweifellos werden sie nicht mehr im Schutz der Berge und der Dunkelheit operieren. Ihre Taten im Rahmen einer Regierungsverantwortung werden durch die Macht der sozialen Medien transparent sein. Ihre Souveränität wird eingeschränkt sein. Sie beherrschen nicht den Luftraum. Vermutlich bleiben sie auf den Zugang zu internationalen Finanzsystemen angewiesen, ohne den heute kein Staat zu herrschen vermag. Bisher verfügen die Afghanen nicht einmal über die Ressourcen ihrer Nationalbank, deren Geld in den Vereinigten Staaten lagert.

Man muss allerdings befürchten, dass durch den US-Abzug aus der Region sowie der Ankündigung, mit der Welt in Frieden leben zu wollen, ein Vakuum entsteht, das mit intensiven Freund-Feind-Definitionen in der afghanischen Innenpolitik besetzt wird. Bisher war die politische Dynamik alleine von Feindbildern geprägt. Bleibt dies so, wäre ein Bürgerkrieg keine Überraschung. Der Umgang mit Minderheiten, Frauen und ethnischen Gruppen wird eine Friedensfähigkeit beweisen. 

Der eigene Anspruch, eine „islamische“ Ordnung zu sein, wird ebenso auf dem Prüfstand stehen. Bisher hat kein religiös geprägter Staat der Welt diese Forderung im Feld von Ökonomie und Wirtschaftsrecht umgesetzt. Durchaus möglich, dass die Taliban – wie an anderen Stellen gesehen – alle ökonomischen und sozialen Einrichtungen moderner Staaten nur mit dem Adjektiv „islamisch“ ergänzen und ihre religiöse Seite sich ausschließlich in einem rigiden Kontroll- und Moralsystem über die eigene verarmte Bevölkerung zeigt. Sicher ist nur: Frieden wird sich nicht ohne Gerechtigkeit einstellen.

Vorab aus der neuen Ausgabe: Im Nahen Osten gärt eine explosive Mischung, mit religiösen und nihilistischen Elementen gleichermaßen. Von Abu Bakr Rieger

„Raj Sourani, Menschenrechtsanwalt und Gründer des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte bringt dabei den dunklen Kern des Anwurfes auf den Punkt: ‘Es ist eine Schande, dass Israel und die internationale Gemeinschaft dies geschehen lassen. Hier geht es ganz einfach um Kriegsverbrechen.’“

(iz). Es sind schockierende Bilder aus dem Gaza-Streifen. Getötete Kinder, leidende Zivilisten und zerbombte Stadtteile rufen nach Mitgefühl und dokumentieren insgesamt die verzweifelte Lage. Nach dem verheerenden Bürgerkrieg in Syrien und dem Aufstieg der ISIS-Brigaden im Irak rückt der ungelöste Jahrhundertkonflikt um das heilige Land wieder in den Fokus. Wie kaum eine andere Auseinandersetzung, löst gerade das Schicksal der Palästinenser weltweite Emotionen aus, in einem Landstrich, in dem sich nicht nur die großen Religionen berühren, sondern auch die Abgründe einer neuen Zeit unsere Zivilisation bedrohen.

Der „asymmetrische“ Krieg der hier abläuft und meist aus der Luft geführt wird, löst die alten Ideen von Recht, Humanität und Völkerrecht im Nichts auf. Der Krieg, bei Clausewitz noch ein Duell mit klaren Regeln, wird zur einseitigen Polizeiaktion, die auf der anderen Seite nur noch Verbrecher erkennt. Die daraus resultierenden juristischen Probleme sind nur schwer zu lösen. Was geschieht zum Beispiel, wenn die selbsternannte „Polizei“ Grenzen überschreitet, dabei brutal und ohne Rücksicht vorgeht?

Die „Verhältnismäßigkeit“ wird zu einem Grundsatz, nach dem im Kampf der ideologischen Kräfte nicht gerade zufällig immer öfter vergeblich gerufen wird. Die Möglichkeiten moderner Technik und der plötzlichen Bestrafung aus dem Himmel erlauben auf der Seite der Macht immer öfter Aktionen, „in denen nur noch der Feind stirbt“. Die philosophischen Implikationen dieser neuen Kampfformen hat Gregoire Chamayou in seiner „Theorie der Drohnen“ beschrieben. Das Zusammenspiel zwischen Big-Data, totaler Überwachung und fulminanter Feuerkraft erinnert an religiös angehauchte Allmachtsphantasien.

Im Nahen Osten unserer Zeit kommt zu den Verführungen überlegener Waffentechnik leider eine weitere Komponente hinzu: Freund und Feind einigt nach den jahrzehntelangen Erfahrungen von Tod und Zerstörung ein typisch moderner Vernichtungswille und der Drang den Raum ganz zu beherrschen, möglichst ohne die Präsenz lästiger Minderheiten. Damit endet die jahrhundertelange Kompetenz einer Weltregion, unterschiedliche Kulturen und Religionen in guter Nachbarschaft zu belassen.

Es gibt nicht wenige Denker, die das Geschehen unter dem Stichwort „Nihilismus“ einordnen und nicht etwa als einen Streit lebendiger Religionen begreifen. Ein Indiz für die These ist das fragwürdige Raumkonzept, dass der Konflikt offenbart. Was ist der Gaza Streifen überhaupt, ein Staat oder ein Gefängnis oder einfach nur ein Lager? Carl Schmitt definierte den Nihilismus als die Trennung von „Ordnung und Ortung“ und tatsächlich, der Gazastreifen ist so ein Ort ohne Ordnung. Hier gilt kein normales Recht, kein Besatzungs- oder Völkerrecht, schon gar kein islamisches Recht, hier herrscht dem Grunde nach der permanente Ausnahmezustand.

Heftig wird gestritten, ob denn der Gaza-Streifen besetztes Gebiet sei und ob das militärische Verhalten der israelischen Regierung demzufolge – neben allgemeingültig moralischen – auch konkreten rechtlichen Regeln zu folgen hat. Hierbei kommt es entscheidend darauf an, wie Lisa Hajjar auf der Infoseite „Jadaliyya“ klug aufzeigt, ob der Küstenstreifen noch immer besetztes Gebiet ist und demzufolge das Völkerrecht berücksichtigt werden muss. Die Anwendung, oder besser gesagt Nicht-Anwendung, internationalen Rechts würde dann auch andere Staaten oder übernationale Gerichte zwingen, Flagge zu zeigen. Fakt ist: Bisher schauen die meisten Staaten interessiert zu, wie Israel die „Souveräni­tät“ des Gaza-Streifens gestaltet, de facto untergräbt und gleichzeitig einen unbarmherzigen Wirtschafts- und Blockadekrieg zu Lasten der Bevölkerung führt. Auch das Naheliegende wird versäumt. Von der Öffnung der Grenzstation zu Ägypten in Rafah, die schon einmal, aus humanitären Erwägungen heraus, unter der Kontrolle der EU-Behörden stand – spricht in Brüssel keiner mehr.

Menschenrechtlerin Hajjar kritisiert in aller Schärfe die Logik der Israelischen Führung, die behauptet, der Gaza-Streifen sei nichtbesetztes und fremdes Gebiet. Tatsächlich, Israel sieht in dem eingeschlossenen Streifen Land eine dritte Rechtsform, die einzigartig, das heißt „sui generis““ sei. Nach dem Staatsrechtler Josef Isensee wird eine derartige, naturgemäß vage Terminologie angewendet, wenn die alten Begriffe versagen. Israelische Juristen argumentieren dann auch, dass Gaza eben ein „staatsartiges Gebilde“ sei, dass weder souverän, noch besetzt sei. Diese Logik der Rechtsanwendung dürfte in der Tradition der berühmten Aussage des ehemaligen juristischen Beraters der IDF Reisner stehen. „Wenn Du es lang genug tust, wird es die Welt akzeptieren. Völkerrecht entwickelt sich durch seine Verletzungen“, hatte der Jurist diverse Verletzungen der Genfer Konvention kommentiert.

Hajjar sieht in dem „Sui Generis-Unsinn“ nicht nur einen Theorienstreit, sondern nichts anderes als die Flucht aus jeder bestehenden Rechtsordnung und damit im Ergebnis eine Lizenz zum hemmungslosen Töten. Die offensichtliche Kollektivbestrafung der palästinensischen Bevölkerung, für die die israelische Regierung die Verantwortung trägt, steht nach dieser Ansicht klar im Widerspruch zur Genfer Konvention. Raj Sourani, Menschenrechtsanwalt und Gründer des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte bringt dabei den dunklen Kern des Anwurfes auf den Punkt: „Es ist eine Schande, dass Israel und die internationale Gemeinschaft dies geschehen lassen. Hier geht es ganz einfach um Kriegsverbrechen.“

Mit diesen Einschätzungen trifft sich der Eindruck der absoluten Rechtlosigkeit mit der Kritik an anderen, strategischen Taktiken der modern-rechtlosen Kriegsführung an sich, wie zum Beispiel dem „Drohnenkrieg“ und dem „Krieg gegen den Terror“. Die Krise des Rechts und der offensichtliche Mangel an Rechtsinstrumenten, die den Krieg hegen könnten, machen die typische Dunkelheit dieser neuen Konflikte entscheidend aus. Das Recht wird politisiert und – wenn überhaupt vorhanden – den Opfern der Zugang zu möglichen Rechtswegen verwehrt. Schon lange wird auch der Internationale Strafgerichtshof dafür gerügt, dass er nicht selbst von seinem Recht Gebrauch macht und – obwohl Israel die Römer Verträge nicht ratifiziert hat – bei derart klaren Kriegsverbrechen auch im Nahen Osten endlich zu ermitteln beginnt. Die inzwischen von einem französischen Anwalt, im Auftrag des ­palästinensischen Justizministers Salim al-Saka, eingereichte aktuelle Anzeige, könnte wieder einmal wirkungslos verpuffen.

Auch auf palästinensisch-muslimischer Seite herrscht manchmal, bei aller berechtigten Empörung, Verwirrung, den Konflikt zwischen religiösen, politischen und rechtlichen Kategorien klar einzuordnen. Natürlich ist auch für das islamische Recht ein „asymmetrischer Krieg“ oder die Idee des „Ausnahmezustandes“ im Grunde Neuland. Über Jahrhunderte waren selbstmörderische Aktionen ein Tabu, Terrorismus denkunmöglich und „große“ Kriege überhaupt nur unter ­bestimmten rechtlichen Bedingungen erlaubt. In einigen Köpfen der Gelehrten in der Region, hat sich inzwischen allerdings eine durchaus fragwürdige Konzeption eines „Ausnahmerechts“ durchgesetzt.

Viele, gerade auch junge Muslime in Europa, sehen heute die Palästinenser einfach nur im „Recht“ und glauben, dass im Guerilla-Krieg der Hamas auch jede Form der Notwehr akzeptabel sei. Das Schießen mit den bisher wenig effizienten Raketen auf die israelische Zivilbevölkerung ist für viele muslimische Beobachter eine lästige Marginalie und seit die „Mauer“ steht, sind auch die alten Selbstmordattentate vergessen. Nur wenige muslimische Stimmen ziehen so – einer der üblen Nebeneffekte der israelischen Kampagne – heute die militärische Taktik der Hamas überhaupt noch in Zweifel. Gründe, gegenüber einer Ideologie, die gegen einen übermächtigen Gegner „bis zum letzten Blutstropfen kämpfen will“, skeptisch zu bleiben gibt es natürlich. Kritik über den zuweilen taktischen Umgang mit dem Leiden der eigenen Zivilbevölkerung gehört hier unbedingt dazu. Mao’s berühmte Doktrin, der Partisane müsse, um erfolgreich zu sein, sich in der Zivilbevölkerung bewegen wie der Fisch im Wasser, lässt sich aber in den Verhältnissen rund um Gaza-Stadt schwer prüfen: Gibt es überhaupt noch eine Mög­lichkeit der Zivilbevölkerung, der Hamas offen zu widersprechen?

Wo liegt die Lösung in dem Konflikt? Ist es tatsächlich ein palästinensischer Kleinstaat, der wohl kaum Aussicht auf echte Souveränität hat, weder politisch noch ökonomisch, wenn auch vor dem Gaza-Streifen größere Gasvorkommen liegen sollen? Oder bleibt dem Palästinenser auf Dauer eben keine Aussicht auf Freiheit und so nur der Gang in die weitere Verrohung, das „nackte Leben“, wie Agamben den verbreiteten Staat- und rechtlosen Menschen der Neuzeit fasst? Kann es überhaupt einen neuen Nomos geben, solange nicht nur Israel, sondern auch Ägypten die Grenzen geschlossen hält?

Fest steht, die Zwei-Staaten-Lösung scheint mit jedem Tag in weite Ferne zu rücken, denn mehr als den Kampf mit der Hamas, dürfte Israel den drohenden Bürgerkrieg mit den eigenen Siedlern fürchten. Gerade der völkerrechtswidrige Ausbau der Siedlungen hat aufgezeigt, dass Israel sich selbst als ein Land „sui generis““ sieht, also als einzigartig und über jedem Recht stehend.

Ohne Gerechtigkeit und ein allgemein gültiges Maß bleibt aber jede akzeptable Friedensordnung eine Utopie. Bange muss man sich auch die Frage stellen, wie es in einem einzigen jüdischen Staat um die Minderheitenrechte steht und die biopolitische Herausforderung der dort lebenden Araber und Muslime gelöst wird. Fakt ist, die vielbesungene politische Lösung in einem militärischen Konflikt, der für keine der beiden Seiten erfolgreich enden kann, steht noch in den Sternen.

Kommentar: Schielen deutsche Politiker auf die Schweiz und das jüngste Minarettverbot? Von Sulaiman Wilms

(iz). Zum Verbot zukünftiger Bau von Minaretten in der offenkundig klastrophoben Schweiz muss eigentlich nicht mehr viel gesagt werden. Es bleibt zu hoffen, dass sie die Expertenmeinung bewahrheiten wird, wonach […]

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