Das Übel des Takfirs oder die Gefahr der Ignoranz

(iz). Vor wenigen Monate wurde die Studie eines US-amerikanischen Sicherheitsinstituts [Deadly Vanguards: A Study of al-Qa’ida’s Violence Against Muslims, CTC Publications] veröffentlicht, in der statistisch nachgewiesen wurde, dass die allermeisten Opfer des Terrors seitens extremistischer muslimischer Gruppierungen vor allem Muslime selbst sind.

Aber auch in Deutschland ist diese gefährliche Unsitte leider verbreitet. So erreichen unsere Redaktion manchmal aus diversen Emailverteilern namenlose Emails, die zum Takfir (die Erklärung, dass andere Muslime wegen angeblich falscher Absichten den Islam verlassen hätten) auffordern. Auch wenn solche Fehlgeleiteten keine Grundlage haben, auf der sie argumentieren könnten, verwirren sie gerade unter jüngeren Muslimen die schwächeren Gemüter.

Heutzutage haben einige Unarten um sich gegriffen, die dem Islam schaden können – zur Freude seiner Gegner. Dazu zählt die Behauptung, bestimme Muslime – die nicht die Positionen der entsprechenden Personen teilen – hätten ihren Glauben aufgegeben. Es gibt Aussagen unseres Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, über die Prüfungen unserer Zeit und ihrer Unordnung (arab. Fitna). Wir finden im Sahih von Imam Muslim und anderen Hadith-Meistern prophetische Aussagen, die vom Blutvergießen unter Muslimen in unserer Zeit sprechen.

Zu Beginn muss darauf hingewiesen werden, dass die Praxis des Takfir aus dem letzten Jahrhundert stammt und wir eine Zunahme beobachten. Diese Denunziation ist zu einem Werkzeug der Unwissenden geworden, Missbrauch und Ermordung von Muslimen zu rechtfertigen.

Im größten Teil der muslimischen Geschichte gibt es nur sehr wenige ernsthafte Fälle von Spaltungen. Wir haben unsere ‘Aqida (Glaubenslehre), das islamische Recht (Fiqh oder Schari’a) und Ihsan (Tariqa, Tasawwuf oder Reinigung des Selbst). Die führenden Rechtsgelehrten hegten Zuneigung für einander. Das gleiche galt für die Imame der ‘Aqida und anderer islamischer Wissenschaften. Sie waren eine große Familie, die sich gegenseitig Respekt zollte.

Diejenigen, die Takfir in der muslimischen Welt einführten, haben sich zwischen die Offenbarung und Muslime gestellt. Sie haben die Leute von den Gelehrten getrennt. Jene beschützten die Religion, indem sie sich an den ersten Generationen des Islam ausrichteten. Die Gelehrten vermieden die Beschuldigung eines Muslims, er oder sie hätte den Glauben verlassen. Wir erfahren aus einem Hadith unseres geliebten Propheten, dass wir jene Dinge meiden sollten, die das Leben oder die Gesundheit eines Muslims schädigen könnten.

In seiner “Tabaqat” schrieb Imam Asch-Scha’rani: “Einmal wurde Schaikh Al-Islam Taqi Ad-Din As-Subki gefragt, ob es notwendig sei, jene zu Nichtmuslimen zu erklären, die [schädliche] Neuerungen in den Islam einbringen und einige Verse des Qur’ans falsch auslegen? Er entgegnete: ‘Ich solltet wissen, dass es für jene, die Allah fürchten, sehr schwierig ist, jemanden des Unglaubens zu beschuldigen, der sagt, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Muhammad Sein Gesandter ist.'”

Einen Muslim des Unglaubens zu beschuldigen ist eines sehr gefährliche Sache. Die würde bedeuten, dass man ihm sagt: “Du wirst für immer in der Hölle bleiben.” Tausende nicht des Unglaubens zu beschuldigen und sich darin zu irren, ist besser als im Falle eines einzigen Muslims einen Fehler zu begehen, indem man diesen irrtümlich angreift. Es gibt das folgende Hadith: “Ich ziehe es vor, wenn ein Imam eine Person fälschlicherweise entschuldigt, als wenn er diese fälschlicherweise beschuldigt.”

Imam As-Subki führte dazu weiterhin aus: “Die Regeln des Takfir sind eine sehr komplexe Angelegenheit – mit wenig Klarheit und vielen Zweifeln behaftet. Es gibt dafür viele Richtlinien und Bedingungen. Zuerst einmal ist eine gute Beherrschung des Arabischen, all seiner Dialekte und Ausdrücke in ihrem wörtlichen und übertragenen Sinne nötig. Man muss alle Feinheiten der Wissenschaft des Tauhids und ihrer komplizierten Punkte kennen. Darüber hinaus muss man auch in vielen anderen Wissenschaften zu Hause sein. Dies ist für die meisten Gelehrten unserer Zeit kaum zu leisten, von einfachen Leuten ganz zu schweigen. Wie können diejenigen, die nicht in der Lage sind, ihre Zunge vor jenen Worten zu hüten, die ihren eigenen Glauben schaden, die Religion anderer vor schädlichen Worten beschützen? Uns bleibt nichts anderes übrig, als das Urteil in Sachen Takfir für jenen zu reservieren, welche die beiden Elemente des Glaubensbekenntnisses leugnen; und als Ergebnis den Islam verlassen haben. Jedoch ist dies nur ein seltener Fall.”

Imam As-Subkis Worten legen den Schluss nahe, dass nur die vollkommen Unwissenden und solche, die Allah nicht fürchten, leichthin Muslime zu Ungläubigen erklären. Wenn Takfir zu einer leichten Sache wird, führt dies zu Unruhe, Gewalt, Chaos und üblen Dingen. Dann gibt es keinen Platz mehr für den Islam. Dies ist genau das, was unser geliebter Prophet sagte, als er die Zeit kurz von dem Jüngsten Gericht beschrieb.

Es gibt ein Hadith des Propheten: “Wenn sich zwei Muslime mit ihren Schwertern bekämpfen, gehen sowohl der Mörder als der Ermordete in das Höllenfeuer.” Da wurde der Gesandte Allahs gefragt: “O Gesandter Allahs, warum muss der Getötete ins Feuer eintreten?” Der Prophet entgegnete: “Wäre er nicht getötet worden, dann wäre er der Mörder geworden, denn er hatte eine Tötungsabsicht.”

Gelegentlich kommen einige und rufen Ärger hervor. Diese Leute kennen nichts vom Islam außer wenigen Überlieferungen; als würde das heilige Gesetz nur auf drei oder vier Überlieferungen beruhen! Sie ignorieren die anderen qur’anischen Verse und Überlieferungen, die von den Imamen übermittelt wurden sowie ihre Erläuterungen jener Verse und Überlieferungen. Was geschieht, wenn Leute ihre Religion auf wenigen prophetischen Aussagen – die sie selbst auslegen – aufbauen?

Wir sollten uns daran erinnern, wer in der Geschichte Muslime getötet hatte. Wer tötete den zweiten, rechtgeleiteten Khalifen ‘Uthman? Und als was bezeichneten sie sich: Muslime oder Nichtmuslime? Sie behaupteten, sie seien Muslime auf der Suche nach einem guten Herrscher. Jedoch vergaßen sie, dass ‘Uthmans zweiter Name “Dhu’l-Nurain” war – der Besitzer der beiden Lichter. Der Prophet gab ihm zwei seiner Töchter als Ehefrauen. Erinnerte sich keiner seiner Angreifer, dass ‘Uthman ibn ‘Affan zu jenen Prophetengefährten gehörte, denen der Garten versprochen war? Ihr Hass auf die Wahrheit machte sie blind, führte zu Blutvergießen und schließlich zur Ermordung von ‘Uthman, der sein Leben gab, obwohl er sie hätte zu jedem Zeitpunkt ausschalten können. Ihm standen umfangreiche Mittel zur Verfügung, aber er fürchtete sich davor, das Blut der Gläubigen zu vergießen. Hätte er es den Muslimen befohlen, wären ganze Armeen zu ihm geströmt, aber er lehnte das Vergießen vom Blut der Muslime ab.

Wir wissen von den Büchern der islamischen Geschichte, dass es immer durch Leute mit einem schwachen Iman, einem falschen Verständnis ihrer Religion und einem beschränkten Verstand zu Problemen kam. Ibn Battal erläuterte in einem Kommentar auf ein Hadith aus dem Sahih Al-Bukhari, in dem der Prophet sagte: “Sollten ihr auf dem Weg zum Markt oder zur Moschee einen Pfeil mit euch führen, so haltet ihn an der Pfeilspitze fest.” Der Sinn dessen sei laut Ibn Battal, dass kein Mensch unbeabsichtigt dabei zu Schaden komme. Was würde der Prophet wohl zur heutigen Lage sagen?

Schaikh ‘Alawi Al-Maliki schrieb in seinem Buch “At-Tahzin min Mudschazat bi’l-Takfir”, dass die großen Gelehrten der Praxis des Takfir immer aus dem Weg gingen. Die Menschen brauchen Erziehung. Ziehen wir wirklich Nutzen aus der Fitna [wörtl. “Versuchung”, Unruhe oder Bürgerkrieg im übertragenen Sinne]? Wir sollten die Leute unterweisen, wie sie beten und fasten. Wir sollten sie lehren, den Propheten, seine Gefährten, die Imame und die Rechtschaffenen zu lieben. Stattdessen lernen die Jüngeren, wie man eine Fitna anfängt. Wäre es nicht besser für jene, die dem Islam helfen wollen, die Menschen darin zu unterweisen, die Schahada [das doppelte Glaubensbekenntnis] auszusprechen, zu beten und richtig zu fasten?

Ein Kommentar zu den aktuellen „Verteilaktionen“ in deutschen Fußgängerzonen. Von Cemil Sahinöz

(iz). Zunächst sei einmal gesagt, dass niemand bei gesundem Verstand gegen das Verteilen von Übertragungen der Bedeutungen des Qur'ans ist [nach islamischer Sicht lässt sich der Qur’an so nicht „übersetzen“; Anm. d. Red.]. Kaum einer wird dies negativ einstufen oder als sinnlos sehen. Auch wir Muslime bekommen ständig Bibeln in die Hand gedrückt. Das ist völlig legitim – und vor allem legal.

Warum aber Muslime selbst gerade diese Verteilung anzweifeln, hat einen anderen Hintergrund. Es liegt nicht am Qur’an oder an seiner Verteilung. Die Salafiten können nicht mit dem Argument kommen, Muslime wären gegen die Verteilung von Allahs Offenbarung. Dies ist schlicht und einfach falsch. Schon jetzt werden Muslime, die sich dagegen aussprechen, in salafistischen Kreisen als Feinde oder sogar als „so genannte Muslime“ apostrophiert.

Muslime – allen voran die Dachverbände – sind aus anderen Gründen gegen diese Verteilung. Schauen wir uns dazu einfach mal den Effekt dieser Verteilungen an: Die Verteilenden behaupten, dass sich dadurch die Meinung zum Islam verbessern würde. Demnach würden die Menschen den Qur'an lesen und so ein anderes Bild vom Islam bekommen.

Mal Hand auf Herz, liebe „Salafiten“? Ist das wirklich so? Ist nicht durch diese Aktion genau das Gegenteil bewirkt worden? Hat man so die Herzen der Menschen gewonnen?

Der Prophet Muhammed hat immer kontext-gebunden gehandelt. Er hat die Psychologie der Menschen gut verstanden und dementsprechend Liebe in den Herzen der Menschen erzeugt? Leider ist durch diese Aktion genau das Gegenteil entstanden. Nur noch mehr Hass, noch mehr Provokation und noch mehr undifferenzierte Polemiken.

Das Ganze hat einen psychologischen Effekt, der bisher ganz außer Acht gelassen wurde: Im unseren Unterbewusstsein werden nun die Begriffe „Salafismus“ und „Koranverteilung“ miteinander verknüpft. Jedes Mal, wenn nun ein Qur’an verschenkt wird, wird man an Salafiten denken. Das ist sehr schädlich. Das Thema des Schenkens von Qur’anübertragungen wird damit sicherlich für viele Moscheevereine nicht mehr in Frage kommen. Und das ist der eigentliche Knackpunkt dieses Theaters. Der Weg für die Verteilung von Qur’anübertragungen wird hier ganz verschlossen.

Dass, was die Betreiber der Aktion also erreichen wollen, erreichen sie aber nicht. Sie bewirken genau das Gegenteil. Warum tun sie es aber trotzdem?

Der Salafist hinter dem Stand wird sich dafür nicht wirklich interessieren. Dieser würde sagen, er mache es „für Allah“ – was immer er auch damit meint. Schauen wir daher nicht auf die Theaterbühne und auf die Inszenierung, sondern dahinter. Fragen wir uns einfach einmal, wem das Ganze nützt?

Nichtmuslimen? Wohl kaum. Wie bereits oben beschrieben, hat es hier genau den Gegeneffekt erzeugt.

Muslimen? Sicherlich nicht. Da der Islam und die Muslime allgemein wieder im Visier stehen, muss sich jeder Muslim rechtfertigen. Es folgen wieder viele undifferenzierte Meinungen und Berichterstattungen zum Islam.

Den Salafiten? Richtig. Die Salafiten sind die einzigen, die davon profitieren. Maximal 5.000 gibt es in Deutschland. Im Gegenzug gibt es ca. 4,5 Millionen Muslime. Dass heißt, 0,11 Prozent der deutschen Muslime haben einen Nutzen davon. Die restlichen 99,89 Prozent müssen es ausbaden.

Es scheint also alles eine PR-Strategie zu sein. So, wie wir es schon in der Vergangenheit von diesen Gruppierungen kennen. Das Schlimme dieses Mal ist jedoch, dass dafür der Qur’an missbraucht wird. Ob sich dessen wirklich alle Salafiten bewusst sind?

Der Hype um die „Salafiten"

(iz). Wir Muslime lieben nicht nur unseren Propheten, sondern auch die ersten Generationen der Muslime und ihre Gemeinschaft in Medina. Ohne genaue Kenntnisse des Ursprungs des Islam wüssten wir weder, was „der ‘Amal von Medina“ ist, noch könnten wir den geraden Weg bestimmen, der sich auch aus der Abneigung des Islam gegenüber den Extremen ergibt.
Ohne die Liebe zum Ursprung wüssten wir nicht, das der Prophet Moschee und Markt etablierte und damit die geistigen und materiellen Bezüge vereinte. Ganz zu schweigen hätten wir keine Kenntnis von der entscheidenden Rolle der Frauen, die den Propheten mit zu dem gemacht hat, was er war: ein Vorbild.
Die aktuelle Hype um die Salafiten hat eine andere Bedeutung. Es geht dabei nicht wirklich darum, auf die Ursprünge des Islam hinzuweisen und ihre wirkliche Bedeutung im hier und jetzt zu bestimmen. In diesem Fall müssten wir ja in erster Linie die ökonomische Regeln des Islam debattieren, die Mu‘amalat studieren und die Beachtung der Regeln der Zakat anmahnen. Dies wäre eine konstruktive und interessante Debatte für Jedermann. Aber wie gesagt, darum geht es nicht.
Hier geht es vielmehr um eine destruktive Dialektik zwischen den Extremen, die einige Handvoll Außenseiter zwischen den Randbereichen des Puritanismus und der Esoterik gestalten. Der Islam wird dabei entweder als kulturell fremdartig und orthodox präsentiert, oder aber als individualistisch und beliebig. Diese Debatte geht zu Lasten der großen Mehrheit der Muslime, die sich in den Rechtsschulen gut aufgehoben sehen und aus dieser Verortung heraus den ‘Amal der ersten Generationen studieren. Diese Mehrheit präsentiert den Islam, so wie er ist: offen, positiv und attraktiv.
Nicht unschuldig an der Lage sind auch Medien, die eine besonnene Auseinandersetzung mit dem Islam durch die Beförderung der Extreme besorgen. Wer den Islam wirklich kennenlernen will, sollte sich inmitten etablierter Gemeinschaften bewegen. Er sollte eine Dschama’at suchen, die nicht kulturelle Abgrenzung betreibt, sondern die Maximen des Islam vorlebt. Die Stärkung der Extreme ist auch der Diffamierung vieler muslimischer Gemeinden geschuldet. Sie sind die eigentliche Mitte des Islam, die dann verloren geht, wenn das islamische Recht nicht mehr gelehrt wird.

Dieses Mal: Schaikh Muhammad Al-Munajid

Lieber Schaikh Muhammad Al-Munajid, normalerweise sollten wir über Ihren Fall lachen und dann zu weitaus erfreulicheren ­Dingen übergehen. Leider geht das nicht, da Sie wie manche Ihrer Kollegen (so die […]

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