Der Journalist Eren Güvercin über die aktuelle Lage in der Türkei

(iz). Ob die türkische Regierung für den konkreten Unfall in Soma verantwortlich ist, wird sich erweisen müssen. Die Staatsanwaltschaft hat die Untersuchungen aufgenommen und Energieminister Taner Yildiz hat zumindest angekündigt, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen würden, egal wer es sein wird. Nichtsdestotrotz stellt diese menschliche Tragödie eine Steilvorlage für Regierungskritiker im In- und Ausland dar, die – auch durch entstellte Zitate – dankbar aufgegriffen wurde. Hierzu sprachen wir mit dem Journalisten Eren Güvercin.

Islamische Zeitung: Lieber Eren Güvercin, was ist eigentlich in dem türkischen Bergwerk passiert und inwiefern hat sich die Regierung erneut zur Zielscheibe von Kritik und Protesten gemacht?

Eren Güvercin: Was wirklich im Bergwerk Soma passiert ist, weiß momentan niemand. Man kann es auch noch nicht wissen, da die Rettungskräfte mit der Bergung der verbliebenen Arbeiter beschäftigt sind. Ob es ein Versagen der Betreiberfirma gab, ob die Arbeitsschutzmaßnahmen ausreichend waren, werden die Untersuchungen zeigen.

Es ist aber erschreckend, dass politische Gruppen – nämlich das alte kemalistische Establishment und vermeintlich linke Gruppierungen – die Gunst der Stunde snutzen, um einen erneuten Angriff gegen die Regierung zu starten. Nicht etwa durch berechtigte kritische Fragen hinsichtlich des Betreibers, sondern durch gezielte Kampagnen.

Am ersten Tag des Unglücks wurden etwa Falschinformationen massiv über Twitter verbreitet, wonach minderjährige Kinder in der Mine arbeiteten. Kurzer Zeit später wurde aufgedeckt, dass es nicht der Wahrheit entspricht. Immer noch wird über soziale Medien gestreut, dass es eigentlich weit über 800 Tote gäbe, die versteckt würden, als ob diese keine Verwandten und Familien hätten.

Das sind gezielte Aktionen, um die Menschen auf die Straße zu locken, wo gewaltbereite linke Gruppierungen mit Molotov-Cocktails bereits seit zwei Tagen versuchen Chaos zu verbreiten. Davon liest man in der deutschen Presse nicht, weil es nicht ins vorgefertigte Bild passt.

Islamischen Zeitung: Haben Regierung oder AKP das Unglück direkt oder mittelbar zu verantworten?

Eren Güvercin: Ob die Regierung für diesen konkreten Fall in Soma verantwortlich ist, wird sich noch erweisen müssen. Die Staatsanwaltschaft hat die Untersuchungen aufgenommen und Energieminister Taner Yildiz hat zumindest angekündigt, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen würden, egal wer es sein wird.

Unabhängig davon muss man aber generell die Lage der Arbeiter in der Türkei kritisch betrachten. Der enorme Wirtschaftswachstum der letzten Jahre in der Türkei fußt auf einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Sicherlich gab es punktuelle Verbesserungen im Gesundheitswesen und bei der Hilfe der Bedürftigen. Nur darf das – auch AKP-Anhänger – nicht darüber hinweg täuschen, dass die Wirtschaftspolitik die Reichen immer reicher macht und die Armen immer ärmer.

Das Bergwerk in Soma etwa war ursprünglich ein staatliches Unternehmen. Es wurde vor einigen Jahren privatisiert, und die Betreiberfirma hat die Kosten extrem gesenkt und produziert gleichzeitig viel mehr Kohle. Dass das auf die Kosten der Arbeiter geht, und unter Umständen auch auf Kosten der Sicherheit, ist naheliegend. Die AKP muss trotz der guten Zahlen ihre Wirtschaftspolitik radikal hinterfragen, was auch von der eigenen Parteibasis kommen muss.

Islamische Zeitung: Erneut ist Erdogan durch das Unglück in die Schlagzeilen geraten. Gerade betitelte ihn ein deutsches Medium als „entkoppelten Volkstribun“. Woher kommt die Diskrepanz zwischen dieser Kritik und dem weiterhin bestehenden Vertrauen seiner Wähler?

Eren Güvercin: Die deutschen Medien heucheln Interesse an der Arbeitssicherheit. Würde es ihnen um die Arbeiter gehen, würden sie die Angelegenheit nicht politisieren und das ganze mit der Person Erdogan verknüpfen. Zumal die Ursachen gar nicht feststehen.

Und es ist bezeichnend, dass es nun plötzlich auch Experten für das Bergbauwesen in der Türkei in deutschen Medien gibt. Man berichtet über Unmutsbekundungen gegen Erdogan, als er das Bergwerk besuchte. Aber dass der Oppositionsführer ausgepfiffen wurde, oder ein seht bekannter Fernsehmoderator, der besonders Erdogankritisch ist, regelrecht davongejagt wurde, kommt in der deutschen Berichterstattung nicht vor.

Islamische Zeitung: Hat der Ministerpräsident im Ausland – insbesondere in Deutschland – mehrheitlich eine schlechte Presse? Wie bewertest Du die momentane deutsche Türkeiberichterstattung – vielleicht auch in Relation zur Ukraine-Krise?

Eren Güvercin: Man kann auf jeden Fall von einer schlechten Presse sprechen. Das wäre auch kein Problem, wenn man zumindest versuchen würde, einigermaßen ausgewogen über Hintergründe zu berichten und auch andere Meinungen zuließe. Stattdessen dominiert bei SPIEGEL, taz und anderen Medien eine bestimmte negative Sicht. Man wundert sich, wenn man in sozialen Netzwerken zu lesen ist, wie ein
Türkeikorrespondent schreibt, dass die Betreiberfirma allen Mitarbeitern und Rettungskräften einen Maulkorb erteilt habe. Währenddessen sieht man im türkischen Fernsehen seit zwei Tagen massenweise Gespräche mit geretteten Kumpeln und Rettungskräften. Das kann vielleicht daher kommen, dass der Türkeikorrespondent des SPIEGELS kein Türkisch kann. Zumindest gehe ich gutgläubig davon aus.

Aber es gibt auch andere Beispiele wie Deniz Yücel von der taz, der als ideologisierter Linker bewusst auf Twitter Gerüchte aufnimmt und diese in seine Berichterstattung einfließen lässt, ohne diese Dinge gegenzuprüfen. Das ist dann keine mangelnde Sprachkenntnis sondern Meinungsmache. Aber es passt zum Blatt: Man sitzt Latte Machiatto schlürfend in Berlin und spielt etwas Revolution; auf den Rücken anderer Menschen. Das ist Gesinnungsjournalismus pur, und jeder, der das auch nur ansatzweise kritisiert, wird als AKP-Anhänger markiert; so als ob es keine differenzierte Meinung geben könne. Es dominiert das Freund-Feind-Denken.