Thema Beschneidung: Kölner Urteil: Angeblich geht es um das Eindämmen religiös motivierter Gewalt gegen Kinder. Von Dr. Cefli Ademi

Ausgabe 206

(islam.de). Vielen haben das Thema schon satt, obwohl das umstrittene Beschneidungsurteil des Kölner Landgerichts vom 7.5.2012 erst jüngst veröffentlicht wurde. Erstaunt nahm ich zur Kenntnis, dass der Strafkammer sieben Seiten ausreichten, um ein historisch beispielloses Urteil mit unvorhersehbaren und vielleicht verheerenden Folgen zu begründen. Die Knabenbeschneidung wird das Urteil nicht verhindern können, auch und vor allem in der Bundesrepublik nicht. Ein Blick in die kurze Urteilsbegründung wirkte ernüchternd: Richterliche Genialität, ein Urteil gleichsam wasserdicht und knapp zu begründen, konnte hier ausgeschlossen werden. Knapp ja, wasserdicht keineswegs.

Kulturalisierung des ­deutschen Strafrechts
Gleich zu Beginn bahnen sich darin sogar anbiedernd kulturalistische Risse an. Denn scheinbar anders als der Staatsanwaltschaft war es der zuständigen Strafkammer besonders wichtig zu ergänzen und festzustellen, dass die Familie des Kindes dem islamischen Glauben angehöre und die Beschneidung aus religiösen Motiven erfolgt sei. Eine derart reduktionistische Sicht fördert die als Folgeproblem der religiösen Pluralisierung vermehrt zu beobachtende Kulturalisierung des Strafrechts, in der mit dem Strafrecht die eine oder andere Kulturkampfdebatte ausgetragen wird.

Anstoß der Diskussion
Die strafrechtliche Beschneidungsdiskussion mit angestoßen hat Juraprofessor Holm Putzke, auf dessen Rechtsansicht zur strafrechtlichen Bewertung der Knabenbeschneidung die Strafkammer in ihrer Entscheidung unter anderem verweist. Putzke kommentierte das Urteil mit den Worten: „Es wird, nachdem die reflexhafte Empörung abgeklungen ist, hoffentlich eine Diskussion darüber in Gang setzen, wie viel religiös motivierte Gewalt gegen Kinder eine Gesellschaft zu tolerieren bereit ist.“

Wer in einer Gesellschaft, in der glaubensgeprägte Lebensbereiche zurücktreten, religiös motivierte Gewalt und Kinder ohne Weiteres in einem Atemzug nennt, spricht in erster Linie Emotionen und nicht die Ratio an. Welche säkularisierte Gesellschaft kann – vor allem religiös motivierte – Gewalt gegen Kinder tolerieren? Bewusst wird ausgeblendet, dass (und zwar auch aus religiöser Sicht) lediglich die Lege artis (latein. nach den Regeln der Kunst) durchgeführte Knabenbeschneidung zur Debatte steht und diese nicht bloß religiös motiviert sein muss, sondern aus multiplen Motiven gerade vermehrt auch von Nichtmuslimen und Nichtjuden praktiziert wird.

Im Einzelnen
Auch das Urteil scheint von dieser religionskritischen Grundhaltung beseelt zu sein. Der fachgerecht handelnde Arzt wurde für die Beschneidung im konkreten Fall zwar freigesprochen, weil er einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterlag und damit schuldlos agierte (§ 17 Satz 1 Strafgesetzbuch). Die Tat sei jedoch nicht durch die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt, zumal ihr Sorgerecht gemäß § 1627 Satz 1 BGB lediglich Erziehungsmaßnahmen decke, die dem Wohl des Kindes dienten, wozu die Beschneidung gerade nicht gehöre.

Insoweit verweist die Strafkammer lediglich auf die – wie sie betont – „wohl herrschende Auffassung in der ­Literatur“. Die Anlehnung an die vermeintlich herrschende Auffassung wirkt dabei so, als sei eine umfassende Begründung dafür, warum die Beschneidung dem Kindeswohl nicht entspreche und wie weit dabei der sorgerechtliche Ermessensspielraum der Eltern reiche, obsolet. Denn nach ihrer Ansicht folge ihr Urteil ­dabei möglicherweise bereits aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 WRV, wonach die staatsbürgerlichen Rechte durch die Ausübung der Religionsfreiheit nicht beschränkt werden. Damit wird dem Leser zugleich die „richtige Brille“ aufgesetzt, durch die man die genannten Artikel verstehen sollte, und zwar so, dass die – hier muslimische – Religionsausübung in (etwaigen) Kollisionsfällen im Zweifel stets das Nachsehen hat.

Diese reduktionistisch-religionskritische Stoßrichtung behält die Strafkammer in ihren weiteren Ausführungen bei, wenn sie ausführt, dass jedenfalls Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG selbst den Grundrechten der Eltern eine verfassungsimmanente Grenze ziehe. Vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrund­satzes sei die in der Beschneidung zur religiösen Erziehung liegende Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Jungen jedenfalls unangemessen. Dies folge bereits aus der Wertung des § 1631 Abs. 2 Satz 1 BGB. Der vorgenannte Argumentationsstrang ist insgesamt unschlüssig. Denn: Mit Blick auf § 1631 Abs. 2 BGB hat die Strafkammer eine eigensinnige Wertung vorgenommen, die sich in der von ihr gewünschten Allgemeingültigkeit nicht abstrahieren lässt. Satz 1 der besag­ten Norm bestimmt nämlich, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Satz 2 konkretisiert, dass körper­liche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnah­men unzulässig sind. Fachgerecht durchgeführte, über Jahrtausende tradierte und allseits bekannte Beschneidungen hatte der Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) bei der Normierung des § 1631 Abs. 2 BGB – anders als die Strafkammer suggeriert – sicher nicht gemeint. Die Jungenbeschneidung implizit als unzulässige körperliche Bestrafung, seelische Verletzung oder eine entwürdi­gende Maßnahme zu werten, ist nicht nur in der bundesdeutschen Judikative historisch ohne Beispiel. Die Ausführungen konsequent zu Ende gedacht, würde bedeuten anzunehmen, dass alle körperlich-irreversiblen Eingriffe an Kinder – mit Ausnahme der medizinisch indizierten – rechtswidrig sind. Eine Differen­zierung etwa hinsichtlich der Intensität des körperlich-irreversiblen Eingriffs wird versäumt. Zudem stuft das Gericht körperlich-irreparable, aber fachgerechte Maßnahmen, implizit und unbegründet als schwerwiegendere Beeinträchtigung ein, als geistige, ebenso dauerhafte und irreparable Eingriffe mit ­möglicherweise viel verheerenderen Folgen für das Kind und die Gesellschaft.

Schlicht falsch ist die Erwägung der Strafkammer, dass diese körperliche Veränderung dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwiderlaufe. Trotz der fehlenden Vorhaut bleibt es nämlich jedem unbenommen, die Religion zu wechseln. Letztendlich argumentiert die Strafkammer, dass umgekehrt das Erziehungsrecht der Eltern nicht unzumutbar beeinträchtigt werde, wenn sie gehalten seien abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig sei, selbst für die Beschneidung als sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zum ­Islam entscheide.Die Frage der Zumutbarkeit der Beeinträchtigung des Elternrechts entschei­det sich an der Frage, ob die Knabenbeschneidung dem Kindeswohl dient (darin erfährt auch das Recht des Kindes auf Körperliche Unversehrtheit eine Konkretisierung), vor der sich die Strafkammer unter Verweis auf die vermeintlich „herrschende Auffassung in der Literatur“, dass es eben nicht so sei, augenscheinlich gedrückt hat. Dieser Umstand gemeinsam mit dem gerichtlichen Verweis auf die Feststellung des Sachverständigen, wonach jedenfalls in Mitteleuropa keine Notwendigkeit bestehe, Beschneidungen vorbeugend zur Gesundheitsvorsorge vorzunehmen, offenbart, dass die Strafkammer Beschneidungen ausschließlich im Falle ihrer medizinischen Indikation als dem Kindeswohl dienlich annimmt. Damit die stellvertretende Einwilligung der Sorgeberechtigten über medizinisch zwingend indizierte Eingriffe hinaus noch selbständige Bedeutung ­haben kann – wie es verfassungsrechtlich vorgesehen ist -, darf die positive Feststellung, was in der konkreten Situation objektiv im besten Interesse des Kindes ist, gerade nicht dem Gericht obliegen. Ansonsten kämen wir einer staatlichen Bevormundung nahe, die wir meinten überwunden zu haben. Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund bleibt dem Gericht lediglich die negative Feststellung, ob die Dispositionsbefugnis der Sorgeberechtigten nicht objektiv-evident missbraucht wird. Weil die fachgerechte Beschneidung ungefährlich ist, Folge­schäden äußerst selten sind und sie aus präventiv-medizinischen Gründen gar empfohlen wird, ist ein objektiv-eviden­ter Missbrauch der Dispositionsbefugnis als strafrechtliche Grenze der stellver­tretenden Einwilligung nicht ersichtlich.

„Kirche im Dorf lassen“
Nach diesem bemerkenswert oberflächlich begründeten Urteil mit ausschließlich religionskritischen – wenn nicht religionsfeindlichen – Tendenzen erschließt sich mir, warum die meisten Stellungnahmen dazu religionsperspektivisch ausgefallen sind. In dieser Form wirken diese aber kontraproduktiv, zumal man sich dadurch bewusst oder unbewusst an einer strafrechtlich verkleideten Kulturkampfdebatte beteiligt, die man aber gerade verhindern will. Vielmehr sollte die Kirche im Dorf gelassen und das strafrechtliche Beschneidungsurteil nüchtern auf den juristischen Prüfstand gestellt werden. Das Urteil entblößt sich als das, was es ist: Ein (leider rechtskräftiges) Fehlurteil.

Die körperliche Unversehrtheit des Kindes, die bei der Beschneidung beeinträchtigt wird, wiegt ohne Zweifel schwer. Dem Anspruch auf eine differenziert-sachgerechte Abwägung, die ein Schöpfen aus dem „Vollen“ voraussetzt, sowie auf Rechtssicherheit ist die Strafkammer mit dieser Entscheidung nicht gerecht geworden. Abgesehen von der kulturalistischen Überfrachtung dieser Strafrechtsproblematik wirkt das Urteil schlicht bevormundend, insoweit die Kammer ohne stichhaltige Argumente bestimmt, dass (medizinisch nicht zwingende) Beschneidungen per se nicht dem Wohl des Kindes dienten.

Wenn schon dieses Problem in der Frage der Reichweite der Religions(ausü­bungs)freiheit der Sorgeberech­tigten erschöpft wird, dann sollte letzteres aber zumindest gebührlich gewich­tet werden. Insoweit soll mit Blick auf den Gesetzge­ber noch einmal daran erinnert werden, dass nach Rechtsansicht der oben genannten Strafkammer, die zwar für andere Gerichte nicht bindend ist, jedoch Nachahmer finden könnte, kein neugeborenes Kind in der Bundesrepublik Jude im jüdisch-rechtlichen Sinne werden darf- Schließlich ist diese Beschneidung im jüdisch-rechtlichen Verständnis konstitutiv für die jüdische Zugehörigkeit. In orthopraktischer und damit entscheidender Hinsicht gilt Vergleichbares für Muslime: Wenn schon nicht islamrechtlich so aber jedenfalls „muslimfaktisch“ wird die Knabenbeschneidung ebenso identitätsstiftend gewertet.

Dr. Cefli Ademi hat Rechtswissenschaften studiert und wurde an der Bucerius Law School im Verfassungs- und Strafprozessrecht promoviert. Er ist Volljurist sowie Lehrbeauftragter zur „Einführung in die islamische Jurisprudenz“. Der folgende Text ist die gekürzte Version eines Artikels, der erstmals am 4. Juli auf der Webseite islam.de veröffentlicht wurde. Der Abdruck geschieht mit Erlaubnis des ­Autoren.