Thema Salafismus: Wie wird die Jugend gefährdet?

Ausgabe 235

(iz). Das Original übt auf den Menschen eine große Anziehung aus. Insbesondere in der heutigen Zeit sehnen sich Menschen nach Dingen, die noch so sind wie früher – egal ob Essen oder Kleidung. Mit dem Original lässt sich immer gut Werbung betreiben. Dieser Bedarf ist natürlich auch bei den muslimischen Jugendlichen vorhanden, denn auch sie sind Produkt dieser Gesellschaft.

Von Murat Demiryürek

Das vergisst man in der Debatte gerne. Nun sind unsere Jugendlichen allerdings nicht mit einem Konsumartikel zufrieden zu stellen, sie legen lieber direkt einen kompletten Lebensentwurf in den Einkaufswagen. Dieser Lebensentwurf besticht durch Klarheit, Einfachheit und ist nicht so komplex wie alles, was die islamische Geschichte bis heute aufgebaut hat. „(…) Yani, lieber Bruder, zur Zeit des Propheten (Salallahu aleyhi ve sellem) haben die besten Muslime gelebt. Meinst Du, Du und ich sind besser als sie?“

Das salafistische Gedankengut stellt in den Augen der Jugendlichen einen ganz klaren Gegenentwurf zum teilweise – aus ihrer Sicht – von Schirm durchzogenen Verständnis der Elterngeneration dar. Dieses ist nicht selten vom Tassawuf geprägt und für die Jugendlichen schwer zu verstehen, weil es Erfahrungen voraussetzt, die Jugendliche selten besitzen.

Mit dem Bid’a-Maschinengewehr lässt sich wunderbar auf die eigenen Eltern schießen, die zu Boden fallenden Hülsen sind Saatgut im Paradies. Die besorgten Eltern sollten sich fragen, warum das eigene Kind so einen Gefallen daran findet, andere Menschen zu diffamieren? Wurde es vielleicht selbst immer von den Eltern mit dieser Brille gesehen und sieht sich deshalb genötigt, dies zurückzugeben? Vielleicht auf einem Gebiet, indem die Eltern nicht belesen sind?

Ebenfalls attraktiv ist die salafistische Szene für diejenigen, die auf die eine oder andere Weise mit der Gesellschaft hadern oder diese sogar hassen. Nicht selten sind dies Konvertiten, die fortan eine göttliche Grundlage für ihren Hass haben. Aus Mitbewohnern werden schnell Höllenbewohner. So macht das Leben wieder Spaß.

Viele Jugendliche sind heutzutage nicht mehr fähig, in einer Gemeinschaft zu agieren. Sie möchten keine lästigen Vorsitzenden, Imame oder Autoritäten ertragen. Auch ist das Durchforsten von mannigfaltigen Gelehrtenmeinungen, zu ein und demselben Thema, eher verwirrend als erhellend. So setzen viele auf ihre eigene Meinung.

Um als Salaf zu agieren, braucht man kein tief gehendes Verständnis, man schnappt sich ein Hadith-Buch und schaut sich an, wie stark ein Hadith ist, um anschließend damit arbeiten zu können. So einfach ist das Leben! Dann zitiert man noch die Meinung von Albani als Siegel. Man braucht diesen Hadith nicht im Kontext zu betrachten und die Inhalte brauchen auch nicht in die heutige Zeit übersetzt werden. Es gilt die einfache Gleichung: Hadith=Sunna. Man darf nicht der Annahme verfallen, dass es sich bei den Szenegängern nur um Menschen mit niedriger Bildung handelt. Es gibt ebenfalls Studierte unter ihnen.

Wo wir bei der Tat sind. Auf die Tat wird sehr viel Wert gelegt. Es wird nicht geredet, sondern gearbeitet. Das zieht die Jugendlichen an. Flyer und Bücher verteilen, Videos posten, Cyber-Jihad betreiben oder Zurechtweisungen in Moscheen durchführen. Letzteres geht besonders gut in einer Gemeinschaft, die nicht die Fatiha mit einem lauten „Amin“ beendet. Dann schreit man es halt stellvertretend für die anderen, wenn man schon nicht die Füße im Gebet berühren kann.

Die Eintrittsschwelle in dieses Konstrukt ist denkbar niedrig. Die äußerlichen Merkmale sind schnell herzustellen. Für Männer gilt es, den Bart wachsen zu lassen, die Hosen auf Hochwasser zu kürzen und das Hemd phasenweise gegen ein Gewand auszuwechseln. Diese äußerlichen Merkmale bieten eine Abgrenzungsmöglichkeit zu den Altersgenossen, was in einer Zeit der Individualisten ebenfalls ein Segen ist. Der Weg vom Wettbüro in den klaren Islam ist schnell und führt bei Wunsch ohne Halt bis ins Mudschahedin-Paradies. Der Zustieg kann wahlweise in Syrien, Irak, Afghanistan oder sogar in Deutschland erfolgen. Männer werden überall gebraucht. Diese Werbung betreiben gerne konspirative Akquisiteure quasi nach jedem Gebet in entsprechenden Ortschaften.

Zudem sind alle Veranstaltungen und Sitzungen deutschsprachig, was natürlich viele Jugendliche anzieht, die ihrer Muttersprache nicht mächtig sind. Hier haben die Verbände erfolgreich geschlafen. Deutschsprachige Jugendarbeit, insbesondere in türkischen Moscheen, ist immer noch ein schwieriges Unterfangen. Also kurz gesagt: Deutschsprachig, rein, einfach! Wer kann da schon mithalten?

Warum verlassen Menschen diese Bewegung wieder? Viele merken einfach, dass man sich irgendwann abreagiert hat. Es hat sich zu Ende diffamiert. Ständig den Bid´a-Radar zu betreiben, strengt an. Die Herzdimension kommt definitiv zu kurz. Wer ernsthaft auf der Suche ist, merkt dies und geht.

Was kann man tun? Man muss zuerst festhalten: Es sind unsere Jugendlichen! Sie gehören zu uns. Nur weil die Medien gerne über die Salafisten reden (und damit ihnen die Leute zuschieben), heißt es nicht, dass diese Teilmenge von uns Muslimen für immer abgespalten ist. Sie alle werden von dem Gedanken und der vordergründigen guten Ansicht getrieben, den Islam von Unreinheiten zu befreien. In Gesprächen ist das der Punkt, an dem die Menschen abzuholen sind. Man muss ihnen erst gratulieren, dass sie mit einem Besen unterwegs sind.

Spirituelle Erfahrung und Adab würden die Jugendlichen davor abhalten, ihre Umgebung nur noch aus Kafirun, Demokratieanbetern, Bid’a-Serientätern und Schirk-Profis bestehend zu sehen. Doch dafür dürften diese schwer zu haben sein.

Man muss diese Jugendlichen öffnen, denn im Grunde haben sie sich ungewollt eine egozentrische Betrachtungsweise der Umgebung zugelegt. Deshalb kann der Perspektiv-Wechsel Abhilfe schaffen. Sprich, wie wirkt mein Tun und Reden auf Eltern, Geschwister, Kollegen, Freunde, Passanten etc.? Man sollte wieder Fragezeichen ins stabile Weltbild sähen, so dass sie verstehen, dass sie mehr kaputtmachen, als sie aufbauen. Das lässt sich wunderbar mit Fallanalysen und Rollenspielen bewerkstelligen. Hierfür gibt es genügend Hadithe, die herangezogen werden können. Das Ziel ist es also, das Handeln zurück ins Kollektiv zu führen. Wenn dies gelingt, gewinnt man die Jugendlichen zurück.