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Ein Interview mit einem Kind

⁠⁠⁠Heute besuche ich ein Flüchtlingslager in Berlin. Als ich die große Sporthalle betrete, ist es sehr stickig. Das erste, was mir in der Halle auffällt, ist ein weit gespanntes Poster, das an der Wand ganz oben hängt. Die Kinder hier es mit ganz unterschiedlichen Farben Blumen, Muster und Flaggen bemalt. Das Farbenspektakel schenkt dieser dunklen grauen Halle etwas Licht und Farbe. Hoffnung und Lebendigkeit. Die durch Bettlaken abgetrennten Bereiche bestehen aus zwei, drei, vier Gitterbetten und bilden eine Art Schlafzimmer. Dadurch, dass es keine richtige „Wand“ gibt, können Lärm und Gespräche unmittelbar die Ruhe des Bewohners nebenan stören. Sowas wie einen Wohnraum gibt es nicht. In der Mitte der Halle stehen den Bewohnern einige Tische und Stühle zwischen den Gitterbetten zur Verfügung. Auf dem Boden liegen Taschentücher und Plastiklöffel.
Im wahrsten Sinne des Wortes werden hier Flüchtlinge gelagert, denke ich mir. Eines dieser „Zimmer“ betrete ich mit einer jungen Dame. Sie ist Mitglied einer muslimischen ehrenamtlichen Helfergruppe. Sie reden auf Arabisch über die angeschwollene Hand der Frau. Der Mann dieser Frau bietet mir etwas zu trinken an. Drei Tassen Tee hat er aus der Teeecke in die Halle gebracht. Eine bekomme ich. Paradox. „Die, die nichts haben, geben immer am meisten“, denke ich mir.
Sie stehen trotz allem Leid nun breit grinsend vor mir – die Kinder der Flucht
Während ich ihren „Raum“ verlasse, fällt mein Blick wieder zurück auf das mit Farben bemalte langgezogene Poster an der Wand. In mir wächst ein Gefühl der Wut, wie ich sie schon seit langen nicht erlebt habe… Was haben diese Menschen getan, dass ihr Land nun in Chaos versinkt. Ein Chaos, das nicht nur Häuser, Straßen, Wege zerstört, sondern auf einen Schlag mit Erinnerung gefüllte Jahre, Werte, Sicherheit und Freiheit zerbombt hat. Damit ging, wenn nicht schon der Körper, auch ein Stück Identität verloren. Heimat, ihre schöne Heimat ist nun Asch´ und Staub. Kinder haben ihre Spielzeuge im Kampf der Erwachsenen hergeben müssen. Sie vermissen hier ihre Freunde, mit denen sie bis nach dem Sonnenuntergang spielten. In einigen Fällen sehnen sie sich sogar nach einem bereits verstorbenen oder zurückgelassenen Elternteil. Sie stehen trotz allem Lied nun breit grinsend vor mir – die Kinder der Flucht. Da schämt man sich für jeden Moment der Traurigkeit, für jedes Nörgeln und für jedes Meckern über Dinge ohne wirkliche Bedeutung. Ich sah das Funkeln in den Augen der Kriegskinder noch in keinen Kinderaugen so stark leuchten wie in ihren.
Das kleine Mädchen mit den lockigen Haaren  lächelt mich mit ihren kugelrunden schwarzen Augen an. Es kann Türkisch sprechen. Wir setzen uns auf die Bank unter dem bunten „Hoffnungsposter“. Sie heißt Leila Ahmad und ist 13 Jahre alt. Ursprünglich kommt sie aus Syrien, seitdem sie 8 ist, hat sie in Istanbul gelebt. An das Leben in Syrien kann sie sich kaum noch erinnern. Ihr Vater und ihre Verwandten leben noch dort. Ihr Onkel sei im Krieg gestorben. Sie sehnt sich oft nach ihnen.
Wir haben mit Maschinen gearbeitet und Taschen produziert. Das Umdrehen der Taschen war anstrengend
„Wie hast du deine Zeit in der Türkei verbracht?“, frage ich sie. „Es war sehr schwer. Wir haben mit Maschinen gearbeitet und Taschen produziert. Das Umdrehen der Taschen war anstrengend.“ Auf die Frage, wie lange sie denn täglich gearbeitet habe, entgegnet sie: „Von morgens acht bis abends zehn Uhr. Dann sind wir nach Hause gegangen. Meine Schwester hat sich den Rücken gebrochen. Jetzt muss sie operiert werden. Sie sitzt da vorne.“ Sie zeigt mir ihre Schwester, die gedankenverloren auf dem Stuhl sitzt. „Istanbul war aber schön. Wir sind viel herumgefahren, haben schöne Plätze gesehen. Das hat Spaß gemacht.“ Ich bin neugierig und will wissen, was denn die kleine Leila dort am meisten gemocht hat. Sie antwortet: „Am meisten das Spielen mit den anderen Kindern. Ich hatte dort Freunde. Türkische Freunde.“ „Es muss wohl sehr schwer gewesen sein, sich von ihnen zu trennen?“ „Ja, klar. Ich vermisse sie.“ Ich frage, ob sie dort zur Schule ging. „Nein, sie haben uns nicht genommen!“, entgegnet Leila. „Wir hatten keine Papiere!“, ruft ihr 12-jähriger Bruder herüber. Er würde auch gerne in der Türkei leben. Dort habe auch er Freunde, mit denen er immer schwimmen gegangen sei. Als ich die beiden Geschwister frage, wie denn die Reise nach Deutschland verlief, antwortet Leila: „Sie war gar nicht schön. Das Boot knallte an einen Felsen. Wir sind ins Wasser gefallen. Einige Männer haben uns dann gerettet. Es waren viele da. 70 oder 80. Ganz, ganz viele Kinder. Sogar ein zwei Monate altes Baby. Es wurde auch gerettet.“
 
Ich möchte wissen, wie die Kinder den Alltag in dieser Halle wahrnehmen. Die Schwester schildert ihre Eindrücke: „Gar nicht schön. Schau dich doch mal um. Schau doch wie wir hier leben. Wasser trinken wir aus dem Wasserhahn in der Toilette. Wir dürfen keinen Tee trinken. Wir bekommen nur wenig zu essen. Um zehn Uhr schalten sie die Lichter aus. Nachts kann man nicht gut schlafen. Es ist kalt und man hört viele der Babies weinen. Immer gibt es Streit. Die Polizei kommt. Die Männer trinken.“ Als ich frage, ob es denn gut sei, mit Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Nationen kommen, zusammen zu leben, antwortet der Bruder: „Nein! Niemand kennt sich.“ „Und dein Freund, der gerade neben dir steht?“ „Er ist auch Syrer.“
„Ich will Menschen helfen“
Ich stoppe an dieser Stelle und überlege. Was hätte ich denn an ihrer Stelle getan? Niemals würde ich verstehen, wie es ist, in solch einer Lage zu stecken, das merke ich schnell. Doch irgendetwas müsste es doch geben. Etwas was einen aufrecht hält, selbst wenn die Liebsten verstorben und Erinnerungen schon längst begraben sind.
Es sind schließlich die Träume, die den Alltag erleichtern können. Es ist der Glaube an das Gute, die Hoffnung auf ein besseres „Später“, es sind Ambitionen, Ziele und Ideen, die den Menschen in den schlimmsten Zuständen zu Hilfe eilen. „Wovon träumst du, Leila?“ „Ich will in der Türkei leben, dort arbeiten, reisen.“ Als ich sie nach ihrem Wunschberuf frage, ruft sie laut “Rechtsanwalt“. „Was macht denn ein Rechtsanwalt so alles?“ „Ich weiß es nicht. Ich mag den Beruf aber“, entgegnet sie mir. Ihr Bruder möchte Arzt werden. Warum er das will? Ganz einfach: „Ich will Menschen helfen.“
Manchmal sind es eben kleine Gespräche, die einen das Leben reflektieren lassen. Es sind der Austausch und die Unterhaltungen, die das Gefühl vermitteln, ernst genommen zu werden. Die schönsten Taten, die diesen Menschen gut tun, findet man im Blick der Einheimischen,  an dem geneigten Kopf, wenn sie genau hinhören und dem Klang der Stimmen lauschen, in den Herzen, die versuchen, die Geschichten dieser Menschen nachzuempfinden.
Ein ganz besonderes Dankeschön an jene Jugendlichen der Moschee Markaz Al-Hassanein e.V., die ihre wertvolle Zeit wichtigen Angelegenheiten widmen. Nicht pro Woche oder für ein paar Stunden. Sie helfen Tag und Nacht, opfern ihre Freizeit und kümmern sich um Arzttermine oder engagieren sich direkt bei der Wohnungssuche. Sie nehmen die Sorgen der Geflüchteten als ihre eigenen wahr. Und das rund um die Uhr.