Über 1.500 politische Gefangene

Ausgabe 293

Foto: The White House | Lizenz: gemeinfrei

(GFP.com/IZ). Seit September 2019 wird in Ägypten wieder gegen die Regierung demonstriert. In Kairo, Alexandria, Damietta und fünf anderen Städten gehen seit dem 20. September wieder Menschen auf die Straße. Sie verlangen den Abtritt von Präsident Abdel Fattah al-Sisi. Angetrieben werden sie vor allem von der dramatisch zunehmenden Armut sowie einer grassierenden Korruption.

Kairo versucht nun, weitere Proteste mit Gewalt zu unterbinden und leitet dazu erste Massenfestnahmen ein. Ägyptens Repressionsapparate sind für brutale Folter sowie für das Verschwindenlassen missliebiger Personen berüchtigt. Sie werden seit Jahren von Berlin sowie der EU unterstützt – gewöhnlich im Namen der Flüchtlingsabwehr. So trainieren deutsche Polizisten ihre ägyptischen Kollegen und statten sie mit Gerät aller Art aus. Ägyptische Geheimdienste kooperieren eng mit deutschen Stellen. Berliner Regierungsberater warnen seit Monaten, die deutsche Beihilfe für Ägyptens Repression könne dazu beitragen, das Land in den Kollaps zu treiben.

Hintergrund ist zum einen die dramatisch zunehmende Armut. So leben laut offiziellen Angaben der Regierung zur Zeit 33 Prozent der rund 100 Millionen Ägypter unterhalb der Armutsgrenze; 2015 waren es noch 28 Prozent gewesen. Die Angaben gelten jedoch als zu niedrig; die Weltbank etwa ging im April dieses Jahres davon aus, gut 66 Millionen Ägypter seien arm oder zumindest armutsgefährdet. Die Streichung von Subventionen sowie ein deutlicher Anstieg der Preise für Treibstoff und Grundnahrungsmittel haben den Unmut zuletzt massiv geschürt. Hinzu kommt verbreitete Wut über die grassierende Korruption. Laut Berichten sind bei den Protesten verarmte junge Männer besonders stark präsent gewesen; Beobachter sprechen von einer möglichen neuen Protestgeneration nach derjenigen aus dem Jahr 2011.

Bislang hatte die brutale Gewalt, mit der die Regierung unter Präsident Al Sisi seit 2013 jegliche Opposition niederhält, größere Proteste verhindert – trotz wachsenden Unmuts in der Bevölkerung. „Jeder, der Kritik äußert, wird festgenommen“, konstatiert etwa Stephan Roll, Ägypten-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): „Folter und Polizeiwillkür sind an der Tagesordnung. Tatsächlich wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen seit dem Militärputsch im Juli 2013 rund 60.000 Personen aus politischen Gründen inhaftiert; Hunderte sind in politisch motivierten Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt worden.

Allein von Juli 2013 bis August 2018 verschwanden über 1.500 Menschen aus staatlichem Gewahrsam; ihr Schicksal ist unbekannt. Der Tod des 28-jährigen italienischen Journalisten Giulio Regeni, der am 3. Februar 2016 in Kairo ermordet aufgefunden wurde, ist immer noch nicht aufgeklärt; seine Leiche trug Spuren von Folter, wie sie als typisch für die ägyptischen Repressionskräfte gelten.

Auch nach dem Aufflackern der Proteste reagierte die Regierung mit Gewalt: Menschenrechtler aus Ägypten berichten von Massenfestnahmen; das Egyptian Centre for Economic and Social Rights hat bereits mehr als 600 Fälle dokumentiert. Viele von ihnen haben demnach mit Anklagen wegen angeblicher Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation zu rechnen.

Berlin unterstützt die Regierung von Präsident Al Sisi systematisch – und dies schon seit Jahren. Kanzlerin Angela Merkel empfing den ägyptischen Machthaber zum ersten Mal Anfang Juni 2015 in der deutschen Hauptstadt; der von Protesten begleitete Besuch half Al Sisi, nach dem Kairoer Militärputsch vom 3. Juli 2013 sowie den anschließenden Massakern, bei denen mutmaßlich mehr als 3.000 Zivilisten umgebracht wurden, das aufs Schwerste beschädigte Ansehen der ägyptischen Staatsführung international aufzupolieren. Bereits damals war die Bundesregierung zudem dabei, ihre Zusammenarbeit mit Ägyptens Repressionsapparaten weiter auszubauen; dabei ging es insbesondere um die bilaterale Polizeikooperation.

Beobachter warnen schon lange, die Berliner Unterstützung für die ägyptische Repression könne sich rächen. Al Sisis autoritäre Herrschaft ähnele derjenigen des 2011 gestürzten Präsidenten Husni Mubarak, sei allerdings deutlich brutaler. Wolle er sein Regime aufrechterhalten, dann benötige er erhebliche finanzielle Unterstützung; bereits heute sei Deutschland „mit 7,1 Milliarden US-Dollar größter Gläubiger“ Kairos „hinter internationalen Organisationen (28,4 Mrd. US-Dollar) und den Golfmonarchien (23,1 Mrd. US-Dollar)“, konstatierte im März die SWP, die das repressive Herrschaftsszenario lakonisch als „Mubarak 2.0“ umschrieb. Zudem laufe Al Sisi Gefahr, sich größere Teile der ägyptischen Eliten zu entfremden.