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Über zivilisiertes Verhalten (2)

Ausgabe 274

Foto: Dreamstime

„Doch dünkt mich, man vermeidet heutzutage oft zu vorsätzlich alle Gelegenheiten, über Religion zu reden. Einige Leute schämen sich, Wärme für Gottesverehrung zu zeigen, aus Furcht, für nicht aufgeklärt genug gehalten zu werden.“ Knigge
(iz). Das Wort „zivilisiert“ wird von vielen Menschen beansprucht. Kein Mensch möchte hören, dass er unzivilisiert sei. Doch wer beansprucht es mit Recht? Das ist die Frage, der wir auf den Grund gehen möchten. In Deutschland überragt ein Name alle anderen, wenn es um zivilisiertes, anständiges und menschliches Verhalten geht: Knigge!
Dieser geistvolle Mann wird heute mit Benimmregeln in Verbindung gebracht, obwohl er alles andere war als das. Er wollte nicht, dass Menschen gezwungen werden, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten, dass alle Wein trinken, nur weil es eben Sitte ist. Dass die eigenen Prinzipien über Bord geworfen werden, nur um kein Missfallen zu erregen. Knigges Ziel war es, dass Menschen ihre Persönlichkeit entfalten, nach selbstauferlegten Prinzipien leben und gleichzeitig sehr gut mit Menschen auskommen und anderen Gutes wünschen – und seien es völlig Fremde.
Dies ist es, was Knigge „die Kunst des Umgangs mit Menschen (nennt) – eine Kunst, die oft der schwache Kopf, ohne darauf zu studieren, viel besser erlauert als der verständige, weise, witzreiche; die Kunst, sich bemerkbar, geltend, geachtet zu machen, ohne beneidet zu werden; sich nach den Temperamenten, Einsichten und Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch zu sein; sich ungezwungen in den Ton jeder Gesellschaft stimmen zu können, ohne weder Eigentümlichkeit des Charakters zu verlieren, noch sich zu niedriger Schmeichelei herabzulassen.“
Knigge berichtet davon, dass es wohl nirgends so schwer wie in Deutschland sei, sich „richtig“ zu verhalten. Das Verhalten beispielsweise, das in Niedersachsen als zivilisiert angesehen wird, das wird an der Grenze zu Frankreich als unhöflich aufgenommen. Ist dies negativ? Nein, ist es nicht! Nur der Mensch sollte, wenn er dies weiß, sich auf solche Art und Weise verhalten, dass er nichts an der Eigentümlichkeit seines Charakters verliert, niemanden beleidigt und es anderen Menschen leicht macht, ihn als das zu erkennen, was er ist. Maulana Jelaleddin Rumi fasst diese Weisheit in der Aussage zusammen: „Zeige dich so, wie du bist oder werde zu dem, was du vorgibst zu sein.“
Knigge geht auf allerlei ein. Er spricht ganz allgemein darüber, was ein zivilisierter Mensch nicht tun sollte, was da wäre: „Enthülle nie auf unedle Art die Schwächen Deiner Nebenmenschen, um Dich zu erheben! Ziehe nicht ihre Fehler und Verirrungen an das Tageslicht, um auf ihre Unkosten zu schimmern!“ Wie anders verhalten sich die Menschen im Privatleben, verhalten sich die Politiker im Öffentlichen und verhalten sich Staaten untereinander und das seit über 100 Jahren. Für persönliche Interessen, die man als höchste Wahrheit ansieht, werden Fehler anderer aufgedeckt, benutzt, Menschen werden erpresst. Und wo nichts zu finden ist, dort wird verleumdet. Menschen werden Dinge angedichtet, die sie nicht getan haben, weil sie den persönlichen Interessen der finanziell Starken ein Dorn im Auge sind. Die eigenen Missetaten werden vertuscht, Fehler wird gegen Fehler ausgespielt – wir müssten uns fragen, ob wir in einem der unzivilisiertesten Zeitalter der Menschheitsgeschichte leben…
Knigge sagt: „Strebe nach Vollkommenheit, aber nicht nach dem Scheine der Vollkommenheit.“ Und wie geht es uns Menschen? Sei es in der Wirtschaftswelt, im Arbeitsleben oder im Privaten – die Menschen sind daran interessiert als tadellos dazustehen. Das ist das niedrigste Verhalten, was man an den Tag legen kann. Als tadellos dazustehen wird nicht dadurch versucht, sich als Mensch zu bessern und seine Fehler auszuräumen, viel mehr dadurch, die eigenen Fehler zu ignorieren, auf jene anderer hinzuweisen und durch das Aufzeigen dieser Halbwahrheiten zu glänzen.
Wie gnadenlos geht die Gesellschaft mit den Fehlern anderer um und wie milde blickt sie auf ihre eigenen. Für die eigenen sind sofort Entschuldigungen gefunden, für die Verfehlungen anderer lässt die Gesellschaft keine Entschuldigung gelten. Der Mensch sollte folgenden Rat Knigges beherzigen: „Vor allen Dingen maße Dir nicht an, die Bewegungsgründe zu jeder guten Handlung abwägen zu wollen! Bei einer solchen Rechnung würden vielleicht manche Deiner eigenen großen Taten verzweifelt klein erscheinen.“
Wir wollen hier kurz stoppen. Diese Ratschläge sind schön und gut, doch wir werden nicht zu zivilisierten Menschen, weil wir über sie reden. Wir werden erst dann zu zivilisierten Menschen, wenn wir sie umzusetzen. Der Autor ebenso wie der Leser. Diese Ratschläge sollten wir alle uns selbst geben, unserem Ego, wenn es mal wieder in seinem Wahn seine persönlichen Interessen über das zivilisierte Verhalten, über die Wahrheit stellen möchte.
Der zweite Kalif der Muslime Umar ibn al-Khattab sagte: „Lerne deine Religion gut, sonst wirst du das, was du auslebst, für deine Religion halten.“ Das heißt für uns: Lerne, was es bedeutet, zivilisiert zu sein, sonst wirst du deinen Lebensstil und deine Verhaltensweisen ohne sie zu prüfen für zivilisiert halten.
Im ersten Teil haben wir bereits über den Fehler gesprochen, der daraus entspringt auf das Lob anderer bedacht zu sein. Knigge sagt dazu: „Sei aber nicht gar zu sehr ein Sklave der Meinungen andrer von Dir! Sei selbständig! Was kümmert Dich am Ende das Urteil der ganzen Welt, wenn Du tust, was du sollst? Und was ist Deine ganze Garderobe von äußern Tugenden wert, wenn Du diesen Flitterputz nur über ein schwaches, niedriges Herz hängst, um in Gesellschaften Staat damit zu machen?“
Wer bloß nach Außen hin als etwas gelten möchte, um so respektiert zu werden und seine Interessen durchzusetzen, der ist ein Heuchler, ein Narr – weit entfernt davon zivilisiert, weit entfernt davon, ehrlich, charaktervoll und Muslim zu sein. Wir wissen, dass Allah, der Erhabene, nicht auf das Aussehen und auch nicht auf das Bankkonto schaut. Er schaut auf das Herz und auf die Taten. Wer meint, ein reines Herz zu haben, aber nichts tut, was ein wirklich reines Herz tun wollen würde, der besitzt keinen Beweis für seine Behauptung.
Vor wem müssen wir etwas beweisen? Auf jeden Fall nicht vor Menschen. Einzig und allein dem Wahren müssen wir etwas beweisen. Ich bin der Wahrheit verpflichtet, nicht den Menschen. So heißt es im Qur’an: Fürchte mich, die Wahrheit, nicht sie, die Menschen.
Knigge spricht davon, dass Menschen, die über geistvolle Themen sprechen, keine Schuld treffe, wenn sie von der Gesellschaft als Störenfriede wahrgenommen würden. Denn: „Wenn ein verständiger Mann von leeren, elenden Menschen umgeben ist, die für gar nichts von bessrer Art Sinn haben, ei nun! so ist es seine Schuld nicht, wenn er nicht verstanden wird. Er tröste sich also damit, daß er von Dingen geredet hat, die billig interessieren müßten.“
Den verständigen Menschen trifft nur dann die Schuld, wenn er es nicht schafft, die Weisheiten des Lebens auf eine Art und Weise zu formulieren, die sein Gegenüber versteht. Wer mit bildungssprachlichen Worten um sich wirft, von denen er weiß, dass die Gesellschaft, in der er sich befindet, sie nicht versteht, der macht sich selbst schuldig. Was ist sein Ziel? Will er sich selbst und seinen Wortschatz zur Schau stellen oder ist das Ziel ein erhabenes, nämlich der Versuch, der Gesellschaft, in der er sich befindet, dadurch nützlich zu sein, ihr von Dingen zu erzählen, die zum Nachdenken über das  Leben und den Lebensstil anregen?
Knigge gibt Ratschläge aller Art! Die Lehre, die allen seinen Ratschlägen innewohnt, ist diese: Vervollkommne deinen Charakter und helfe anderen, es ebenso zu tun! Sei in diesem Versuch jedoch nicht langweilig. Habe Rücksicht mit dir und mit anderen. Unterhaltung und Amüsement darf nicht fehlen. Drum packe Weisheiten in ein Gewand, das den Menschen gefällt und das die Menschen mit Leichtigkeit entpacken können. Aus diesem Grund dichtete Maulana Jalaleddin Rumi zu seiner Zeit, in seiner lokalen Umgebung. Aus diesem Grund schrieb Al-Ghazali philosophisch anmutende Abhandlungen. Aus diesem Grund dichtete Yunus Emre auf eine Art und Weise, die den Menschen seiner Umgebung dazu verhalf, auf dem Weg zur Vervollkommnung des Charakters voranzuschreiten.
Zivilisiertes Verhalten ist der Versuch, seinen Mitmenschen nützlich zu sein. Nützlich darin, sich und sein Herz auf eine höhere Stufe der Vollkommenheit zu bringen. Vollkommenheit steht jedoch nur Allah, dem Erhabenen, zu. Sich dieser anzunähern bedeutet, sich Allah anzunähern. Alle äußeren Handlungen dienen diesem Zweck. Sie sind dazu da, das Herz in eine bestimmte Richtung zu lenken. Drum achte jeder darauf, womit er sich beschäftige und was er tue, damit das Herz in keine falsche Richtung gelenkt wird. Wer sich dieser Dinge nicht bewusst ist, der ist ein Sklave derer, die sich dessen bewusst sind und ein Sklave derer, die ihn benutzen. Andere dahingehend zu beeinflussen, dass sie sich der Vollkommenheit annähern, ist edel und gut; andere zu beeinflussen, um die persönlichen Interessen durchzusetzen, ist unzivilisiert und abstoßend.
Knigge zeigt uns, dass es nicht notwendig ist, anderen Menschen zu gefallen, um als zivilisiert betrachtet zu werden. Die Aufgabe besteht nur eben darin, mit Leuten verschiedenster Art auszukommen, ganz gleich wie groß die Unterschiede zu sein scheinen. Dies geschieht dadurch, dass die Unterschiede respektiert werden, dass der eigene Erfahrungs- und Wissenshorizont nicht als Maßstab par excellence angesehen wird. Rumi wurde gefragt: „Du hast so viel gelesen, so viel geschrieben – was ist es, womit du dich am besten auskennst?“ Und der Meister der Liebe antwortete: „Am besten kenne ich mich mit meiner Grenze aus.“ Der Grenze, anderen Menschen nichts aufzuzwingen, der Grenze, das Ego nicht über die Wahrheit zu stellen, der Grenze des beschränkten Verstandes. Eine Kunst, der wir heute mehr denn je bedürfen.