Mein Begriff von Heimat

Ausgabe 245

(iz). Weißt du, man geht schon all die Zeit mit dem einen Gedanken durch das Leben: Ich bin zuhause! All die Straßen, sie gehören mir. All die Leute, an denen ich vorbeilaufe, sie sind meine Mitmenschen, mit ihnen bin ich Mensch, einfach nur Mensch. Und ja, die ­Atmosphäre in der Luft, sie ist Teil meiner Lungen, ich bin Teil ihrer Atome. Die Sonne hinter dem Horizont, sie geht hier auch für mich auf. Sogar, dass die Blumen im Frühling ihren Duft fast schon treffsicher in Richtung meiner Nase werfen und dass der Wind sie auffängt, ihn zu mir bringt, ja sogar daran glaubte ich. Einst.
Doch nun: Soll ich dir erzählen, wie ich mich nun hier zwischen den Bäumen fühle? Diesen Bäumen, die mir noch nie so fremd schienen, als wäre es ein Grün, das meine Augen noch nie erblickten. Es scheint, als wollen selbst sie mir sagen, dass ich hier nicht hingehöre. Doch welchen Straßen gehöre ich?
Zu oft höre ich, ich solle zurück in meine Heimat. Wer hat das Recht, über die Heimat eines anderen zu bestimmen und wieso soll ich „zurück“? Ich war doch niemals weg. Und durch Feuer haben sie meine Heimat in Schutt und Asche gelegt, indem sie Glaubensstätten zu verbrennen suchten, die für mich heilig sind. Durch tägliche Diskussionen und Debatten über mich und meine Heimat haben sie mir alle Silben weggerissen, den Begriff und seine Bedeutung entzweit.
Siehst du denn nicht? Die einstige Geborgenheit liegt als ein Haufen voller Trümmer direkt vor meinen Füßen. Und diese richtenden Finger haben behutsam, gekonnt und doch so brutal das Band zwischen mir und meinem Zuhause zerschnitten. Meine Ohren scheuten sich vor den Urteilen, die sie ohne Gründe zu fällen vermochten. Aber sag mir, wie stark soll ich meine Hände dagegen pressen? Wenn doch meine Augen frei vor den strengen ­Blicken sind, nahezu liegen wie ein zu Tode Verurteilter vor einem Richter mit selbst erdichteten Gesetzen.
Denn, wer hat plötzlich bestimmt, dass sich fast alles hier gegen mich und meine Heimat, gegen mich und meine Stadt, stellen muss und was hat sie dazu genötigt, mich in die Form eines verschüchternden Unschuldigen zu drängen? Ich habe alles, was hier liegt und steht, geschieht und lebt, in meine Welt, ja in mein Herz gelassen! Und dieser Ort hat sich nie gekümmert, was meine Gedankengänge prägt, welchen Glauben ich teile, wie ich aussehe und was ich um meinen Kopf band. Er kam nie dazu mich zu verletzen, verbal oder mit Fäusten. Mir anzubieten, ich solle von hier weg und in meine Heimat gehen. Nein, dieser Ort und diese Straßen bargen mich, weil ich ihnen mein Heim gab. Mein Heim im Herzen.
Mein Heim als Begriff. Sie ließen ihre Asphalte frei, um mit meiner Straßenkreide und meinen aufgeschürften Knien meine Kindheit auf ihnen zu lassen, sie immerzu betrachten zu können. Sie bewahrten alle Erinnerungen in jeder ihrer Ecken auf, um sie für später einzufrieren und sie als meine Jugend in mein Gedächtnis anzuprangern (einzuprägen?). Ich machte sie einmal zu meinem Zuhause, wie soll ich dies noch revidieren? Selbst wenn ich das Gefühl von Sicherheit und Liebe aus den Dächern dieser Stadt reiße, Wurzel um Wurzel, wie soll ich fähig sein und es jemals werden, die Zeit aufzusammeln? Die Zeit, die vergangene Zeit, die ich zwischen den Wänden dieser Häuser, dieser Ladenzeilen, dieser Busse und Gassen verstaute, sie im Vorübergehen unwissend einhauchte – sie ist dort, fest eingebrannt.
Alles, was war, formte mich. Nun stehe ich zwischen dem Spalt der Tür, habe das Schloss freiwillig geöffnet, bereit nach draußen zu treten, weil es mir Angst macht. Dieser Hass – direkt in mein Gesicht geschleudert. Diese Worte, die so normal und plausibel klingen, dass ich sie fast schon glaube. Immerzu werden Fragen aufgeworfen, die ich nie stellte, zu stellen wagte. Fragen nach Identität, nach Heimat. Und meine Antworten, sie werden nicht als solche gesehen, nicht einmal beachtet.
Es wird fleißig gefragt und beantwortet. Gefragt und beantwortet. Und ich werde außen vor gelassen, Fragen über mich werden von ihnen beantwortet – wieso? Sie reden in irgendwelchen pseudo-intellektuellen Talkshows über mich, über meinesgleichen und ich sitze davor und blicke auf den Bildschirm. Und sie schreiben über meine Verwirrung zwischen Orient und Okzident, die erst durch das Lesen ihrer Zeilen entsteht – langsam aber schnell. Schonend aber schmerzvoll. Denn die Verwirrung ist nun da. Angekommen, wo sie ankommen sollte.
Ja, merkt ihr denn nicht? Mit jedem Wort, das ihr sagt und schreibt, ja sogar denkt und mit Mimiken ausdrückt, verliert für mich jeder Buchstabe des Begriffs Heimat an Bedeutung. Was mein war schwindet und eine Leere wartet, um von mir erneut gefüllt zu werden. Aber womit? Meine Heimat und mein Gefühl der Heimat in dieser Stadt, innerhalb dieser Kultur und Mentalität, war Teil dieses Raumes. Nun sind die Wände brüchig, der Raum scheint verlassen.
Und wozu all das?
Weil ich glaube. Anders glaube. Weil Diversität dämonisiert wird.