Unterwegs: Eine muslimische Stadt: Die geisterhaften Ruinen wurden durch Neubautenn und glitzernde Nobelläden ersetzt. Von Judith Matloff

Ausgabe 205

(RBTH). Als ich Tschetschenien das letzte Mal 1999 besuchte war die Luft voller Scharfschützen und Grosny war durch Granaten zerfetzt. Es wurde berüchtigt als die am meisten zerstörte Stadt auf der Welt. Seine Wohnhäuser, die wegen ihrer weggesprengten Fassaden wie Puppenhäuser aussahen, wurden gewohnheitsmäßig mit Dresden im Jahre 1945 verglichen.

Der Beschuss Grosnys war so stark, dass wir vor der Stadt Halt machen mussten. Nicht, dass das Wort „Stadt“ noch auf diesen Platz zugetroffen hätte. Die Hälfte der 470.000 Einwohner ­mussten fliehen. Die verblieben Menschen versteckten sich in widerlichen Kellern. Es gab kein fließendes Wasser, um sich zu waschen. Zerbröckelter Zement stapelte sich auf den geisterhaften Straßen.

Also kann man mein Erstaunen verstehen, als ich vor wenigen Monaten in diese muslimische Republik zurückkehrte und sie bis zur Unkenntlichkeit verbessert vorfand. Es war eine Leichtigkeit, Grosny zu erreichen, das die UN-Liste der am schnellsten wachsenden Städte anführt. Wir kamen an ehemaligen Vororten vorbei, die einstmals von Stacheldraht umgeben waren, und an Menschen, die in Furcht lebten. Heute steht hier eine Stadt, die so unberührt ist wie ein Erlebnispark. Ich musste die Sandsteinfassaden neuer Läden berühren, um mich zu vergewissern, dass sie real sind. An mir drängte sich eine Frau vorbei. Sie gab mit einer Handtasche an, die sie für nur (!) 200 US-Dollar gekauft hatte.

An der Seite einer Promenade sah ich alleine sieben Salons, und mindestens ­genau so viele Shops für Prada-Imitate. Eine riesige Moschee – Tschetschenen behaupten, sie sei die größte Europas – schimmert voller Swarovski-Kristall und seltenem Marmor, der aus der Türkei herbei geschafft wurde. Die Glasfassaden der Wolkenkratzer fangen die Strahlen des Sonnenuntergangs ein.

Zwei Kampagnen zur Niederschlagung separatistischer Aufstände in den 1990er Jahren kosteten zwischen 63.000 und 370.000 Menschenleben. Heute hat Grosny ein Luxushotel und erwartet andere Besucher als einmarschierende russische Truppen. Weltbekannte Fußball-Legenden wie Maradona, Figo oder der Engländer McManman spielten zur Einweihung des A.A. Kadyrow-Stadions im letzten Jahr. Der 280 Millionen US-Dollar teuren Investition – undenkbar während des Krieges – soll das Skiressort Vedu­chi folgen. Doppelt so teuer wie das Stadion soll der Ort in zwei Jahren eingeweiht werden. Der Großteil des Geldes kommt aus Moskau. Die bestimmende Logik ist, dass es effektiver wäre, die Entwicklung von Infrastruktur zu finanzieren, als unruhige Geister zu unterdrücken. Zur Kreml-Strategie gehört auch die Unterstützung des Mannes für’s Grobe; Ramzan Kadyrow, dem Sohn des ehemaligen tschetschenischen Muftis und späteren Republikpräsidenten Achmed Kadyrow, der 2004 bei einem Anschlag getötet ­wurde.

Der Mufti erklärt den grundlegenden Gedenken, wonach jeder Mann, der Arbeit hat, wahrscheinlich keine Bombenweste umlegt. „Wir müssen die Jugend beschäftigen, sodass sie nicht zu Terroris­ten wird“, sagte Sultan Mirzajew und nickt in Richtung der Baukräne vor dem Fenster. Und doch lässt die offizielle Arbeitslosigkeit von 50 Prozent Platz für viel Unzufriedenheit.

Viele Baustellen entstanden unter Ram­zan Kadyrows Ägide. Gigantische Bilder des lächelnden, rotbärtigen Mannes hängen in guter Diktator-Manier in der ganzen Stadt. (Um deutlich zu machen, wer aber wirklich am Drücker sitzt, wurde der zentrale Platz Putin-Prospekt genannt.) Mit Personenkult gehen ­Exzesse einher: Ramzan Kadyrow organisierte am „Grosny-Tag“ im letzten Oktober eine große Geburtstagsfeier für sich, an der internationale Stars wie Seal oder ­Hilary Swank anwesend waren. Gefragt, woher die Mittel dafür kamen, sagte er Reportern: „Allah gibt sie. Ich weiß nicht, sie kommen von irgendwo.“

Diese Show und sein privater Zoo voller Tiger ist weit entfernt von der Wirklichkeit tausender Tschetschenen, denen es an angemessenem Wohnraum fehlt. Eine von ihnen ist die 51-jährige Univer­sitätsangestellte Bela Khadzimoralova, die den Großteil des Krieges in einem Zelt außerhalb Grosnys verbrachte. Endlich lebt sie in einem neuen Haus. „Meine Kinder träumten von einem Haus mit Mauern“, sagt sie. „Wir haben viele Jahre verloren und müssen die verlorene Zeit schnell nachholen.“ Immerhin hat sie einen Platz, an dem sie leben kann. Menschenrechtsgruppen berichteten von einer steigenden Zahl Zwangsräumungen von anderen Flüchtlingen aus Übergangsheimen, die ihre Eigentumsrechte verloren haben, als sie aus Tschetschenien flüchten mussten. Vielen haben ­keine Besitzurkunden für Häuser, die in ihrer Abwesenheit besetzt wurden.

Vielen wurde der Status der „unfreiwil­ligen Auswanderer“ entzogen, der ihnen das Recht gab, Unterkünfte zu beanspru­chen. Entweder müssen sie sehen, ob sie bei Verwandten unterkommen, oder die Stadt verlassen. Zum faustischen Pakt Russlands zählt das Ignorieren von Menschenrechtsverletzungen wie die Verhaftung junger Männer in ihren Häusern, die des Terrorismus verdächtigt werden. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen kann es diesen Männern geschehen, erschossen zu werden oder dass sie „verschwinden“. Um die ­Gruppe „Memorial“ zu treffen, muss man ­vorab einen Termin vereinbaren und dann durch Bauschutt in Richtung einer nicht markierten Tür stolpern. Während der Lärm von Bohrmaschinen aus der unteren Etage nach oben dringt, bitten die Aktivisten darum, dass ihr Name geheim gehalten wird. Sie möchten nicht das Schicksal von Natalia Estemirowa teilen, die 2009 entführt wurde. Nach ihrer Hinrichtung wurde ihr Körper in den Wäldern abgeladen.

Trotzdem verzeichnete Tschetschenien einen rapiden Abfall an Gewalt. Nach Angaben der NGO Caucasian Knot kam es im letzten Jahr zu 20 Fällen des „Verschwindens“ (2009: 186) und 18 Tötun­gen (2009: 60). 2009 erklärte Russland das offizielle Ende seiner Anti-Terror-Kampagne und zog die Truppen ab.

Die Aktivitäten bewaffneter Extremisten halten in den Nachbarrepubliken Daghestan und Inguschetien an. An vielen Kontrollpunkten starren die Fotos mutmaßlicher Terroristen grimmig von den Mauern, während Sicherheitskräfte brüsk die Autos durchsuchen. „Raus, raus“, schreit ein Polizist in ­Tarnkleidung in Richtung einer Wagenladung junger Männer im kampffähigen Alter. In ­unserem Taxis rücken wir vorsichtig ­unsere Kopftücher zurecht und blicken ausdruckslos, damit wir durchgelassen werden.

Die meisten Tschetschenen wollen den Krieg vergessen. Zalina Utsajewa, 21 Jahre alt, verbrachte ihre Kindheit zitternd in einem Keller, berichtet sie. Sie ­nannte ihre 4-jährige Tochter Schalenia, was „Freude“ bedeutet, um die Erholung ­ihrer Stadt, aber auch ihres Lebens, zu kennzeichnen. Die Hälfte ihres Einkom­mens von 180 US-Dollars geht an den Kindergarten und Utsajewa wundert sich: „Wer kann sich ein Café leisten?“ Immerhin hat sie eine Stelle als Krankenschwester, im Gegensatz zu vielen ihrer Freunde, die keine haben. Sie gleitet durch ihre Wohnung wie ein kleines Mädchen, das die traditionelle ­Lesginka tanzt. Ihre dunklen Augen ­funkeln. Ihre 2-Zimmer-Wohnung ist mollig warm und durchströmt vom Aroma einer Fleischsuppe; undenkbare Annehmlichkeiten während des Krieges.

Die Einschusslöcher an Häuserwänden, hier am Rande der Stadt, sind verspachelt. „Die Dinge werden besser“, erklärt sie mit inspirierender Widerstandskraft. „Während des Krieges und direkt danach hatten wir nichts, an dem wir uns erfreuen konnten.“