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Von Siwak und Zahnpflege

Ausgabe 273

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(iz). Unter dem Bestand der medizinischen Texte aus muslimischer Feder finden sich wenige, die insbesondere die Heilkunst mit dem Recht (arab. Fiqh) des Islam verbinden. Solche beschreiben Pflege und Behandlung, die in den grundlegenden islamischen Texten des Qur’an und der prophetischen Lebensweise (arab. Sunna) behandelt werden.
Ein Element davon ist der Gebrauch des Siwak (oder Miswak). Das ist ein Zweig beziehungsweise kleiner Ast – üblicherweise des Arrakbaums (lat. Salvadora Persica). „Das Zahnholz ist Reinigung des Munds und gefällt dem Herrn“, heißt es in einer der prophetischen Aussagen aus der Sammlung von Imam Al-Bukhari. Normalerweise wurde es von Musilmen im Nahen Osten und im Westen der muslimischen Welt vor dem Gemeinschaftgebet benutzt – direkt nach der rituellen Waschung.
Texte mit Regeln der allgemeinen Zahnpflege existierten bereits im „Goldenen Zeitalter“ der medizinischen Lehre der islamischen Geschichte. Darunter sind einige gesonderte Abhandlungen über den Gebrauch des Zahnholzes und seine Tugenden. Yuhanna ibn Masawai (gest. 854) und Hunain ibn Ishaq (gest. 873) schrieben über den Siwak. Viele heutige Studien belegen, dass Salvadora Persica und ihre Auszüge eine nützliche Wirkung auf das Gewebe der Mundhöhle haben und eine gute Zahnhygiene fördern.
Die meisten der älteren muslimischen Abhandlungen liegen in Form von Handschriften vor. Es gibt auch Arbeiten über den Miswak aus der jüngeren Periode. Der jüngste, bisher unveröffentlichte Text zum Thema, der in Folge behandelt wird, wurde von dem großen osmanischen Enzyklopädisten Muhammad ibn Mustafa Al-Aqkirmani (gest. 1760) geschrieben. Über diesen Gelehrten ist nicht viel bekannt, aber trotzdem sind mehr als vierzig Texte aus seiner Feder erhalten geblieben (einige wurden bereits veröffentlicht, die meisten behandeln die Glaubenslehre und Logik). Al-Aqkirmani wurde in der Stadt Aqkirman (oder Akkerman) geboren, die heute als Bilhorod-Dnistrows’kyi bekannt ist. Sie liegt in der ukrainischen Provinz Odessa. Zwischen 1484 und 1812 stand dieser Teil der heutigen Ukraine unter osmanischer Herrschaft. Hier lebten Menschen unterschiedlicher Herkunft: Ukrainer, Rumänen, Tataren, Nogaier, Armenier, Juden und andere. Geboren um 1700, begann Muhammad ibn Mustafa Al-Aqkirmani seine Karriere in seiner Heimatstadt, bevor er nach Istanbul zog. Wir wissen nicht genau, wo er studierte, aber er war ab 1737 Richter; zuerst in Izmir, dann in Kairo und schließlich in Mekka. Er starb um 1760, als er oberster hanafitischer Richter in der heiligen Stadt war. Ein großer Teil seiner Schriften bestand aus Kommentaren und Randbemerkungen zu früheren Texten. Al-Aqkirmani war jedoch auch Autor einiger eigenständiger Arbeiten, wie sein Text über die Unendlichkeit des göttlichen Wissen sowie umfangreiche biografische und bibliografische Schriften beweisen.
Unter den erhaltenen Texten findet sich auch eine knappe Abhandlung über den Siwak/Miswak („Risala fi Hukm Al-Siwak“). Eine seiner Handschriften ist heute in der nationalen medizinischen Bibliothek der US-Hauptstadt Washington erhalten. Der Text wurde auf Arabisch verfasst. Leider ist diese Version ungezeichnet und nicht datiert, aber Papier, Tinte und Schrift legen das späte 18. Jahrhundert als Entstehungszeit nahe. Es gibt einige Randnotizen, die wahrscheinlich von Kopisten stammen.
Im Washingtoner Katalog wird der Text als „kleines Traktat über den Gebrauch und die sozialen, physischen und religiösen Vorteile der Zahnbürste beschrieben, die von Muhammad Al-Aqkirmani verfasst wurde und als Kopie erhalten blieb.“ Er besteht aus fünf Teilen. Der erste Teil behandelt die rechtlichen Positionen der Schari’a bezüglich des Zahnholzes. Insbesondere werden zwei dominante Rechtsmeinungen beschrieben. Die erste lautet, der Gebrauch des Zahnholzes sei „wünschenswert“. Die zweite, dass es eine prophetische Sunna (Praxis) war, der man nach Möglichkeit folgen sollte. Al-Aqkirmani folgte der zweiten Meinung und führte die Position früherer Autoritäten an, wie den bekannten hanafitischen Gelehrten Jusuf Al-­Qaduri (gest. 1037).
Nach seiner Feststellung über die religionsrechtlichen Aspekte des Zahnholzes beschreibt der Gelehrte, was ein Siwak eigentlich ist. „Bevorzugt wird Al-Siwak aus einer bitteren Pflanze angefertigt. Diese wird aus Mund und Zähnen schlechte Gerüche entfernen. Eine Ausnahme dazu sind Granatapfel und Zuckerrohr.“ Der Autor erklärt nicht, warum diese beiden Pflanzen nicht benutzt werden sollten. Andere Gelehrte der hanafitischen Schule, wie etwa der bekannte Ibn ‘Abidin (gest. 1784) waren der Ansicht, dass diese Pflanzen „schädlich für den Mund“ seien. Am besten sei, fährt Al-Aqkirmani fort, der Arrakbaum, weil er in der „prophetischen Medizin“ (arab. at-tibb an-nabi) erwähnt werde. Der Autor zitiert hierzu die Gründungsgestalt seiner Rechtsschule, Imam Abu Hanifa: „Arrak macht die Sprache beredt, regt den Appetit an und klärt das Gehirn.“
Im Großteil der beiden folgenden Kapitel umreißt Muhammad Al-Aqkirmani, wie das Zahnholz zu nutzen ist und an welchen Orten dies geschehen sollte. Nach der Anführung entsprechender prophetischer Aussagen kommt er zum Schluss, dass es zu allen Zeiten und nicht bloß vor den Gebeten angewandt werden sollte.
Im letzten Abschnitt, „Vorteil des ­Siwak“, schreibt der osmanische Gelehrte über die spirituelle aber auch die materielle Komponente des Zahnholzes. So ermutige es den Türken und ziehe die Engel an, stärke den Körper und verbessere das Augenlicht. Interessant an diesem Punkt ist, dass der Autor die Wirkung des Zahnholzes auf das Gehirn diskutiert. Denn es fokussiere den Verstand auf die Erinnerung an das islamische Glaubensbekenntnis (Es gibt keinen Gott außer Allah) vor dem Tod. Daher stimuliere es das Denken, im Gegensatz zu Rauschmitteln wie Opium oder Haschisch. ­Diese seien untersagt, weil sie die Menschen von der Erinnerung Allahs (arab. Dhikr) abhielten.
Es kann festgehalten werden, dass ­Muhammad Al-Aqkirmani das Thema Siwak/Miswak als einer der Gelehrten aus der „nachklassischen Periode“ der intellektuellen muslimischen Geschichte anspricht. Zuerst tut er dies in rechtlicher Hinsicht, danach in medizinischer. Natürlich war er nicht der erste Autor, der dies tat, aber selbst sein kurzer Beitrag ist signifikant. Einerseits kann der Gelehrte als Angehöriger der osmanischen Bewegung zur Wiederbelebung der prophetischen Sunna gelten. Andererseits tendierte er dazu, die islamische Tradition – hier die Medizin betreffend – auf rationalere und pragmatischere Weise zu bewerten.