Warum haben so viele AfD gewählt?

Ausgabe 269

Foto: Oxfordion Kissuth, Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0

(iz). Warum haben so viele Bürger der ehemaligen DDR die AfD gewählt? Dafür gibt es gewiss vielerlei Gründe. Am Islam kann es schwerlich gelegen haben, denn der Islam ist in den Kreisen mit dem höchsten AfD-Stimmenanteil kaum präsent. Ich möchte gern einen Grund hinzufügen, der in politischen Debatten bisher kaum beim Namen genannt wurde. Viele Ostdeutsche fühlen sich nach dem Zusammenbruch der DDR um ihre Lebensleistung beraubt
In den Medien dieses wiedervereinigten Landes liest man fast drei Jahrzehnte danach nur noch von der Stasi, von Stacheldraht und Mauer – so wie in den Hochzeiten des Kalten Krieges. War das alles? Waren die DDR-Bürger nichts als Täter und Opfer? Bestand die große Mehrheit nur aus Mitläufern und Duckmäusern? Hinzu kommt im Sinne der unseligen Totalitarismusdoktrin die fortdauernde Gleichsetzung von Nazi- und SED-Diktator, welche die ehemaligen DDR-Bürger moralisch diskriminiert und als „demokratieunfähig“ diffamiert.
Die Wiedervereinigung verdanken wir einer demokratischen und gewaltfreien Revolution, wie wir sie in unserer deutschen Geschichte vorher noch nicht erlebt haben. Was danach von Seiten der westdeutschen Bundesrepublik geschah, war in meinen Augen eine gigantische Kolonialisierung, bei der es darum ging, sich das Vermögen der DDR „einzuverleiben“. Dass der Osten gegenüber dem Westen so weit hinterherhinkt, ist nicht die Schuld der ehemaligen DDR-Bürger, sondern eine unerbittliche Folge des kolonialen Raubzuges. Im Zuge dieser Aneignung wurden viele DDR-Bürger ihres kulturellen Gedächtnisses und ihrer Identität beraubt. Eine Folge davon sind die vielen AfD-Stimmen vor allem in Sachsen, das einmal das bis heute oft bespöttelte Kernland der DDR war. Dialekte gelten wieder als chic – mit einer Ausnahme: das Sächsische, das immer noch mit Walter Ulbricht verbunden wird.
Wir Muslime sollten uns an dieser nachgeholten antikommunistischen Verdammung nicht beteiligen. Wir haben dazu keinen Grund. Die junge DDR hat die antikolonialen Befreiungsbewegungen und Staatsgründungen namentlich in der arabischen Welt mit Wort und Tat unterstützt. Sie war ein fester Verbündeter der algerischen FLN, hat Ärzte nach Algerien entsandt und Verwundete in ihren Krankenhäusern gepflegt. Algerien, Libyen, Ägypten, Syrien, Jemen, der Irak und nicht zuletzt die palästinensische PLO haben von Seiten der DDR vielfältige Hilfe erfahren und zählten darum zu den ersten Nationen, die den anderen deutschen Staat völkerrechtlich anerkannt haben. Erst dadurch sah sich die Bonner Regierung gezwungen, diesen jungen Staaten Entwicklungshilfe zu gewähren.
Der Qur’an war in der DDR in der Übersetzung von Max Henning als Reclam-Ausgabe für 2,20 Mark erhältlich. Für Interessierte waren Originalausgaben in den Ostberliner Botschaften der arabischen Länder erhältlich. In einer Auflage von 100.000 erschien 1967 im Verlag der Nation Johannes Tralows romanhafte und vielgepriesene Muhammad-Biografie. Tralow, der aus Lübeck stammt und mit der Schriftstellerin Irmgard Keun verheiratet war, hatte lange versucht, sein Buch in der Bundesrepublik zu veröffentlichen und sich schließlich für einen DDR-Verlag entschieden. Die an der Humboldt-Universität lehrende Orientalistin Wiebke Walther publizierte 1980 ihre viel beachtete Dissertation „Die Frau im Islam“ und erhielt dafür 1988, noch vor der Wende, den Friedrich-Rückert-Preis der Stadt Schweinfurt. Herausgegeben von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Martin Robbe ist im Urania-Verlag ein ausgezeichnetes Handbuch erschienen: „Der Islam. Geschichte und Alltag einer Religion“. Nestor der ostdeutschen Islamforschung war der langjährige Ordinarius für orientalische Archäologie an der Martin-Luther-Universität in Halle-Witterberg, Burchard Brentjes. Vor allem in seinen beiden Hauptwerken, „Die Söhne Ismaels. Geschichte und Kultur der Araber“, 1971 erschienen, und „Unter Halbmond und Stern. Der Islam. Religion, Weltanschaung und Lebensweise“ aus dem Jahre 1980 hat er sich mit unverkennbarer Sympathie und mit wissenschaftlicher Sorgfalt und Gründlichkeit für ein besseres Verständnis des Islam in der DDR eingesetzt.
Als ich mich in den Siebzigerjahren für den Islam zu interessieren begann, habe ich die in der DDR erschienenen Bücher mit Gewinn gelesen. Sie haben mir geholfen, meinen Weg zu Allah zu finden. Zehntausende junge Menschen aus arabischen Ländern haben in der DDR studiert oder eine Berufsausbildung erhalten. Am Herder-Institut in Leipzig waren zeitweise bis zu 5.000 Studierende eingeschrieben.
Zwar gab es außer den historischen Repräsentationsbauten in Potsdam und Leipzig keine Moschee in der DDR, aber die muslimischen Studenten in Leipzig, Halle und Ostberlin, aber auch die algerischen Kontraktarbeiter im Rostocker Düngemittelwerk hatten freitags und an den Feiertagen immer die Möglichkeit, ihre Gebete in geeigneten Gesellschaftsräumen zu verrichten. Wenn jetzt das Weimar Institut sich darum bemüht, die Jahrhunderte langen kulturellen Verbindungen zwischen Deutschland und dem Islam zu erforschen und bekannt zu machen, dann sollte dabei das DDR-Kapitel nicht übergangen werden.