Warum lesen wir?

Ausgabe 299

Foto: Klassik Stiftung Weimar

(iz). „Alles, was nicht Literatur ist, langweilt mich.“ Wir mögen diesen Satz Franz Kafkas gerade in Zeiten der Pandemie gut verstehen. Wir sind seit Wochen auf dem Rückzug und die Realität draußen ist seit Wochen nur von einem Thema bestimmt. Aber, ist die Literatur wirklich ein Eskapismus, gar eine Flucht aus der Langweile? Natürlich nicht, zumindest wenn wir hier von ernster, gar großer Literatur sprechen wollen. Fakt ist, ein gutes Buch hilft immer über geistige und sonstige Notlagen hinweg. So passt zu jeder Stimmung auch ein bestimmtes Buch. In diesen Tagen tröstet beispielsweise gute Reiseliteratur über das wachsende Fernweh hinweg. Ein Meister dieses Faches ist der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom.

Der 1933 in Den Haag geborene Nooteboom hat wunderbare Reisebücher verfasst. Eines seiner schönsten hat er unter dem Titel „Der Laut seines Namens“ veröffentlicht. Hier berichtet der Dichter einfühlsam und feinsinnig über seine ­Reisen durch die islamische Welt und unter Anderem über einen Besuch in Granada. Unter der Überschrift „der Blinde und die Schrift“ gelingt Nooteboom hier große Weltliteratur. Mit Hilfe der langen, verschachtelten Sätze taucht der Leser in die wunderbare Atmosphäre der Gärten der Alhambra ein und lernt mit den Augen des Autors das Geheimnis des Ortes zu verstehen. Nooteboom beschreibt dort „einen sich selbst nachlaufenden, in sich selbst zurückfließenden Arabeskenstrom“.

Nooteboom entdeckt in diesen Gärten nicht nur das Geheimnis der arabischen Sprache, er lässt die Dinge überhaupt zu uns sprechen. Ich war in meinem Leben einige Mal in Granada, aber doch hat dieser Text des Niederländers die Augen für diese faszinierende Stadt nochmals ganz anders geöffnet. „Ein anderes Leben als das Eigene zu leben, dies ist wohl unter allen Gedanken des Menschen der bezeichnendste“ beschrieb Paul Valery die Motivation des Lesers. Wir können den Satz des französischen Schriftstellers auch sinnvoll umschreiben: „Mit anderen Augen als den Eigenen zu sehen, dies ist wohl unter allen Möglichkeiten des Menschen eine der Wunderbarsten.“

Literatur erweitert also unsere eigenen Erkenntnismöglichkeiten. Tatsächlich sehen wir mit Nooteboom nicht nur mehr, wir sehen auch genauer. Seine wunderbare Einführung in das Phänomen, dass die Dinge im Raum – durch Literatur – zu uns „Blinden“ sprechen können trifft ins Herz und erklärt warum gute Bücher für Lernende unverzichtbar sind. Literatur, wie wir sie bei Schriftsteller wie Cees Nooteboom erleben, ist eine Denk- und Sehschule, die einen bestimmten, eben einen anderen, als den gewohnten Zugang zur Wirklichkeit, zur Realität und Wahrheit des Menschen gewährt.

Dabei verändert sich Literatur nicht nur mit der Zeit, sie reflektiert immer auch die großen theologischen, psychologischen und philosophischen Debatten. Auf der Grundlage des freien Denkens und Schreibens löste die moderne Literatur im 19. Jahrhundert langsam die ­religiösen Narrative des christlichen Weltbildes ab. Es bahnten sich Revolutionen an. Das höchste Seiende, Gott und die sich daraus ableitende Ethik und Moral stand zur Disposition. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschütterte zudem die Freudsche Einsicht, die von einer Dominanz des Unbewussten gegenüber dem Bewussten ausging, nicht nur das religiöse Weltbild Europas. Schlussendlich fragte die Philosophie des 20. Jahrhunderts nach dem Sinn einer Welt ohne Götter und dachte darüber nach, warum in der Welt überhaupt etwas ist und nicht nichts.

Die moderne Literatur ist so Teil einer neuen, stets sich verändernden symbolischen Ordnung, die sie in einer neuen Sprache abbildet. Dem Symbolischen tritt das Imaginäre, in Form einer neuen Kunst- und Bilderwelt, hinzu. Die imaginäre und symbolische Ordnung ist dabei fragil, da sie unter dem Eindruck des Realen steht. Reale Ereignisse, oft ausgelöst durch Katastrophen, verändern nicht nur uns, sondern auch unsere Sprache. Die Literatur registriert und spiegelt diese Erkenntnisse und schafft einen Schatz neuartiger Erfahrungen.

Literatur ist also eingebettet in diverse Zugänge zur Wirklichkeit, sie kann psychologisch angehaucht sein (Surrealismus), in philosophischer Hinsicht realistisch, nihilistisch oder existentialistisch sein (Kafka, Camus, Sartre), sie kann aber auch theologische Anspielungen oder den Hauch des Erhabenen in sich tragen. Die großen Schriftsteller und Dichter sind dabei grundsätzlich frei von den Vorgaben strenger Wissenschaft oder dogmatischer Religion. Goethe bekannte hier offen: „Im Bereich der Kunst bin ich ein Polytheist.“

Warum lesen wir aber westliche, moderne Literatur? Man könnte gar fragen: haben wir das als Muslime überhaupt ­nötig? Genügt uns nicht die Schahada, „es gibt kein Gott außer Allah“ und die Erzählungen über unseren Propheten? Diesem Einwand könnte man wie folgt begegnen: Es stimmt wohl, über Literatur sprechen wir erst seit dem 19. Jahrhundert und seit der Aufklärung, aber die moderne Literatur kann uns auch durchaus helfen, zumindest den ersten Teil unseres Glaubensbekenntnisses und unsere religiöse Verortung besser zu verstehen. Dabei müssen wir bereit sein mit den Provokationen, die uns eine neue Literatur nicht erspart, möglichst unbefangen umzugehen.

Der Dichterphilosoph Nietzsche formulierte einst einen der berühmtesten Sätze der Weltliteratur: „Gott ist tot.“ Seine Werk beschreibt nicht zuletzt das Ende der Wirkungsmacht der Christlichen Metaphysik und die Realität neuer „Götter“, sei es der Staat, die Bank, die Technik oder die Natur, die unser modernes Dasein, unsere Vorstellungen von einem Ich und unsere Subjektivität neu bestimmen sollen. Gerade die moderne Literatur kann uns also schonungslos zeigen was ist, sei es in uns oder außerhalb.

Man denke nur an die schreckliche Situation des Menschen nach dem 2. Weltkrieg. Die Kunst und dazu gehört ja die Literatur, wollte sich nach den schrecklichen Erfahrungen der Weltkriege verändern, sie konnte und wollte, unter dem Eindruck von Millionen Toten, nicht einfach weiter machen als wäre nichts geschehen. Kunst, Sprache und Politik sollten sich unter dem Eindruck eines neuen Kunstverständnisses radikal verändern. Es entsteht der Dadaismus, der Surrealismus, der Existentialismus und andere Erzählformen eines neuen Nihilismus.

Der Begründer des Surrealismus, Andre Breton, selbst ein großer Schriftsteller rief gar aus: „Ich will kein Dichter mehr sein!“ Breton forderte die Sprache gar nur noch als ein revolutionäres Mittel zu verstehen. Die Surrealisten experimentierten mit neuen Formen der dichterischen ­Artikulation, dem sogenannten „automatischen Sprechen“, das einen unmittelbaren Zugang zum Unterbewussten ermöglichen sollte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand so eine Flut von ungewöhnlichen und teilweise verstörenden Büchern.

Das Angebot an moderner Literatur ist heute so groß, dass wir uns fragen: „was ist gute Literatur?“. Aber wie sollen wir überhaupt darüber entscheiden?

Der Literaturwissenschaftler Hans Dieter Gelfert gibt uns immerhin einige Stichworte zur Orientierung. „Vollkommenheit, Stimmigkeit, Expressivität, Welthaltigkeit, Allgemeingültigkeit, Interessantheit, Originalität, Komplexität, Ambiguität, Authentizität, Widerständigkeit, Grenzüberschreitung, das gewisse Etwas“ sind für ihn Merkmale einer guten Literatur. Wir finden hier also keine objek­tive Regel, nur eine überwältigende Auswahl von Möglichkeiten. „Ich habe mir das Paradies immer wie eine Bibliothek vorgestellt“ schrieb der argentinische Schriftsteller Jorge Borges. Welche Bücher für uns bedeutend werden oder gar ins Paradies führen, ist dabei nichts anderes als eine individuelle Entscheidung.

Aber versuchen wir uns wenigstens an einigen objektiven Zeichen guter Literatur. Man könnte sagen, diese Bücher sind „weltbildend, intensiv, offenbarend und zeitlos.“ Ein gutes Beispiel für weltbildende Literatur sind zum Beispiel die Bücher Thomas Manns. So tauchen wir in den „Buddenbrooks“ in die Welt einer hanseatischen Kaufmannsfamilie ein. Mann, dessen Tagesleistung in 2 beschriebenen Seiten bestand, führt uns dabei, mit unglaublicher sprachlicher Präzision, in das, von Ökonomie bestimmte, Leben von drei Generationen ein. Hans Fallada dagegen, beschreibt mit unglaublicher Intensität die Erfahrungen kleiner Leute in der Weltwirtschaftskrise oder die Bedingungen des Widerstandes unter dem Regime der Nationalsozialisten. Fallada schreibt wie im Rausch und beendet große Bücher manchmal in drei Wochen. In der Dichtung Rilkes wiederum, erleben wir eine Sprachkunst, die einer Offenbarung nahekommt und – in seinen Duineser Elegien – die gewohnten Subjekt-Objekt Beziehungen ganz auflöst.

Alle große Literatur ist dabei zeitlos, da wir ihre Aktualität und Wirkung auch heute noch unmittelbar erfahren können. Lassen wir uns also auf das Abenteuer große Literatur ein, bildet sie eine neue Identität, aber, sie erinnert uns auch gleichzeitig an die Illusion einer fixierbaren Identität. Wir verändern uns mit den Büchern die wir lesen und lieben.

Sprechen wir heute über große deutsche Literatur, kommen wir an dem Beispiel Goethes kaum vorbei. Rüdiger Safranski hat gleich sechs Jahre damit verbracht, die 30000 Seiten des Werkes und die Biographie dahinter zusammenzufassen. Das Werk ist nach wie vor einmalig, da es praktisch alle Formen der Literatur, wissenschaftliche Texte, Dramen, Romane, Briefwechsel, Gedichte, Dichtung und Reiseliteratur umfasst.

Gothes berühmte Bücher sind dabei – wie oben ausgeführt, weltbildend (Wilhelm Meister Lehr- und Wanderjahre), intensiv ( Die Leiden des jungen Werther) oder auch offenbarend (Faust). Die Aktualität seiner Faust-Dichtung zeigt sich gerade wieder in den Krisenzeiten unserer Tage. Das Streben des Faust nach absoluter Wissenschaftlichkeit, ökonomischer und politischer Expansion und sein Pakt mit der negativen Magie des Mephisto, gilt noch immer als das Gleichnis des modernen Menschen. Goethe stellt hier eine Welt vor, deren Problematik sich aus dem Ende der christlichen Metaphysik und der Herrschaft des technologischen Projektes ergibt. Dabei offenbart sich aus Sicht Goethes eine neue, grundlegende Frage nach dem Sinn von Religion überhaupt. Michael Jaeger (Global Player Faust) schreibt über diese Seite Goethes: „Religiös in einem ganz allgemeinen Sinne war Goethe sehr wohl, nämlich im ursprünglichen, wörtlichen Verständnis der religio als spiritueller Ehrfurcht vor jenem dem menschlichen Willen – zur Macht – Unzugänglichen und Unverfügbaren, dem Goethe den dezidiert unorthodoxen Namen des Ewig-Weiblichen geben konnte…“

Die Berührung mit dem uns an sich „Unzugänglichen, Unverfügbaren“, wie immer wir dies benennen wollen, ist ­vielleicht eine treffende Bestimmung des Ereignisses großer Literatur!