Was die Welt vergisst

Ausgabe 291

(iz). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ereignete sich neben des NS-Regimes unter Adolf Hitler eine weitere Katastrophe, die sich zu den größten Tragödien der Menschheitsgeschichte zählen lässt. Mitten in der kasachischen Steppe errichtete Joseph ­Stalin in den 1930er Jahren in Akmol, ca. 37 km von Kasachstans Hauptstadt entfernt, ein Konzentrationslager beziehungsweise Gulag für „die Ehefrauen der Verräter des Heimatlandes“, besser bekannt unter dem russischen Kürzel ALZHIR. Das ­Lager sperrte Frauen und Kinder ein, deren einziges Verbrechen darin bestand, mit ­einem Mann in Verbindung gestanden zu haben, der vom Staat – meistens – ohne erkennbaren Grund denunziert worden war.

Zwischen den 1930er und 50er wurden in dem „Gefangenenlager für die Ehefrauen der Verräter an der Heimat“ mehr als 20.000 Frauen inhaftiert. Dimitri Wol­kogonow schätzt die Anzahl der Toten ­unter Stalins Herrschaft, die durch Stalins „Säuberung“ ermordet wurden, auf 19,5 bis 22 Millionen Menschen. Heute erinnert eine Gedenkstätte und ein Museum an die politischen Verfolgungen vieler ­Zivilisten, so auch das Denkmal für die Opfer des stalinistischen Terrors und Tota­litarismus sowie die Opfer der Zwangskollektivierung, der umgesiedelten Deutschen, Polen, Tataren, Kaukasier und vieler anderer Völker. Allein 1937 wurden mehr als 1,5 Millionen Menschen verhaftet und über die Hälfte erschossen.

Dafür, dass im Konzentrationslager so viele Menschen unter grausamen Bedingungen gestorben sind, wird dem Arbeitslager und auch den Opfern unter Stalin eindeutig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Unmittelbar vor dem Museum steht der Bogen der Trauer. Links des klobigen ­Gebäudes steht eine originale Baracke, die sich die Insassen selbst bauen mussten. Links und rechts des Museums sind zwei Bronzestatuen der Opfer zu finden.

Am 3. Dezember 1937 befahlen Stalin, Berija und Jeschow das kasachische Konzentrationslager für Frauen zu eröffnen. Nicht einmal einen Monat später wurden die ersten 50 Frauen mit kleinen Kindern dahin deportiert. Lebensgroße Schaupuppen stellen unterschiedliche Szenarien dar, wie ein Verhör. Während einer der stalinistischen Beamten in seiner breitschultrigen Uniform an einem Schreibtisch hockt, muss eine ältere Frau auf einem so hohen Stuhl sitzen, dass ihre Füße den Boden nicht erreichen. Solche Verhöre wurden stunden- und tagelang geführt.

Es ist keine Seltenheit gewesen, dass die Verhörten bewusstlos vom Stuhl fielen. Nicht zu vergessen: die Frauen mussten bis zu 14 Stunden hart arbeiten. Wer weiß, wie viele dem Hunger zum Opfer gefallen sind.

Die gefangenen Frauen waren dazu verpflichtet worden Kleidung und Materialien für Soldaten herzustellen, die im Zweiten Weltkrieg kämpften. In Akmol steigen die Temperaturen im Sommer auf 38 Grad und höher, während das Quecksilber im Winter auf unter 40 Grad absinken kann und die Lagerbedingungen kaum ausreichten, um dem Klima gerecht zu werden.

Bemerkenswerterweise versuchen die kasac­hischen Beamten nicht, dieses düstere Erbe zu verschleiern, sondern haben ein Muse­um zum Gedenken an die in ALZHIR Leidenden und Verstorbenen errichtet. Ein historischer Eisenbahntransport, ein rekon­struierter Wachturm und mehrere Skulpturen umgeben das einzigartig gestaltete Museum, das zahlreiche Relikte und verwandte Geschichten enthält, die die schmerzhaften Details des Gefängnislebens erzählen. Die Biografien der Überlebenden sind ein wahres Zeugnis der Stärke des menschlichen Geistes. Leider endeten, wie die Exponate zeigen, zu viele Frauengeschichten in einer Tragödie.