Was heißt es, heute ein Muslim in Russland zu sein?

Ausgabe 225

Obwohl der Islam und die Muslime in Russland offiziell als zum traditionellen Erbe Russlands gehörig gelten, herrschen derzeit ­– zum Bedauern der Muslime – Spannungen zwischen der Politik und Gesellschaft einerseits und der muslimischen Gemeinschaft. Letztere hofft auf eine Verbesserung der Stimmung.

(RBTH). Muslime stellen die zweitgrößte Religionsgruppe in Russland und haben jahrhundertelang friedlich neben ihren orthodoxen Landsleuten gelebt. In den letzten Jahrzehnten jedoch verhalten sich immer mehr Russen misstrauisch gegenüber Muslimen – vor dem Hintergrund inter­ner Instabilität und Terrorangriffen. Die Muslime selbst bitten ihre Landsleute, die Gläubigen nicht mit jenen zu verwechseln, die sich zwar Muslime nennen, aber nicht den Normen des Islam folgen. Islamische Gelehrte ihrerseits rufen die Leute auf, den Islam nicht mit Terrorismus zu verwechseln und Aufklärung zu betreiben, um Konflikte zu vermeiden.

Nicht nur orthodox
Es gibt keine offiziellen Zahlen über die Menge der russischen Muslime. In der letzten Volkszählung lag die Menge der traditionellen muslimischen Bevölkerung bei 14,5 Millionen (rund 10 Prozent der Bevölkerung). Nach Schätzungen der Spirituellen Verwaltung der Muslime im Europäischen Teil Russlands lag die Summe in Russland zu dieser Zeit bei rund 20 Millionen Menschen. Im November 2013 stellte eine Erhebung des Levada Center fest, dass Muslime rund sieben Prozent der Gesamtbevölke­rung ausmachen.

In Russland gibt es Regionen, in denen die Bevölkerung traditionell muslimisch ist. Dazu gehören die Republiken des Nordkaukasus (Inguschetien, Tschet­schenien, Daghestan, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien) sowie Tatarstan und Baschkirien. Nicht alle Menschen, die sich als Muslime bezeichnen, befolgen die religiösen Rituale. Laut einer Erhebung des Sreda Forschungsinstitutes sagen 42 Prozent der russischen Muslime, dass Religion eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielt und dass sie alle Rituale befolgen. Ihre Zahl wächst kontinuierlich durch Geburten, insbesondere unter den Völkern des Nordkau­kasus. Hinzu kommt die steigende Einwanderung durch Muslime aus Zentralasien und Aserbaidschan.

Ärger über die Vulgären
Azamat kam nach Moskau aus Kabardino-Balkarien und sieht sich oft dem Unverständnis ausgesetzt, wer die Muslime eigentlich seien. „Viele betrachten das trotzige Verhalten der Leute aus den kaukasischen Republiken und denken, dass sich alle Muslime so benehmen. Aber das ist nicht wahr. Ein wahrer Muslim wird kein Fräulein auf der Straße belästigen und er wird weder trinken, noch rauchen. Die wichtigste Sache für einen religiösen Mann ist, ein rechtschaffenes Leben zu führen, zu beten und Verwandten oder auch Nachbarn zu helfen. Wenn dein Nachbar nichts zu essen hat und du in einem wohlhabenden Haus bist, dann lebst du nicht rechtschaffen“, sagt er.

Alle Menschen, die ihn und seine Frau kennen würden, verhielten sich sehr gut gegenüber Muslimen. „Ich arbeite in einem Laden und meine Kollegen verstehen es, wenn ich mein Gebet mache“, erklärt er. „Sie kennen mich und verstehen, dass dies sehr wichtig für mich ist.“ Es sei extrem frustrierend, wenn vulgäre Leute behaupten, sie seien Muslime. Er glaubt, dass ein solches Verhalten nur die Menschen ängstige, die seine Religion nicht verstünden.

Das Tuch verbergen
Zulya wurde in Moskau geboren, wo sie ihr gesamtes Leben verbrachte. Sie war immer schon Muslimin, aber kleidet sich erst seit vier Jahren traditionell; nach ihrer Hochzeit und der Geburt ihrer beiden Kinder. Trotz eines Universitätsabschlusses fiel es ihr schwer, eine Stelle als Krankenschwester in einer Tagespflegeeinrichtung zu bekommen. „Der Leiter sagte mir, dass vor mir bereits eine andere traditionell bekleidete Muslima dort gearbeitet hätte. Die Eltern der Kinder, welche die Einrichtung besuchen, hätten eine Petition verfasst, damit diese Frau sich nicht um ihre Kinder kümmert. Daher muss ich meine Religion verbergen, um meinen Job nicht zu verlieren.“

Sie berichtet von Problemen mit Kollegen, weil diese Muslime verdächtigten. „Die Sprachtherapeutin fragte eine der Erzieherinnen nach mir. Sie wollte wissen, ob ich eine jener Frauen sei, die Explosionen organisiere. Und das, obwohl sie immer mit mir spricht und mich niemals direkt gefragt hat“, sagt die junge Frau. „Ich habe mein ganzes Leben in Moskau gebracht und niemals eine negative Haltung erlebt. Und meine Freunde haben auch niemals darüber geredet. Allerdings habe ich damals kein Kopftuch getragen.“

Gute Nachbarschaft
Mufti Farid Salman ist Vorsitzender des Gelehrtenrates der Russischen Vereinigung für Islamische Zusammenarbeit. Er sagt, dass sich das Problem der Feindseligkeit gegenüber Muslimen nicht in allen russischen Regionen beobachten lasse. „In der Wolgaregion gibt es keine Unterschiede zwischen den Anhängern der verschiedenen Religionen. Trotz der religiösen Säulen versuchen die Anhänger der einen nicht, die Mitglieder der ande­ren zu konvertieren“, meinte der Mufti. „Als Folge haben wir enge Freunde unter den Anhängern verschiedener religiöser Traditionen.“

Farid Salman merkte an, dass die tatarischen Muslime immer friedlich neben den Russen gelebt hätten. Um jedoch heute solch ein Ergebnis zu zeitigen, bedürfe es harter Arbeit und eines großen Einsatzes von Mitteln. „Wir brauchen eine bestimmte öffentliche Politik. Manch­mal überraschen mich die Worte unserer Politiker, die weiterhin in Begriffen von Herkunft und Religion sprechen, wenn sie Terrorismus meinen. Wir sollten das nicht machen. Diese Leute haben sich von Gott und dem Recht entfernt“, sagt er. „Die Massenmedien sind sich nicht immer im Klaren darüber, dass solche Definitionen die Menschen spalten.“

Der spirituelle Führer beschrieb auch die Spannungen, die durch Einwanderer muslimischer Herkunft entstünden. „Verächtliche Einstellungen gegenüber Einwanderern führen zu Fremdenfeindlichkeit. Und die Russen vergessen, dass die Neuankömmlinge genauso anständige Menschen sind wie sie selbst. Die gegenwärtige Generation braucht ein Programm der öffentlichen Aufklärung“, erklärt er. „Wir haben vergessen, dass Einwanderer aus Zentralasien und dem Kaukasus während des Großen Vaterländischen Krieges in der Armee dienten und unsere gemeinsame Heimat verteidigten.“