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Was meinen Sie?

Ausgabe 260

Foto: Stiftung Mercator | Lizenz: CC BY-SA 2.0

(iz). Die Diversifikation der Wissenschaften wird im Allgemeinen mit den Ingenieur- und Naturwissenschaften verbunden und nur selten mit den Geisteswissenschaften. Doch auch bei diesen entwickeln sich immer mehr sogenannte Fachwissenschaften, die nicht nur zu selbständigen Lehrstühlen, Fachgesellschaften und Zeitschriften führen, sondern die Halbwertzeiten des Wissens ständig sinken lassen. Eine der Folgen ist, dass niemand mehr einen Überblick über das hat, was man zum Beispiel früher als Orientalistik bezeichnete.
So legen Sozialpsychologen, Politologen, Archäologen, Ethnologen u. a. Arbeiten vor, die sich mit „dem“ Islam beschäftigen. Sie tun dies unter Beachtung der Voraussetzung des methodischen Atheismus, der heute die schlechthinnige Grundlage modernen Forschens ist. Selbst zahlreiche Religionswissenschaftler bearbeiten ihre „islamischen“ Themen unter dieser Annahme, was Muslime irritiert, denn was ist eine Religion ohne ihre Grundannahme, dass die Transzendenz besteht? Ein Fundament, welches die säkulare Haltung in den gegenwärtigen west-europäischen Gesellschaften weder verleugnet noch bekämpft, sondern schlicht ignoriert. Auf den üblichen Vortrag zum Islam folgen daher Diskussionen, Gespräche oder etwas, das man früher Dialog nannte; zumeist ist es ein Gemisch aus Vorurteilen, Angelesenem und Bruchstücken aus welcher Literatur auch immer. Dabei mag der Begriff „Literatur“ etwas zu hoch gegriffen sein.
Der um Verständnis bemühte muslimische Referent des Abends mag sich auf dem Weg nach Hause fragen, gegen wen oder was „man dialogisiert“ hat. Es ging nicht allein um die üblichen Missverständnisse, was beispielsweise der Dschihad sei, sondern um eine im Hintergrund schwebende Grundhaltung. Sie ließe sich am ehestens mit dem Satz beschreiben: „Der Islam stört.“ In Gesellschaften, in denen viele Pfarrer zu so etwas wie kirchlich legitimierten Sozialarbeitern wurden, sind Muslime scheinbar die einzigen, die sich kommentarlos und doch ausdrücklich auf die Transzendenz beziehen. Für sie ist Gott. Was in jedem Gebet  allein schon durch die Haltung zum Ausdruck kommt: gen Mekka gewandt und im Beugen und Fallen vor Ihm. Und die muslimischen Kunden eines Kaufhauses sind in allen Abteilungen anzutreffen, nur nicht vor der Fleischtheke oder im Restaurant. Doch wenn es um die historische Ausbreitung „des“ Islam geht, zählen nur sogenannte harte Fakten: Münzen, Ruinen, Stelen, Manuskripte oder Berichte Dritter, während Muslime ihrer oralen Tradition vertrauen. So meinen viele Gläubige, dass der vorgetragene Qur’an wichtiger sei als der gedruckte.
In den Diskussionen nach einem Vortrag ist bei den Fragen beziehungsweise Kommentaren zu meist nicht zu unterscheiden, auf was oder auf welche Position sich der Fragende bezieht. Ist mit dem Thema „Hidschab“ etwas Ethnologisches gemeint, ging es dem Fragenden um eine Glaubensfrage, wollte jemand seine emanzipatorische Kritik vortragen oder sollte auf juristische Diskurse hingewiesen werden? Bei jeder Wortmeldung wurde auf das Buch eines renommierten (nicht -muslimischen) Autoren oder eine Fachzeitschrift hingewiesen, die man doch sicherlich gelesen habe. Auf Nachfragen reagieren viele verärgert – aus welchem Grunde auch immer. Schließlich habe das Buch, aus dem man zitiert habe, mehr als eine Auflage erreicht.
Mit der Berufung der Deutschen Islam Konferenz wurde zudem eine bis dahin eher untergründig mitlaufende Tendenz sichtbar: der Lieblingsmuslim beziehungsweise die Lieblingsmuslima. Seine oder ihre Meinung steht für die wahre Interpretation des Qur’an, seine Geschichte usw. Mit ihr sei der Islam endlich in der Moderne angekommen, wird dem verwunderten Zeitgenossen erklärt. Entsprechende Reaktionen auf muslimischer Seite werden schlicht nicht zur Kenntnis genommen, weil sie zumeist in englischer oder arabischer Sprache und mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung in Zeitschriften erscheinen, die in Deutschland nicht oder selten gelesen werden. Ich frage daher bei mir unverständlichen Fragen nach, was der Fragende meine, um unter Umständen zu sagen, dass ich nicht nur die angesprochene Literatur nicht kenne, sondern die Fragestellung nur im europäischen Kontext möglich sei. Im islamischen Kontext gäbe es keine Option, die Frage zu denken. Der sogenannte Opfertod am Kreuz ist keine islamische Option und das Abendmahl beziehungsweise die Messe etwas, das der Muslim bei allem Unverständnis nur respektieren kann.
Zahlreiche Teilnehmer an Dialogveranstaltungen setzen eine  Ordnung des Denkens voraus, um an Michel Foucault anzuknüpfen, die Muslime nicht kennen. Dazu gehört die Annahme, dass der Glaube sich nach den Regeln des Verstandes zu richten habe, wie dies vor der philosophischen Aufklärung auch in Europa der Fall gewesen ist. Wer nicht dementsprechend argumentiert, der denkt irrational. So wird aus dem Propheten der arabische Begründer einer abrahamischen Religion, die in den mediterranen Raum gehört. Bei Fragen oder Wortbeiträgen gilt es daher, recht genau hinzuhören, um die Vorannahmen mitzuhören, auf die man dann als Muslim antworten muss. Der zwangsläufige Protest, man werde irrational, lässt sich nur mit dem Hinweis beantworten, dass man als Muslim, sprich als Gläubiger reagiere. Mir ist in einem solchen Falle gesagt worden, wenn ich dieser Meinung sei, solle ich doch dorthin gehen, wo ich her käme. Mit einem inneren Vergnügen sagte ich dem Betreffenden, dass dies nicht ginge; denn meine Heimat ist nach dem Weltkriege von den Siegermächten abgeschafft worden. Es ist Preußen. Aus dem Rest hat man im Westen zwei Bundesländer gemacht: Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.
Der hier hörbare Mangel an historischen Kenntnissen führt immer wieder zu den erstaunlichsten Behauptungen hinsichtlich der islamischen Präsenz in Deutschland. Ich habe mir abgewöhnt, dies hinzunehmen, und weise auf die Geschichte der Muslime im Lande hin, bevor ich die mir gestellte Frage beantworte, wodurch die Antwort selber erst ihren Rahmen erhält und der häufig gehässige Unterton des Fragenden unterlaufen wird. Solche Ehrlichkeit honoriert fast kein Auditorium. Viele Zuhörer reagieren irritiert oder mit Schweigen, weil die indirekt angeforderte Reflexion auf das Eigene zu den nicht gewohnten Dimensionen beziehungsweise der Ordnung des öffentlichen Diskurses gehört. Was aber meint eine Frage?