Welche Rolle können Religionen spielen?

Ausgabe 276

Foto: Elias Pirasteh, flickr | Lizenz: CC BY-NC-NC 2.0

(IPS). Im Jahre 1994 schrieb Dr. David R. Hawkins ein Buch über den Unterschied zwischen Kraft und Gewalt (engl. „Power vs. Force“, dt. „Die Ebenen des Bewusstseins“). Auf Grundlage seiner Hypothese von der Kinetik vertrat Dr. Hawkins die Ansicht, das menschliche Bewusstsein – und der Körper – könne den Unterschied zwischen Macht (etwas Positives) und Gewalt erkennen. Ein Beispiel für diese Differenz sei der gewaltlose Widerstand Ghandis gegen die Stärke des britischen Kolonialismus. Macht sei langsam, stetig und langanhaltend, während Gewalt beweglich und schnell sei. Sie tendiere dazu, sowohl eine Gegengewalt hervorzubringen als auch dazu, sich zu erschöpfen. Dr. Hawkins’ Argument, das oft als „spirituell“ etikettiert wurde, bereitet ein Fundament dafür, dass Religion oder Glaube als Kraftquelle eingesetzt werden könnte.
Historisch betrachtet gibt es auch eine gegenteilige Argumentationskette. Vom römischen Dichter Lukrez, über Machiavelli im 16. Jahrhundert, zu Voltaire und Hume im 18. Jahrhundert bis zu den neuen Atheisten um Richard Dawkins wurde lange und auf verschiedene Weise die Ansicht vertreten, Religion – insbesondere in Form ihrer Institutionen – gehöre, um bei Hawkins zu bleiben, eher zur Domäne der Gewalt.
Trotz der Widersprüchlichkeit beider Ansätze wendet sich die internationale Gemeinschaft in zunehmendem Maße religiösen Führern und Institutionen zu. Sie sollen mithelfen, die unzähligen Herausforderungen der menschlichen Entwicklung und der humanitären Krisen zu meistern. Zu den Fragen unserer Zeit gehören Armut, Migration, ökologischer Niedergang, Kinderrechte, schädliche soziale Praktiken, „gewalttätiger Extremismus“ (der oft nur auf die religiöse Variante verkürzt wird) und bewaffnete Konflikte. Religiöse Führungsgestalten und – im geringeren Maße – glaubensbasierte Organisationen werden als das Allheilmittel bei solchen Problemen gehandelt.
Die Idee der Zusammenarbeit mit religiösen Akteuren als Mittel zur Mobilisierung von Gemeinschaften zur Teillösung von langfristigen Herausforderungen der menschlichen Entwicklung hat sich in den letzten Jahren im System der Vereinten Nationen erheblich herausgebildet. Die Absicht zur Kontaktaufnahme seitens mehrheitlich säkularer Einrichtungen mit religiösen Ansprechpartnern vollzog sich in den letzten Jahren eine Wandlung.
Die Gründe für die Partnerschaft, wie sie von den verschiedenen Mitgliedern des Zwischenbehördlichen Einsatzstabes der Vereinten Nationen für Partnerschaft mit religiösen Akteuren für nachhaltige Entwicklung (kurz: UN-Einsatzstab zur Religion) vertreten werden, beruhen auf bestimmten Tatsachen: Religiöse NGOs sind Teil einer jeden Zivilgesellschaft. Daher sei der Brückenschlag zwischen dem säkularen und dem religiösen Raum der Öffentlichkeit entscheidend für eine starke Anwaltschaft beispielsweise in Sachen Bürgerrechte. Als Beispiel hierfür galt die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten.
Religiöse Einrichtungen sind die ältesten und dauerhaftesten Mechanismen der sozialen Dienstleistung. Und viele religiöse Führer sind durchaus einflussreich. Bei einigen sozialen Normen kontrollieren sie gar den gesamten Zugang. Dies gilt auch für schädliche Praktiken, die nachteilig für Frauen und Mädchen sind.
Auf der Basis dieses zehnjährigen Prozesses des Lernens, der Beratung und des konkreten Austausches entwickelte die UN-Einsatzgruppe Leitfäden zum Umgang mit religiösen Akteuren. Dabei griffen sie auf die Erfahrungen von 17 UN-Agenturen und beinahe 500 glaubensbasierten NGOs zurück. Dazu gehört etwa, dass es für die UN keine „Rosinenpickerei“ beim Umgang mit Menschen- und Bürgerrechten geben könne.
Die „Macht“ dieser Akteure, die sich im Laufe verschiedener Initiativen der Vereinten Nationen in den letzten Jahren für Menschenrechte trafen, konnte mehrfach beobachtet werden. Insbesondere der UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) sowie das Kinderschutzwerk UNICEF brachten religiöse Führer mit Menschenrechtsaktivisten zusammen. Ein Beispiel dafür war der soziale Wandel in einigen Gemeinschaften des subsaharischen Afrikas zur Beendigung der weiblichen Genitalverstümmelung.
Die letzte Veranstaltung fand im Dezember 2017 statt. Das UN-Büro zur Verhinderung von Völkermord reagierte auf die Forderungen einiger südostasiatischer religiöser Führer selbst. Es ging darum, Weichensteller gegen Hassrede in Stellung zu bringen. Die gemeinsamen Erfahrungen mit dem Schutz religiöser Minderheiten und die Solidarität mit den Rechten aller, über Religionen und nationale Grenzen hinaus, schufen ein Gefühl des gemeinsamen Zwecks und vor allem der Möglichkeit, der Hoffnung – und auch der Macht. Keine kleine Errungenschaft in einer Zeit großer Verwirrung und eines Gefühls der Instabilität um und mit der Religion.