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Wer beeinflusst hier wen?

Ausgabe 294

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(hikaayat.com). Die wichtigsten Medien und soziale Netzwerke waren kürzlich voller Meldungen über Musliminnen, die ihr Kopftuch abgenommen haben. Meine erste Reaktion war die Frage, warum jemand die Notwendigkeit fühlt, eine solche persönliche Entscheidung öffentlich kundzutun.

Die zeitgenössische Gelehrte und produktive Übersetzerin Aisha Bewley merkt hierzu an: „Es scheint, dass weibliche Kleidung in das Abzeichen einer islamischen Identität verwandelt wurde. Man definiert die eigene Identität als ein Muslim nicht durch ein Stück Stoff … Der fortlaufende und beinahe ausschließliche Fokus auf Frauenkleidung wurde zu einer Ablenkung von den realen Themen, über die Muslime leidenschaftlicher sein sollten … Leute ignorieren die Tatsache, dass weder Männer noch Frauen in der modernen Gesellschaft ermächtigt werden.“ Angesichts so vieler, wichtigerer Fragen  ist es peinlich, dass eine Diskussion über Weiblichkeit im Islam schlussendlich in einer Diskussion über das Kopftuch endet. Und doch reden viele von uns im Kontext einer Beeinflusser-Kultur darüber.

Für mich liegt hier ein Großteil des Problems: in der Frage nach Repräsentation. Im „Westen“ geborene und aufgewachsene Muslime versuchen, ein Gleichgewicht zwischen dem muslimischen Leben und dem Dasein in Gesellschaften zu finden, die bestenfalls gleichgültig gegen Musliminnen sind. Für viele waren Modekampagnen ein Zeichen von Fortschritt und Anerkennung. Die wirklich großen „beschei­denen Beeinflusser“ haben Geld und Aufmerksamkeit durch ihre Zusammenarbeit mit großen Marken erhalten. Keine schlechte Leistung. Noch vor zehn Jahren fanden sich wenige Seiten über „Halal-Fashion“ auf Facebook oder Lookbook. Dass heute bedeckte Frauen auf Laufstegen und Plakatwänden zu finden sind, ist etwas Neues. Diese Frauen haben sicherlich was verändert.

Aber etwas anderes veränderte das Spiel ebenfalls: die ökonomische Katas­trophe von 2008. Es ist entscheidend, dass wir der Chronologie folgen. Alexandra Gillespie, ehemalige Gucci-­Vize­präsidentin, merkte an, dass 2009 „bisher das schlimmste Jahr für den Luxussektor war“. Die finanziellen Schwierigkeiten in Folge der Rezession veranlassen Gillespie zu den Worten: „Das ist keine Zeit für Panik, sondern die Marke zu definieren und neu zu definieren.“ Das war genau, was sie taten. Die Mode selbst änderte sich. Und Designhäuser schufen nun Stile und Formen, welche die Märkte des Nahen Ostens und Russlands ansprachen. Ersterer profitierte vom Preisanstieg für Erdöl in 2007 und 2008. Letzterer boomte ebenfalls.

Es war nicht bloß das Geld der Araberinnen, das die Modeindustrie aggressiv den Nahen Osten bearbeiten ließ. Es war auch der gesellschaftliche Kalender seiner Einwohner. Mit schätzungsweise 15-20 Heiraten pro Jahr und privaten Feiern pro Monat ist die Nachfrage nach modischer Kleidung sicherlich höher als beispielsweise in Nordamerika.

Im letzten Jahrzehnt überstieg der Einzelhandel in der arabischen Welt die Märkte von Russland und Asien. Die Industrie nahm das zur Kenntnis. ­Thomas Patrick, Hermes-Generaldirektor teilte Reuters mit, dass der Nahe ­Osten alleine zwischen 2009 und 2011 für 30-35 Prozent der jährlichen Verkäufe von Hermes verantwortlich war. Jeffrey Aronson, der in der Vergangenheit Donna Karen, Oscar de la Renta, Marc Jacobs und Emmanuel Ungaro ­leitete, sagte: „Frauen aus dem Nahen Osten sind unsere führenden Kunden, was sie wahrscheinlich auch bleiben werden.“ Die Mehrheit der Frauen am wohlhabenden Golf sind Muslime. Das führte zur Idee: Was wäre, wenn reiche Musliminnen anfangen, Designer-Abayas zu tragen? Und genau das machte Dolce & Gabbana, als die Firma 2016 ihre Abaya- und Hijab-Kollektion vorstellte. Diese Kollektion wird nun jährlich begierig erwartet.

Die Statistiken sprechen für sich. Und auch die persönliche Erfahrung macht klar, dass jedes große Modehaus heute mindestens einen Oud-Duft in seiner Parfüm-Palette hat. Das geschah alles in exotischer Entfernung. Es war keine Geste in Richtung muslimischer Frauen in Paris oder London, sondern in Anleh­nung an eine entfernte Kultur. Im Gespräch über die Abaya-Kollektion seiner Marke sagte Stefano Gabbana: „Wir dachten über vertraute Bilder des Nahen Ostens nach und verwandelten das in Feinheiten und Stickereien. Beispielsweise waren das warme Farben der sandigen Buchten und der Wüstendünen, die tiefen Farben des Himmels, Gewürzdüfte der Suqs und der arabischen Paläste mit ihren goldenen Kuppen und komplexen Kacheln.“

Ästhetisch sind diese Abayas schön. Gefertigt sind sie aus luxuriösen Materialien und geschmückt mit Blumenmustern oder hellen Farben. Was Gabba­na aber „vertraute Bilder“ nennt, ist offener Orientalismus: Die Darstellung Asiens auf eine stereotype Weise, welche Wirklichkeit übertreibt und verzerrt. Zu noch mehr Kritik führte es, dass die Kollek­tion 2019 durch kein einziges ­arabisches oder muslimisches Model vorgestellt wurde. Und genau hier kamen die Hijab-Influencerinnen ins Spiel.

Na ja, nicht ganz. Hermes hatte es nicht nötig, Instagram auf der Suche nach muslimischen Beeinflusserinnen zu durchkämmen, um einen Kurs fürs ­Binden seiner begehrten hand-gerollten Seidenschals zu produzieren. Aber die schnelllebigere Modeindustrie war glücklich, sie zu verpflichten. Nachdem sich der Einzelhandel Mitte der 2010er normalisierte, wurde klar, dass die Firmen, die Musliminnen außerhalb des Nahen Ostens ins Visier nehmen können, einen Schatz anzapfen könnten. Er soll 2021 ein Volumen von ca. 333 Milliarden erreichen. Um hier zu punkten, mussten diese bezahlbaren Marken eleganter Mode „modebewusste muslimische Frauen in der Form von Bloggerinnen, Designerinnen und Stylistinnen ansprechen, die seit einigen Jahren in den Blickpunkt gerückt sind“. Das sagte Dina Torkia, nach eigener Aussage „Gründerin“ der Bewegung für Hijabi-Mode.

Während der Luxussektor sehr spezifische Musliminnen im Hinterkopf hatte, konnten andere Marken den Markt nicht monolithisch wahrnehmen: Wie eine modebewusste Muslimin aussieht, unterscheidet sich im Oman und Indonesien. Laut dem Pew Research Center sind in der muslimischen Gemeinschaft die Millennials verantwortlich für einen größeren Anteil an der Kaufkraft, da sie Geld häufiger für Mode und Schönheitsprodukte auf eine Weise ausgeben, „die ihre individuelle Identität oder Kreativität ausdrücken soll“.

Mango und Zara waren die ersten. H&M ging weiter, als man 2013 eine Kampagne mit der bekopftuchten Mariah Idrissi bewarb. Der Werbefilm – absichtlich mit der Botschaft, dass „Mode keine Grenze“ kenne – präsentierte auch ­Übergrößen-Models, eine Amputierte, Männer in Röcken und Frauen, die ihre Achselhaare zeigten. Idrissi wurde von H&M über Instagram angeworben und beschrieb die Erfahrung als eine „große Leistung“. Sie ließ bei anderen Möchtegern-Influencerinnen die Hoffnung ­höher schlagen, dass auch sie entdeckt und ihren großen Durchbruch erfahren werden.

Offenkundig war das profitabel für beide Seiten. Aufstrebende Beeinflusserinnen erkannten langsam, dass die begehrten Deals Wirklichkeit wurden. Und Modemarken wurden von Kundinnen belohnt, die sie als „bewusst“ wahrnahmen. Influencerinnen wurden als unaufhaltsam beschrieben und Marken galten als „mutig“, indem sie Modest-Kollektionen schufen. Kaum eine Beschreibung beinhaltete, dass es im wirtschaftlichen Interesse dieser Firmen war, solche Kampagnen überhaupt zu starten.

Mich wundert immer noch der Mangel an Diskussionen um diese muslimischen Beeinflusserinnen. Dabei scheint das ein Fallbeispiel für kapitalistische Übernahme zu sein. Viel wurde darüber geschrieben, wie Feminismus genutzt wurde, um Dinge durch den Gebrauch „echter Frauen“ zu vermarkten. Ebenso wurde Colin Kaepernicks Nike-Deal oft kritisiert, weil Nike sich erneut als gegen das Establishment und Sprachrohr des Widerspruchs darstellte. Nikes eigene Geschichte der Verletzung von Arbeiterrechten ist miserabel. Kaepernick und Nike erhielten einfach nur keinen Freibrief, weil ihre Werbung gefühlsgeladen war und den richtigen Ton traf. Warum wurden muslimische Fashionistas nicht vergleichbar kritisiert? Die Antwort liegt in den sozialen Medien und der Beeinflusser-Kultur selbst.

Der Grund dafür liegt in dem, was die Soziologen Donald Horton und Richard Wohl in den 1950ern als „parasoziale Interaktionen“ bezeichneten. Sie stellten folgende Theorie auf: Wo es die Illusion der Vertrautheit zwischen einem Zuschauer und einer öffentlichen Figur gibt, wird das Verhalten des Publikums beeinflusst. Denn es glaubt nun, dass es eine Bindung zu einer bestimmten öffentlichen Person gibt. Vor dem Aufstieg ­sozialer Medien konnte beobachtet werden, dass sich die Interaktionen im echten ­Leben ändern, wenn Menschen vom Privatleben Prominenter erfahren. Dieses spiegle sich in jenem. Heute ist die Einbildung der Verbundenheit mächtiger, denn ein Anhänger kann ein Posting ­liken, kommentieren oder teilen. So fühlt er sich mit seinem beliebten Influencer verbunden. Wir erhalten erstklassigen Zugang zum Privatleben von Prominenten und Beeinflussern. Mit anderen Worten, das ist parasoziale Interaktion im Schnellgang. Die Authentizität sogenannter Hijabi-Influencerinnen wurde kultiviert, indem sie Inhalte posteten, die nicht nur Mode betreffen. Einblicke in ihre Ehen, Kinder und Familien zusammen mit reality-tv-artigen Interviews und Ratschlägen sind alles Teil dessen, was die erfolgreichsten Beeinflusserinnen tun.

Diese Soziologen der 1950er waren ihrer Zeit voraus. Sie stellten die These auf, dass es bestimmte Bedingungen gibt, die es einem Zuschauer ermöglichen, die Rolle eines Teilnehmer in einer parasozialen Interaktion anzunehmen. Darüber hinaus gibt es gesonderten Bedarf, die Einsamen anzusprechen. Warum? Einsamkeit löst das Bedürfnis nach einem Fremden (hier den Prominenten) aus, um in noch nahbarerer Entfernung zu sein.

Es ist klar, dass viele junge Musliminnen eine Nähe zu Modest-Beeinflusserinnen finden. Sie bekommen genauso viel Zuspruch für ihre Lehrvideos wie für Geständnisse über Sorgen. Ein jüngster Bericht hielt fest, dass Millennials so etwas wie eine „Epidemie der Ein­samkeit“ erfahren. 30 Prozent von ihnen sagen, dass sie sich immer oder häufig einsam fühlen. Musliminnen sind keine Ausnahme bei Gefühlen der Isolation in der eigenen Gesellschaft, Gemeinschaft, Familie oder Ehe. Daher verwundert es nicht, dass sie einige der wichtigen Teilnehmer an virtuellen Wechselwirkungen mit den Influencerinnen sind, denen sie sich am nächsten fühlen.

Für den zeitgenössischen Soziologen William Barylo besteht darin eine ­Gefahr: Parasoziale Interaktionen bedeuten, dass „Leute keine Personen mehr sind, sondern zu Marken werden“. Und alle Marken erleben Wachstum und ­Niedergang. Es gibt Verschiebungen in der Marketingumgebung. Die einen verlieren Marktanteile, die anderen zufallen. Das ist grundlegend und offensichtlich, aber die Zynikerin in mir glaubt, dass sich etwas Weiteres ereignete.

Es mag einfach der Fall sein, dass die Nachfrage nach bekopftuchten Fashionistas nicht mehr da ist; oder zumindest abgenommen hat. Das liegt an einigen Gründen. Erstens, kann das Image des Hijab heute mit wesentlich einfluss­reicheren Frauen verbunden werden, die wohl oder übel einen größeren Raum in der populären Vorstellung ­einnehmen. Beispiele dafür sind die Nobelpreist­rägerin Malala Yousefzai, die Goldmedaillengewinnerin Ibtihaj Muhammad, die Bestsellerautorin ­Tahera Mafi, die Musikerin Sinéad O’Conner, die US-Kongressabgeordnete Ilhan Omar, die Konditorin Nadiya Hussein oder die Comedienne Nadirah Pierre.

Zweitens ist die Industrie nicht mehr so abhängig von Beeinflusserinnen. Der Rat für Islamische Mode und Design (Islamic Fashion and Design Council) wurde 2013 von Alia Khan in New York gegründet. Er arbeitet mit globalen Einzelhändlern bei Marketing und Nachhaltigkeit in der Modest Fashion zusammen. Seine „Pret-A-Cover“-Modewoche fing 2017 an und wurde zu einem Pflichttermin. Wenn es um Verkäufe geht, ist ­Ghizlan Guenez der Antrieb hinter The Modist – einer Verkaufsseite, die als „Net-A-Porter von Modest-Fashion“ beschrieben wurde. Im Juli dieses Jahres fügte man Valentino, Victoria Beckham und Burberry als Anbieter hinzu. The Modist führt nicht-konfessionsgebundene Kleidung, was in sich vielsagend ist. Mus­liminnen sind längst nicht mehr die einzigen Käuferinnen dieses Trends. Für die japanische Marke Uniqlo, die ihr Angebot als „besondere, bescheidene Kollektion“ bezeichnet gibt es keine Erwähnung von Ramadan und Muslimen. Sie zielt auf die größere Bewegung von Frauen ab, bei denen orthodoxe jüdische Gemeinschaften und Mormonen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.

Drittens, ist es nicht nur der Glaube, der die Bewegung für zurückhaltende Mode antreibt. Es ist auch die Industrie selbst. Designerkollektionen und „bedeckter“ Look auf dem roten Teppich sind alles Hinweise darauf, dass der ­gegenwärtige Stand der Mode sich an langen Ärmeln und hochgeschlossenen Nacken erfreut. Vanessa Friedman, Modekritikerin der „New York Times“, beschrieb den bescheidenen Look als Kern der gegenwärtigen Mode. 2017 schrieb sie: „Die tektonischen Platten der Mode haben sich verschoben.“ Und nach einem Blick in ihre eigene Garderobe meinte sie, sie „entdeckte, dass nach vier Jahrzehnten des Glaubens, lange Röcke seien gegen die Frauenbefreiung … Ich habe in den letzten sechs Monaten nicht nur einen knöchellangen Rock erworben, sondern auch zwei Kleider mit Säumen, die ebenfalls meine Füße erreichen (…)“. Selbst Tom Ford (ja, dieser Tom Ford, dessen Werbekampagnen hypersexualisiert und der ein Parfüm kreierte, das nach Kokain und dem Schritt eines Mannes riecht) erklärte mutig: „Mode sollte die Wahrnehmung eines Designers von dem sein, was wir kulturell sind. Und jetzt ist es keine Zeit für sexy Kleider.“

So sehr Kleidung und Bedeckung eine sehr persönliche Sache sind, gibt es in diesem Fall klare Verbindungen zum Markt, der Modeindustrie und Anhäufung von Anhängern. Es ist auch interessant anzumerken, dass die Frauen, die mit Kopftuch in den Mainstream vorgestürmt sind, sehr vorhersagbar für das bekannte Klischee der Befreiung von Tuch als letztes Symbol der Emanzi­pation benutzt wurden. Als Antwort auf Ascia al Faracs jüngstes Video über ihr Ablegen des Hijabs schrieb „Cosmo Middle East“ bevormundend: „Ascia trägt kein Kopftuch mehr und nimmt sich an, wie sie ist…“

Für manche Frauen ist das Ablegen des Tuches eine wahre Befreiung. Und natürlich folgt daraus, dass es, wenn es einen Welttag des Kopftuches gibt, es auch einen Kein-Kopftuch-Welttag geben wird. Auch wenn die Diskussion sich selbst für ein umfassenderes Gespräch eignet, so ist das Gespräch über Influencerinnen und ihre Kultur definitiv an den Markt gebunden. Und dieser Markt hat überhaupt keine Loyalität – am wenigsten gegenüber dem Kopftuch.

Es wird Zeit, die Beeinflusserinnen nicht länger als Freunde, Verbündete oder Sprecherinnen für den Islam zu betrachten. Sie sind Geschäftsfrauen und verkaufen uns eine Marke – ihre Marke. Wir können diese nicht ändern und nach unseren Wünschen umgestalten. Aber wir können sicher sein, dass wir die Macht haben zu entscheiden, ob wir Konsumentinnen sein wollen oder nicht.