,

Wie sollen wir die Zakat wiederbeleben?

Ausgabe 265

Foto: Anes Sabitovic

(iz). Der Gesandte Allahs, möge ­Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Islam ist zu bezeugen, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Muhammad der Gesandte Allahs ist, das Gebet einzurichten, die Zakat zu zahlen, den Ramadan zu fasten und Hadsch zum Hause Allahs zu machen, wenn man dazu in der Lage ist.“ Wie jeder Muslim weiß, beruht unser Din auf fünf Säulen. Sie sind die fundamentalen Handlungen, dieses Dins. Sie machen uns zu Muslimen. Der Prophete, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, beschrieb Islam auf die erwähnte Art und Weise. Der Engel Dschibril fragte: „Wenn ich dies tue, bin ich dann Muslim?“ Der Prophet entgegnete: „Ja!“
Ohne eines dieser Elemente kann es keinen Islam geben. In diesem Fall wäre er wie ein Hülle. Sie müssen praktiziert werden. Nicht nur – wie viele glauben – auf persönlicher Ebene, sondern auch auf gemeinschaftlicher. Wiewohl alle diese Handlungen individuelle sind, bleiben sie doch nicht privat. Ihre Vervollkommnung, aber auch ihr gültiger Abschluss, liegen in der Gegenwart der Gemeinschaft. Das Glaubensbekenntnis (arab. Schahada) muss vor Anderen bezeugt werden. Das Gebet muss eingerichtet und nicht nur verrichtet werden. Das setzt Gemeinschaften, Moscheen und den Gebetsruf (arab. Adhan) voraus. Das Fasten im Ramadan beginnt mit einer bestätigten Sichtung des Mondes durch mindestens zwei Leute. Dieses Sehen des Mondes muss dann durch die Führung an die Leute übermittelt werden. Die Hadsch ist nicht nur eine individuelle, persönliche Reise, die jeder unternehmen kann. Sie ist auch das größte Treffen der Menschheit zu irgendeiner Zeit an irgendeinem Ort. Kein Ereignis könnte gemeinschaftlicher sein als das.
All diese „Säulen“ scheinen trotz aller Differenzen in dieser Zeit in Ordnung zu sein. Alle Muslime sagen die Schahada. Es gibt mehr Moscheen und Orte für das Gebet als jemals zuvor in der Welt. Und sie sind oft sehr gut besucht. Und niemals haben so viele Leute wie heute versucht, auf die Hadsch zu gehen. Soweit es den Ramadan betrifft, ist es selten, einem nicht-fastenden Muslim zu begegnen. Aus dem Gesagten geht scheinbar hervor, dass der Din in einem feinen Zustand und bei guter Gesundheit ist.
Sie werden erkannt haben, dass ich nur vier Pfeiler des Islam nannte. Und einer von ihnen fehlt. Dieser ist die Zakat. Obschon viele glauben, dass es blendend um die Zakat bestellt sei. Schließlich gebe es doch unzählige Organisationen die sie einsammelten und verteilten. Diese Stimmen sind im Unrecht.
In der gegenwärtigen Ära mangelt es nicht nur an der wahren Zakat. Sie fehlt beinahe vollkommen. Viele kennen nicht mehr die fundamentalen Regeln, die ihr zugeordnet sind. Hiermit meine ich nicht Details wie die Höhen des Nisab oder die Besitzarten, auf die sie erhoben wird. Nein, die absoluten Grundlagen: Auf was sie gezahlt wird, wer sie einsammeln und an wen sie verteilt werden darf.
Vor ihren Grundlagen muss ihre Wichtigkeit erkannt werden, denn in den Augen vieler Leute ist sie an den Rand gedrängt worden. Das liegt daran, dass es sich bei ihr nicht wirklich um einen Akt der Anbetung (arab. Ibada) handelt. Für solche Leute ist die Zakat mehr ein Werkzeug für sozialen Zusammenhalt und für Wohlfahrt. Sie behandeln die Zakat als bloße Wohltätigkeit oder als eine „Steuer“.
Zakat fehlt nicht nur in der Praxis, sondern ist auch in der Wahrnehmung vieler vom Islam abwesend. Fastet oder betet jemand nicht, gilt das bei ihnen als am Rande des Islam befindlich. Zahlt jemand aber seine Zakat nicht, zucken viele mit den Schultern, als handle es sich dabei um keine große Sache. Das liegt an der modernistischen Tendenz, Islam auf „Religion“ zu reduzieren sowie an dem Missverständnis, Ibadat und Mu’amalat als zwei komplett verschiedene Kategorien zu betrachten. Da die Zakat von vielen nicht als Anbetung gesehen wird, wird ihr nicht der gleiche Grad an religiöser Aufmerksamkeit zuteil.
Sie ist aber eine Handlung der Anbetung! Genau wie es das Gebet ist. Sie ist ein Recht (arab. Haqq), das Allah gebührt. Anbetung nicht bloß mit Worten und Bewegung, sondern mit allem, was wir haben und besitzen. Allah sagt im Qur’an: „Allah hat von den Gläubigen ihr Selbst und ihren Wohlstand im Austausch für den Garten erworben.“ (At-Tauba, 111)
Sowohl unser Selbst als auch unser Eigentum können der Anlass für unser Eintreten in den Garten sein. Dieser angebliche Unterschied zwischen Ibada und Mu’amalat existiert nicht, denn für den wahren Gläubigen (arab. Mumin) gibt es keine Ibada ohne Mu’amalat und keine Mu’amalat ohne Ibada. Sie sind untrennbar miteinander verbunden.
Unser ganzes Leben ist eine Gelegenheit zur Anbetung. Und mit jeder ihrer Handlungen beschäftigen wir uns mit Aspekten der Schöpfung unsere Herrn. Dieser Din ist keine Religion sondern eine Lebensweise. Nicht etwas, das wir unserem Leben hinzufügen, damit es wertvoller wird. Er ist der Weg, auf dem wir durch das Leben gehen. Und Rechtleitung kommt von unseren Herrn. Das gilt auch für jene Lebensbereiche, die uns noch so mondän erscheinen mögen: Ehe, Geschäft, Handel etc. Sie alle sind Möglichkeiten, sich unserem Herrn anzunähern und Wissen von Ihm zu steigern.
Zakat ist eine Brücke zwischen beiden, um uns besser auf diesem Weg zu helfen. Sie gilt als Ibada, aber gehört klar auch zu den Mu’amalat. Das gesamte Buch Allahs hindurch wird sie zusammen mit dem Gebet (arab. Salat) erwähnt, hat aber gleichzeitig genauso viel mit Geschäft sowie der Aneignung und Verteilung von Eigentum zu tun. Die Zakat ist der Weg zur Reinigung unseres Eigentums und der Schlüssel zur Annahme unserer Anbetung. Ibn ’Abbas, möge Allah mit ihm zufrieden sein, sagte: „Allah sagt: ‘Richtet das Gebet ein und zahlt die Zakat.’ Wenn jemand das Gebet einrichtet, ohne die Zakat zu bezahlen, von dem wird Allah das Gebet nicht annehmen.“
Zakat ist der Schlüssel zum Wohlergehen jedes Individuums und jeder Gruppe von Muslimen. Denn sie ist der Stoff, der beide verbindet. Ihre Abwesenheit ist der Hauptgrund für unsere heutige Schwäche der Umma. Wir müssen sie in all ihrer Majestät wiedererlangen. Viele Leute sind wegen vor Furcht vor Armut und aus Angst vor einem Verlust ihrer Versorgung nachlässig im Umgang mit ihrer Zakat. Sie zahlen bereits so hohe Steuern, viele Rechnungen und betrachten sie als eine zusätzliche Abgabe, die ihnen aufgebürdet wird.
Diese Einstellung offenbart nicht nur ihren Mangel an Verständnis von der Zakat, sondern auch ein Fehlen von Wissen von Wohlstand und woher er kommt. Diese Menschen betrachten ihren Besitz als den ihrigen. Ihr Recht. Die Früchte ihrer beträchtlichen Anstrengungen. Daher neiden sie alles, was von ihnen genommen wird. Dabei vergessen solche Menschen, dass alles Allah gehört und dass jeder Teil ihres Besitzes Sein Recht ist. Sollte Er einen anderen Zweck dafür vorsehen, wird Er es ihnen hinweg nehmen.
Allah sagt im Qur’an, alles in den Himmeln und auf der Erde gehöre Ihm. Und obwohl dies so ist, verlangt Allah, der Erhabene, von uns nur den kleinsten Anteil: 2,5 Prozent. Und nur auf den angehäuften Besitz, der ein Jahr lang unverbraucht vorhanden ist. Und auch dann erst, wenn ein Mindestmaß an Eigentum (arab. Nisab) erreicht ist. Im Falle von Gold sind dies 85 Gramm. Das Nehmen dieses Wohlstands verringert und verarmt uns nicht, sondern führt vielmehr zu einem Wachstum bei uns. Die Zakat reinigt unseren Besitz, worauf auch ihr Name schließen lässt. Wohlstand ist ein felsharter Diamant. Diese Abgabe schneidet und poliert ihn, bis er zu einem glänzenden Juwel wird, welches tatsächlich Wert besitzt.
Allah, der Erhabene, verspricht, dass der Besitz einer Person niemals durch Sadaqa verringert werde. Händigen wir die Zakat über, verringert sich unser Eigentum dadurch nicht. Im Gegensatz, es füllt sich an mit Segen und wächst weiter. ­Allah sagt im Qur’an: „Allah zerschlägt den Wucher vollkommen, aber lässt Sadaqa an Wert wachsen.“ (Al-Baqara. 276
Das liegt daran, weil der Wucher (arab. Riba) zum Horden und zur Stagnation von Wohlstand führt. Zakat hingegen ermutigt zur Geldzirkulation und zu seiner Verwendung. Zirkuliert es nur in einem kleinen Segment der Gesellschaft, dann verkümmert der Rest. Wenn dies geschieht, wird es nicht Gewinner und Verlierer, sondern nur Verlierer geben. Die Gesellschaften aber, in denen die Zakat eingerichtet und entrichtet wird, können sich vor den Stürmen wappnen – für diese und die nächste Welt.
Weil die Zakat oft nur als eine Art Pflichtspende behandelt wird, sammeln sie zumeist die Spendenorganisationen ein. Der Unterschied zwischen ihr und freiwilliger Großzügigkeit ist oft nur eine Frage des Ortes, wo man auf dem Spendenformular sein Kreuz macht. Diese Hilfsorganisationen nutzen die Zakat dann, um ihre Projekte zu finanzieren. Die meisten davon sind sehr lobenswert, entsprechen aber nicht den Empfängerkategorien der Zakat.  Der Bau von Moscheen, die Einrichtung muslimischer Schulen der der Betrieb von Waisenhäusern oder der Kauf von Lebensmitteln, Medikamenten oder Decken für Konflikt- und Armutszonen sind keine Anwendungsgebiete der Zakat.
Sie muss lokal verteilt werden, bevor sie weiter entfernt geschickt wird. Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, entsandte seinen Gefährten Mu’adh ibn Dschabal in den Jemen. Dort sollte dieser die Einsammlung der Zakat koordinieren. Mu’adh ibn Dschabal sollte die Zakat von den Wohlhabenden des Jemens nehmen und sie den Armen des gleichen Landes geben. Mit anderen Worten, die Zakat wurde am gleichen Ort verteilt, an dem sie genommen wurde. Erst, wenn es keine Empfänger mehr dort gibt, kann sie in benachbarte Regionen, Länder etc. gegeben werden.
Allah erklärt uns im Qur’an: „Wahrlich, die Sadaqa (Zakat in diesem Kontext) ist für die Armen, die Mittellosen, diejenigen, die mit ihr arbeiten (d.h. sie einsammeln), für diejenigen, deren Herzen nähergebracht werden sollen, und für die Freilassung von Sklaven, für die Verschuldeten, für die auf dem Wege Allahs und für die Reisenden (die ohne Mittel an einem fremden Ort gestrandet sind). Das ist eine Verpflichtung von Allah.“ (At-Tauba)
Allah, der Erhabene, erwähnt hier acht Kategorien von Empfängern. Das entscheidende Wort hier ist „Wahrlich…“, denn nur die Kategorien die folgend erwähnt werden, können Zakat überhaupt erhalten. Das Wort „für“ weist darauf hin, dass es in ihren Besitz übergeben werden muss und nicht für Projekte in ihrem Sinne benutzt werden kann, solange sie dem nicht zugestimmt haben. Das ist die Übereinkunft der vier Schulen. Ein Konsens kann nicht durch einen Analogieschluss (arab. Qijjas) aufgehoben werden, egal wie logisch dieser erscheinen mag.
Schließlich sind die humanitären Organisationen, welche die Zakat einsammeln, selbst ernannt. Niemand verlieh ihnen das Recht, sie zu nehmen. Diejenigen, von denen Allah in dem Vers spricht, welche die Zakat nehmen, sind immer Personen, die vom Bait al-Mal, das heißt, der Führung der Muslime, bestimmt werden. Solche Organisationen sind keine gültigen Empfänger für Zakat und können sie eigentlich nicht empfangen. Auch wenn sie gewiss mit guter ­Absicht an die Sache herangehen, wäre es besser, bemühten sie sich um ein ­System, bei der die Zakat angemessen und korrekt praktiziert werden würde
Zakat ist eine Funktion von Führung und Autorität. Sie wird nicht einfach gegeben, sondern genommen. In der Sura At-Tauba sagt Allah: „Nimm Sadaqa von ihrem Besitz, um sie zu reinigen und zu säubern.“ Nach Ansicht der Qur’ankommentatoren bezieht sich Sadaqa eindeutig auf Zakat. Hier wird der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, dezidiert als Führer der Muslime angesprochen und nicht als göttlich bestimmter Gesandter.
Der einzige Zeitpunkt an dem die Zakat individuell gesammelt und verteilt werden kann, ist in dem Fall, wenn die Führung ungerecht ist und ihr die Zakat nicht anvertraut werden kann. Besteht aber ein funktionierendes und gerechtes System zur Sammlung und Verteilung, dann gilt das individuelle Handeln als bloße freiwillige Spende und wird nicht auf die Zakat angerechnet. Darin sind sich die Gelehrten aller vier Schulen einig. An dieser Führung fehlt es offenkundig in unserer Zeit.
Das soll uns aber nicht daran hindern, die Zakat korrekt zu erheben und zu verteilen. Islam begann mit einer einzigen lokalen Gemeinschaft. Das ist unser Vorbild, an dem wir uns auch heute orientieren können. Die Wiederbelebung der Zakat gelingt nicht durch globale Kalifatsideen, sondern durch die Revitalisierung der Lebensmuster, aus denen diese große Gemeinschaft gebildet wurde.