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Wir brauchen lebendige Stiftungen

Ausgabe 302

Foto: ICNA Relief, Facebook

In der gesamten islamischen Geschichte wechselte die Institution der Stiftung (arab. waqf) ihre Form mit den geänderten materiellen und historischen Umständen der Gemeinschaft, während sie ihre Substanz als spirituellen Imperativ bewahren konnte. Was sind einige der Wurzeln von Armut in der heutigen Welt und wie könnten die Auqaf wiederbelebt werden, um ihre Ursachen zu erkennen und zu verändern?

Diese Institution hatte ihren Ursprung im Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, und wurzelt in der spirituellen Verpflichtung des wohltätigen Gebens. Das Abgeben eines Teils des eigenen Besitzes ist nicht nur eine religiöse Pflicht (arab. zakat), sondern erklingt zusätzlich auf der tieferen Ebene der Seele, indem sie die Reinigung des Herzens und die Verschönerung des eigenen Charakters ermöglicht. Freundliche Worte, Hilfsbereitschaft, das Entfernen des Mülls von der Straße, Freundlichkeit gegenüber dem Ehepartner, Speisung der Armen und auch die Erinnerung an Allah zählen zu den unzähligen Handlungen, die im Islam als wohltätig gelten.

Laut dem göttlichen Versprechen erhöht der Austausch der materiellen Segnungen die spirituellen. Die Prophetengefährten nahmen das sehr ernst. Nach Beratung mit und Rechtleitung durch den Gesandten Allahs, Heil und Segen auf ihn, schufen sie Praktiken, die spätere Gelehrte als Waqf-Stiftungen einstuften. Es begann mit Abu Talha und seiner ­Gattin, die eine Plantage mit über 600 Dattelpalmen für den Nutzen der Armen in Medina stifteten. Das spirituelle Weltverständnis im Herzen der Auqaf – oder ihr ontologischer Grund – steigern das Verlangen, Allahs Wohlgefallen durch Dienste an Seinen Geschöpfen zu steigern und das innere Selbst von Gier und ­anderen Untugenden zu reinigen.

Während die Auqaf historisch unzähligen Zwecken wie Erziehung, Gesundheit und anderen Bedürfnissen dienten, können sie heute auch hilfreich sein bei der Lösung struktureller Fragen der Armut. Ein Beispiel dafür ist die schwierige Lage von Landarbeitern in aller Welt, ein anderes die rassistisch begründeten Einkommensunterschiede in den Vereinigten Staaten in ihren sozialen und historischen Dimensionen.

Ich bin der Ansicht, dass spezifische institutionelle Lösungen für die durch diese Probleme verursachte Armut durch gemeinnützige Stiftungen finanziert werden können. Auf diese Weise können Muslime die Auqaf wiederbeleben, um auf die spezifischen Bedürfnisse unserer Zeit einzugehen. Selbst wenn strukturelle Ursachen für Armut durch komplexe Netzwerke von globalem Kapital verursacht werden, können lokale Stiftungen transformative Effekte mit weitreichenden Auswirkungen haben.

Wie neuere Forschungen zeigen, lässt sich das islamische Stiftungswesen in fünf Stufen verstehen. Das sind Perioden von Gründung, Wachstum, Reifung, Transformation und Verfall. Diese Genealogie offenbart, dass die Auqaf von zentraler Bedeutung für die islamische Zivilisation waren und mit ihren angebotenen Dienstleistungen enorm vielfältig wurden. Klar wurde auch, dass Kolonisierung mus­limischer Länder zusammen mit der postkolonialen Verstaatlichung zur Auslöschung dieser Institution führten.

Auf ihrem Höhepunkt stellte sie ein glaubwürdiges Mittel dar, um den Eigentümern im Gegenzug für soziale Dienste wirtschaftliche Sicherheit zu geben. Als solches waren sie ein wichtiges Werkzeug zur Bereitstellung des öffentlichen Gutes durch lokale Körperschaften. Um ein Waqf sein zu können, muss die wohltätige Stiftung die folgenden Anforderungen erfüllen: 1.) dass der Stifter oder ein folgender Beauftragter das Kapital bzw. das Stiftungsvermögen gibt und den Ertrag für wohltätige Zwecke vergibt. 2.) Dass die Stiftung spezifisch und rechtlich nicht vermarktet werden kann (das heißt, dass das Vermögen nicht länger „auf dem Markt“ ist). 3.) Dass ihr eigentlicher Zweck wohltätig ist, wobei die Empfängergruppe ausdrücklich genannt werden muss.

In der Lebenszeit des Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, bestand der erste Waqf aus 600 Dattelpalmen, deren Erträge die Armen Medinas speisten. Während der Kreuzzüge kümmerten sich die Stiftungen um die Verheerungen des Krieges wie Armenspeisung, Obdach sowie der Pflege der Mittellosen, Verletzten und Vertriebenen. Im Jerusalem des 16. Jahrhunderts wurde der Haseki Sultan-Komplex durch die Gattin von Sultan Sulaiman dem Gesetzgeber gestiftet. Zu ihrem Vermögen gehörten in Palästina und dem Libanon 26 Dörfer sowie Läden, ein überdachter Bazar, zwei Seifenmanufakturen, 11 Getreidemühlen und zwei Badehäuser. Jahrhundertelang diente das erzeugte Einkommen durch diese Geschäfte der Aufrechterhaltung einer Moschee, einer ziemlich großen Moschee sowie zwei Herbergen für Reisende und Pilger. Zum Waqf, der in Aleppo im 18. Jahrhundert von Hadsch Musa Amiri gestiftet wurde, zehn Häuser, 67 Läden, vier Herbergen für Reisende, zwei Lager, mehrere Färbereien und Badehäuser, drei Bäckereien, acht Obstgärten, drei Gärten sowie landwirtschaftliche Anbauflächen.

Das moralisch rechenschaftspflichtige, soziale Ethos, das die Vermögenseigner verpflichtete, die Lage der weniger Glücklichen zu heben, verfiel in den Augen von Khalil Abdurrashid ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Ersten Weltkrieg hindurch. Insbesondere war das die Folge der Normalisierung eines zinsbasierten Geldverleihs. Die europäischen Kolonialstaaten haben das Waqf-System im Allgemeinen nicht verstanden und durch wirtschaftliche Umstrukturierungen die Praxis der Stiftungen bis zur Unkenntlichkeit gestört.

In ihrer Absicht zur Kodifizierung und fixen Deutungen untergruben Kolonialverwalter häufig die traditionell weibliche Sachwalterschaft zu Gunsten einer ausschließlich männlichen. Von den Zentren abgelegene koloniale Außenposten sahen relativ langlebigere Auqaf und weibliche Führung. Die Mittelpunkte der Kolonialherrschaft erfuhren eine unterbrochene und entwurzelte Geschichte dieser traditionellen Einrichtung.

Die andere Ursache der Verschlechterung war die Verstaatlichung der Auqaf. Sie gingen im Laufe der Zeit bankrott und verloren ihr Betriebskapital. Postkoloniale muslimische Regierungen waren nicht in der Lage, den Bedarf an sozialen Diensten auf dem Niveau zu decken, das zuvor durch Auqaf gewährleistet wurde. Das führte zu zunehmender Verarmung und allgemeiner Vernachlässigung. So entsprach zum Ende des 18. Jahrhunderts das kombinierte Vermögen der ca. 20.000 funktionierenden osmanischen Stiftungen einem Drittel der gesamten osmanischen Staatseinnahmen. Sowohl in geografischer Hinsicht unter Berücksichtigung des osmanischen Territoriums als auch steuerlich in Bezug auf den Gesamtprozentsatz der Einnahmen stellten diese Einnahmen eine gigantische Menge dar. Wenn wir uns die Zahlen des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts für die Türkei, Ägypten, den Iran, Algerien, Tunesien und Griechenland ansehen, sehen wir, dass ein erheblicher Prozentsatz des gesamten Ackerlandes, des kultivierten Bodens oder der gesamten Landfläche den Stiftungen gehörte.

Heute, im einundzwanzigsten Jahrhundert, stellen wir fest, dass es weltweit kein einziges Erklärungsmodell der islamischen Wirtschaft gibt, das Staaten mit muslimischer Mehrheit anwenden. Basierend auf den Hauptfaktoren Ressourcen, Demografie, Wirtschaftsgeschichte und Politik gelangen mehrheitlich muslimische Länder zu einer nationalen Infrastruktur zur Verteilung der verpflichtenden Zakat. Was das wohltätige Spenden in muslimischen Gemeinschaften betrifft, ist das Ausmaß unklar. Aber ein Bericht des Centers for Strategic and International Studies aus dem Jahre 2004 schätzte, dass diese weltweit zwischen 250 Milliarden und einer Billionen US-Dollars jährlich lagen.

Wir wissen, dass unsere zivilisatorische Geschichte in den Auqaf eine robuste wohltätige Einrichtung hat. Wir wissen auch, dass im 19. und 20. Jahrhundert koloniale und postkoloniale, nationalistische Kräfte, die durch politische und wirtschaftliche Interessen motiviert waren, den Waqf systematisch und strukturell demontierten. Als Folge waren die Auqaf nicht länger Teil der lebendigen Geschichte muslimischer Gebiete, sondern wurden abgewertet.

Mit Blick auf eine mögliche Zukunft frage ich: Wie kann der Waqf heute auf eine Weise wiederbelebt werden, die für die strukturelle Armut unserer Gesellschaft relevant und für die ethischen Impulse des islamischen Gebens authentisch ist?

Es ist unerlässlich, Armut relational oder mehrdimensional als eine Reihe von Erfahrungen zu verstehen. Armut lässt sich am besten anhand der zugrunde ­liegenden Muster menschlicher Beziehungen und der sozialen Institutionen verstehen, die diese Beziehungen organisieren. An diesem Punkt kann das Stiftungswesen entscheidend sein, insofern es einen spezifischen, sozialen und organisierten Bestand an Beziehungen definiert. Weltweit lebt heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung in Armut – von weniger als zwei US-Dollars täglich. Zwei Milliarden Menschen fehlt es an den nötigen Mineralien. Eine Milliarde hat keinen Zugang zu sauberem Wasser und 840 Millionen Menschen sind unterernährt und hungrig. Es ist eine bittere Ironie, dass drei Viertel der weltweit unterernährten Menschen in ländlichen Gebieten leben, wo sie die Produzenten und Verkäufer der Lebensmittel sind, die wir essen.

Was sind aber die Wurzeln der heutigen Armut. Diese Frage kann auf drei Wegen erklärt werden: 1.) spirituelle Verarmung, 2.) strukturelle Ausbeutung und 3.) kulturelle Normen (wie Konsumerismus und Verschwendung).

Der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Die obere Hand ist besser als die untere.“ Das heißt, die gebende Hand ist besser als die empfangende. Bezüglich dieses Hadithes sollten wir Muslime Mecha­nismen etablieren, wie unsere Gemeinschaften zu Händen werden können, die geben.

Neben der Wiederbelebung des Waqf als zentralem Mechanismus in der muslimischen Gesellschaft, der den spirituellen Grund des Gebens mit den konkreten Erfordernissen der sozialen Wohlfahrt vereint, würden solche Maßnahmen eine verlorene Sunna erneuern. Wirtschaftspartnerschaften zwischen muslimischen Gemeinschaften durch Waqf-Fonds könnten möglicherweise die schöne und notwendige Verwandtschaft von „Helfern“ (arab. ansar) und „Auswanderern“ (arab. muhadschirun) wiederbeleben, die der Prophet Muhammad aufgebaut hat, denn er sah, dass seine Gemeinde in ­Medina in ihrer Stabilität und Ressourcenbasis gespalten war.

Es gibt unzählige Eingriffsmöglich­keiten, an denen Muslime strukturelle Ursachen für Armut identifizieren und Waqf-Institute hierfür entwickeln können. Zum Beispiel wurden Tierschutzgebiete durch Auqaf der muslimischen Geschichte gesichert. Die Möglichkeiten sind unendlich, wenn wir das anwenden, was John Paul Lederach „moralisches Vorstellungsvermögen“ nannte. Für ihn ist es „das einzige, was unserer Spezies einzigartig geschenkt hat, das wir aber nur selten verstanden oder mobilisiert haben“.

Wir sollten uns beeilen, die Hindernisse der Zeit und der Ignoranz aus dem Weg zu räumen, welche im reichen zivilisatorischen Brunnen der Stiftungen hinterlassen wurden, um diese durch unsere moralische Imagination zur Lösung der strukturellen Ursachen der Armut in ­unserer Welt anzuwenden.

Und Allah weiß es am besten.