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„Wir dürfen uns nicht auf ein Modell versteifen“

Ausgabe 284

Foto: Freepik

(iz). Deutschlands Muslime haben in ihrer Lebenswirklichkeit längst das Stadium der Improvisation und der nur kurzzeitigen Präsenz hinter sich gelassen. Fraglich bleibt, ob das bisher dominante Vereinsrecht geeignet ist, den Aufbau einer dynamischen, muslimischen Gemeinschaft und Zivilgesellschaft zu befördern. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Frage nach der Ausbildung von Imamen in Deutschland, die bisher nur in Relation zum Staat diskutiert wird.
Hierzu sprachen wir mit dem Juristen, Consultant und Medienberater Engin Karahan. Karahan betreibt eine spezialisierte Agentur in Köln, in der er unter anderem muslimische Gemeinden bei Strukturfragen berät. Er sieht im Stiftungswesen  Ansätze, die zukunftsweisend für die Muslime in Deutschland sein können.
Islamische Zeitung: Lieber Engin Karahan, sind die jetzigen Strukturen der Selbstorganisation von Muslimen im Rahmen des Vereinsrechts eigentlich den Herausforderungen von Muslimen und den Zeitbedingungen angemessen?
Engin Karahan: Ausreichend sind sie meiner Meinung nach nicht. Hierbei muss man bedenken, dass diese Organisationsformen nie auf Dauer angelegt waren. Die aktuellen Strukturen und Organisationen sind nicht zielgerichtet entstanden. In der Gründungszeit der ersten Moscheegemeinden hat sich niemand Gedanken darüber gemacht, welche Strukturen das Ganze haben sollte, damit man Religionsgemeinschaft sein kann.
Diese Aspekte sind zu Beginn nicht bedacht worden. Hier handelte es sich um die Frage von Kapazitäten. Man hat eine Struktur gebraucht, um ein Mindestmaß an Dienstleistungen wie den Aufbau einer Moscheegemeinde anbieten zu können. Anfänglich ging es um den Fakt, dass Vermieter möglicher Gebetsräumlichkeiten keine Verträge mit Personenverbänden mehreren Personen abschließen wollten. Muslime der ersten Generation sind oft über die Vermieter darauf aufmerksam gemacht worden, dass man für die Anmietung einer Immobilie einen Verein gründen kann.
Was wir aktuell haben, ist nie geplant und – meiner Meinung nach – nie richtig durchdacht worden. Wir haben es hier mit der Folge von Notwendigkeiten zu tun. Mittlerweile sind wir im fünften Jahrzehnt nach der Gründung erster Moscheegemeinden. Da müssten wir uns Gedanken über die Art und Weise machen, wie wir strukturell als muslimische Community organisiert sind, und wie das zukunftsfähig sein kann. In dem einen oder anderen Kontext brauchen wir ein prinzipielles Nachdenken, ob diese Strukturen nicht komplett überarbeitet werden müssen.
Die Strukturen bestehender Moscheegemeinden dürften meiner Meinung nach nicht zur Disposition stehen. Hier wird eine gewisse Konsolidierung eintreten. Es könnte sein, dass sich kleinere Gemeinde aufgrund wachsender Herausforderungen zusammenschließen. Mit Ausnahme von Ostdeutschland dürften auch nicht mehr viele, neue hinzukommen. Es zeigt sich in steigendem Maße, dass für viele neue Notwendigkeiten der letzten 10-20 Jahre die bestehenden Strukturen nicht ausreichen.
Islamische Zeitung: Was wären denn konkrete Negativwirkungen, die vom Vereinsrecht ausgehen? Hat die Entscheidung, die ja eher eine improvisierte war, für dieses Modell die heutigen Gegebenheiten die heutige Lage mitgeprägt?
Engin Karahan: Ich würde lieber mit dem Positiven anfangen. Diese Organisationsform hat die Möglichkeit zur Einbindung einer breiteren Schicht von Akteuren vergrößert – durch die Vereinsstruktur, Mitgliedschaften usw. Der Zugang zur Mitarbeit war grundsätzlich gewährleistet. Es sei dahingestellt, dass die eine oder andere Gemeinde das besser beziehungsweise schlechter genutzt hat. Im Unterschied zu den Herkunftsländern ist die Struktur der muslimischen Selbstorganisation viel zivilgesellschaftlicher. Mit Ausnahme der DITIB – seit Beginn der 1980er Jahre – gibt es hier keine staatliche Behörde, die Religion „von oben herab“ organisiert. Letztendlich musste vieles von der Basis her organisiert werden.
Dies brachte auch Probleme mit sich. Das Geschenk der islamischen Ehrenamtlichkeit, das Handeln um Allahs willen (arab. fisabilillah), ist nicht zu unterschätzen. Problematisch wurde es, dass es dann dabei geblieben ist. Die personelle Fluktuation war sehr erheblich und es stellt sich die Frage, ob und wie sich geeignetes Personal halten lässt. Hinzukommt die Schwierigkeit, dass viele Aufgaben rein ehrenamtlich nicht mehr lösbar sind. Das gilt insbesondere dann, wenn man den Anspruch hat, Religionsgemeinschaft zu sein, und gesellschaftlich eine Rolle spielen will. Hier kommen Herausforderungen und Verpflichtungen auf die Gemeinschaften zu, die sich in diesem Modell nicht mehr lösen lassen. Das Erarbeiten und Umsetzen von Konzepten und Projekten lässt sich nicht „nebenher“ nach einer Arbeitsschicht bewältigen. Dafür ist qualifiziertes Personal nötig, das sich auf solche Aspekte fokussieren kann.
Des Weiteren konnte im bisherigen Modell nicht immer gewährleistet werden, dass an den entscheidenden Stellen fähige Personen aktiv sind. Wie in jeder Struktur geht es immer auch um Machtfragen und Interessengruppen. Letztendlich ist der Anspruch, die Fähigsten und die Besten an die Schlüsselstellen zu setzen, von der Beachtung Rücksichtnahme auf dasder eigenen Klientel überdeckt worden.
Islamische Zeitung: In dem vereinsrechtlichen Modell sind die Gelehrten und Imame, schon durch den Fakt ihrer finanziellen Anstellung, einer Kontrolle unterlegen. Ist das nicht ein weiteres Problem dieser Organisationsform?
Engin Karahan: Ich würde sagen, dass dieses Abhängigkeitsverhältnis für die meisten Imame nichts Neues gewesen ist. Im türkischen Kontext sind sie viele ja Staatsbeamte. Sie In der Türkei haben sie bisher nichts anderes als diese Situation kennengelernt. Was sie manchmal in gewissen Zusammenhängen verstört, ist, dass ihre Abhängigkeit gegenüber Vorstand aus „Laien“ besteht. Ich habe das immer wieder von Imamen gehört, die hier ihre Zeit verbracht hatten und dann in die Türkei zurückkehrten. Sie verspüren eine gewisse Irritation, dass sie einen „Vorgesetzten“ hätten, der „bei Ford am Band“ stünde, und meine, ihnen Vorgaben machen zu können. Ich habe diese Irritation eher als befremdend wahrgenommen, denn diese geschmähten Leute waren ja am Aufbau der Strukturen beteiligt.
Wer hier zwei oder vier Jahre einer Moschee als Imam zugeteilt wird, hat in der Regel keine Ahnung davon, was um ihn herum stattfindet. Auf der Ebene der Imame hat das nicht unbedingt zu einem gesunden Verhältnis mit der Gemeinschaft geführt. Das ist einer der Bereiche, bei dem Diskussionsbedarf besteht. Eine nötige Aufarbeitung findet derzeit nicht statt. Vielmehr nehmen beide Seiten diese Verhältnisse hin. Das kann natürlich umschlagen, wenn Imame in Führungspositionen kommen, was dazu führen kann, dass mehrheitlich nur dem religiösen Personal getraut wird, Funktionen zu übernehmen und die bisherigen „Laien“ immer weniger Leitungs- und Mitsprachemöglichkeiten bekommen.
Islamische Zeitung: In anderen westlichen Ländern, mit ähnlichem Aufbau muslimischer Gemeinschaften durch Einwanderung, gibt es eine deutlich stärkere Suche nach neuen Organisationsformen wie dem Stiftungsmodell. Im Vergleich gibt es in Deutschland nur ganz wenige muslimische Stiftungen. Woher kommt das?
Engin Karahan: Das liegt einerseits an der mangelnden Vertrautheit mit diesem Modell, obwohl es in der muslimischen Geschichte ein starkes Fundament hat. Die hier lebenden Muslime haben kaum einen Bezug dazu und Erfahrung mit ihm. Andererseits bedeutet das Stiftungswesen eine andere Art von Arbeit und Vereinigung.
Im Verein werden Menschen zusammengebracht. Hier kommen die Mitglieder zusammen, die im Kontext eines Ideals eine gemeinsame, institutionelle Struktur der Arbeit finden. In einer Stiftung ist es das Stiftungskapital, um das herum sich alles organisiert und strukturiert. Hier unterscheiden sich Arbeitsweisen, die Rechenschaftspflichten sowie die Verantwortung. Es stellt sich auch die Frage der Legitimation.
Islamische Zeitung: Es gibt doch im deutschen Stiftungsrecht Mechanismen, die eine unabhängige Kontrolle gewährleisten .
Engin Karahan: Diese ergibt sich aus der Gestaltung der Stiftung. Was ich meinte, ist der Wesensunterschied zwischen dem Aufbau beider Institutionen – die finanzielle Basis bei den Stiftungen und die personelle bei Vereinen. Ich denke, die Unkenntnis beziehungsweise die fehlenden Erfahrungen bezüglich der Stiftungen ergeben sich auch aus Befürchtungen vor einem Kontrollverlust. Das gestiftete Vermögen steht einer Institution dann nicht mehr direkt zur Verfügung, sondern muss es in den Dienst des Siftungszweckes stellen. Das Binden von Finanzmitteln für einen Zweck dürfte den meisten Akteuren ein bisschen fremd vorkommen. Bei einem Verein hingegen kann ein Vorstand weitgehend frei über den Einsatz des vorliegenden Vermögens bestimmen. Das kann ein Stiftungsvorstand nicht nur im Rahmen des Stiftungswillen.
Prinzipiell bin ich bei der Frage zur weiteren Institutionalisierung der Muslime in Deutschland überzeugt, dass wir uns nicht auf ein Modell versteifen können. Wir müssen eher schauen, ob sich nicht gewisse Mischformen entwickeln lassen. Für manche Zwecke und Absichten sind Stiftungen das probate Mittel. Ein konkretes Beispiel dafür ist die Imamausbildung. Wenn es darum geht, für spezifische Aufgaben feste Strukturen zu schaffen und zu gewährleisten, die von der Willkür eines Vorstandswechsels befreit sind, sind sie die richtige Struktur. Es gibt spezifische Aufgaben, die vor einem Personal- und Richtungswechsel geschützt werden sollten.
Islamische Zeitung: Ist das Stiftungswesen nicht ebenso ein Modell für etablierte Moscheegemeinden, die heute längst Einkünfte durch eigene Immobilien generieren?
Engin Karahan: Auf der Gemeindeebene ist es meiner Meinung Abwägungssache. Der Unterschied zwischen dem Vereinsleben und dem Stiftungsleben besteht in der Motivation von Menschen, sich in dieses einzubringen. Gerade bei der Stiftung muss man dies nicht unbedingt tun, weil es eine finanzielle Ausstattung gibt, oder geben sollte, die unabhängig davon den Stiftungszweck gewährleistet, ob jemand diese Institution unterstützt. Es scheint mir schwierig zu sein, über diesen Weg das Gemeindeleben aktiv und rege zu halten. Trotz aller Nachteile ist das Vereinswesen eine geeignete Möglichkeit, Menschen in die Arbeit aufzunehmen und Verantwortung zu übertragen.
Islamische Zeitung: Sind hier keine Mischformen ein gangbarer Weg, bei denen die Infrastruktur als Stiftung vorliegt, aber das Gemeindeleben in Vereinsform stattfindet?
Engin Karahan: Prinzipiell sehe ich hier Möglichkeiten von Mischformen. Am Ende muss man sehen, ob sich eine Stiftung finanziell rechnet, sodass genug Kapital vorhanden ist, dass aus den Früchten ihres Kapitals der Stiftungszweck erfüllt werden kann. Ein klassisches Beispiel dafür ist der Kauf einer Immobilie, mit deren Mieteinnahme ihr Stiftungszweck unterhalten wird. Mit der Gründung einer Stiftung verschwindet der Zugriff beliebige Zugriff auf die Immobilie. Sie gewährleistet selbstverständlich, dass bei der Widmung von Mitteln ein neuer Vereinsvorstand nicht auf den Gedanken kommt, diese anderweitig einzusetzen. Das sind Entscheidungen, bei denen Laien eine gründliche Beratung brauchen, die ihnen die Situation sowie deren Vor- und Nachteile darlegen kann. Selbst wenn man als Vereinsvorstand einen Stiftungsvorstand kontrolliert, hat dieser eine eigene Verantwortung und Rechtsrahmen, der zu beachten ist.
Islamische Zeitung: Seit einigen Monaten wird die Frage nach der Selbstverortung und zukünftigen Struktur von Muslimen in Deutschland diskutiert. Leider Gottes ist das ein recht binäres Gespräch geworden. Könnten Modelle wie das Stiftungswesen hier nicht eine vermittelnde Position beschreiben und Ängste zu Einflussnahmen abbauen?
Engin Karahan: Eines muss man mit Bezug auf das Stiftungswesen wissen. Hier ist die staatliche Kontrolle intensiver als beim Vereinswesen. Gerade auch die Frage nach der Mittelnutzung sowie der Schutz des Stiftungskapitals bezieht staatliche Aufsichtsbehörden mit ein. Sie sind mehr involviert, als es beim Vereinsgericht beziehungsweise dem Finanzamt der Fall ist. Das schlägt sich nicht auf die inhaltlichen Aspekte nieder, die nicht der staatlichen Kontrolle unterliegen.
Es gibt einen Punkt, den ich in diesem Kontext sehen würde. Ich bin der Meinung, dass es Bereiche gibt, die innerhalb der Community stärker institutionalisiert werden müssen, als es heute der Fall ist. Diese Institutionalisierung darf nicht der Willkür von Vorstandswechseln oder aktuellen Moden unterworfen werdensein. Da gibt es Aspekte, die nicht mehr auf dem Vereinsweg gebildet werden können. Hier bietet sich tatsächlich das Stiftungswesen an; um die Fokussierung auf spezifische Tätigkeitsfelder aufrechtzuerhalten.
Beim Thema Imamausbildung würde eine Stiftung die Möglichkeit bieten, dass unterschiedliche Gemeinschaften sich dort auch gemeinsam finanziell einbringen können. Wenn diese eine Akademie finanziert oder zu ihrer Aufrechterhaltung beiträgt, würde das bedeuten, dass die Imamausbildung weiterhin in der muslimischen Zivilgesellschaft verbleibt, aber gleichzeitig nicht plötzlich verschwindet, wenn es keinen politischen Druck mehr bei diesem Thema gibt.
Das wäre eine Gelegenheit für die muslimische Community, jenseits vom tagespolitischen Druck, Nägel mit Köpfen zu machen und endlich den bestehenden Mangel zu beheben. Und das Problem lässt sich nicht einfach dadurch lösen, dass es theologische Studiengänge an den Universitäten gibt. Diese bilden in ihrem eigenen Selbstverständnis keine Imame aus, sondern Theologen. Auf der anderen Seite wollen wir auch nicht, dass ein staatlicher Akteur entscheidet, wie das Curriculum der Ausbildung von Imamen auszusehen hat. Aktuell fehlt es mir an tatsächlichen Lösungsansätzen von Seiten der Gemeinschaften. Hier mangelt es an Aufrichtigkeit innerhalb der muslimischen Verbandslandschaft, dass wo dieses Thema oftmals nur halbherzig angegangen wird, um zu sagen, man habe eine solche Ausbildung.
Bei solch einem Thema lohnt es sich, dass wir größere Mittel zur Verfügung stellen. Und auch bereit sind, diese in Form von Stiftungsvermögen zu widmen.
Islamische Zeitung: Lieber Engin Karahan, wir bedanken uns für das Gespräch!