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Wir müssen die Gräben überwinden

Ausgabe 278

Foto: Presseportal, Doren Dalpiaz, abs/ZDF

(iz). Nach Ansicht der Soziologin Cornelia Koppetsch hat Deutschland die Phase „der Konsenskultur der Mitte“ der letzten zwei Jahrzehnte hinter sich gelassen. Die Zeit der Blair-Imitate in der rotgrünen Koalition ist genauso vorbei wie der Versuch der ehemals Volksparteien, vorrangig die Mitte des politischen Spektrums zu besetzen. Wie die Forscherin im Gespräch mit der „tageszeitung“ sagte, befänden wir uns mitten in einem „generellen politischen Klimawandel“. Es handle sich dabei um eine Eskalation von ideologischen und politischen Auseinandersetzungen der Gegensatzpaare. Und auch wir Muslime sind – offenkundig – nicht unberührt, sondern gleichermaßen Subjekt wie Objekt im neuen Lagerkampf. „Der Ton wird schärfer, und Identitätsprobleme sind virulent wie nie zuvor.“
Koppetsch sieht zwei Ursachen am Werk: unklare Identitäten sowie eine unsichere Zukunft. Unter „Bedingungen beschleunigter Veränderungsprozesse“ kämpften die Lager der Spätmoderne um den Erhalt eines Minimalstandards an Identität. „Wer diesen Standard preisgibt, wird irgendwann verrückt.“ Der andere Faktor sei eine steigende Ungewissheit, die eigenen Aussichten und die der eigenen Gruppe betreffend. Weil man die Zukunft nicht kenne, sei es ratsam, für die Rechte der eigenen Gruppe auch mit politischen Mitteln zu kämpfen.
Schlüssel und Schloss
Die Soziologin forscht im „Milieu der urbanen Mittelschicht“. Interessanterweise, und für uns hier relevant, ist dabei, dass die Eliten, die den Kern eines der beiden Lager im heutigen Streit stellen, in der ökonomischen Sphäre „angepasst“ seien. Einerseits stellten diese „Kosmopoliten“, die für Koppetsch, die „akademisch gebildete, zumeist in urbanen Zentren ansässige Mittelschicht“, die Träger von Werten wie Toleranz und Weltoffenheit dar. Sie sei politisch interessiert und zivilgesellschaftlich engagiert. Interessant ist aber, dass diese, zumindest in den Augen der Soziologin, durch Selbstoptimierung und unternehmerisches Handeln das Projekt des Neoliberalismus verinnerlicht habe.
Ungeachtet der Ansichten und Meinungen, verhielten „sich linksliberale Werte zum neuen Kapitalismus wie ein Schlüssel zum Schloss“. Linke Werte seien „Teil des herrschenden Apparats“ geworden. Viele seien ja selbst „Gatekeeper“ in staatlichen und öffentlichen Institutionen. Sie beherrschten die öffentliche Meinung und seien das , „was heute die Rechtspopulisten spöttisch als pädagogisches Establishment bezeichnen“. Folgt man ihren Erkenntnissen, dann steht das linksliberale Bürgertum, die Führung eines der beiden Lager im deutschen Streit, „an der Spitze der kapitalistischen Wertschöpfungskette“. Es erziele „hohe symbolische wie auch ökonomische Profite“ aus einem Kapitalismus, der auf Ideen und Innovationen basiere.
Korrekte Ausgrenzung
Auch das juste Millieu linksliberaler Gutmenschen kennt Möglichkeiten der Abschottung. Es bewohne die beliebten Quartiere, deren hohe Mieten automatisch zur Exklusivität führten. „Zu den wirkungsvollsten kosmopolitischen Grenzanlagen gehört die kapitalistische Ausrichtung des Lebensstils“, lautet das Urteil der Soziologin. Aber, im Gegensatz zum anderen Lager, ist diese Schicht zumindest dann durchlässig, wenn die nötigen Finanzen stimmen, „denn hoch qualifizierte MigrantInnen sind hier selbstverständlich willkommen“. Die Abschottung finde hier nicht nach „außen“, sondern nach „unten“ statt.
Ach ja, die Werte
Auch mit den hehren Werten ist es nicht ganz weit her. Selbstverwirklichung, Toleranz und Diversity seien „genau die Schlagworte, die sich der neue Kapitalismus auf seine Fahnen geschrieben“ habe. Für Cornelia Koppetsch sind „die linksliberalen Werte“ der Motor der Globalisierung. Und für Simon Rabinovitch, Historiker der Universität Boston, habe das Ideal der Toleranz „lähmende Mängel“. Es sei, so die Quintessenz seines Textes, den er im Online-Magazine „Aeon“ veröffentlichte, Zeit für eine bürgerliche Philosophie der Gegenseitigkeit.
Der Zweck religiöser Toleranz sei und war immer, die Macht und Reinheit der herrschenden Religion in einem gegebenen Staat zu erhalten. Die meisten dominanten Religionen würden sich heute in den meisten Staaten zur Toleranz bekennen, scheinen sich aber auch bedroht zu fühlen. Religiöse nationalistische Bewegungen in den USA, Europa, Indien, der Türkei und Israel wollten heute die Beziehung zwischen staatlicher Identität und herrschender Religion stärken.
Toleranz konnte nie ihren Ursprüngen entkommen, da die Mehrheit die Minderheit regulieren wolle. „Es ist nach wie vor so, dass die überwältigende Mehrheit der Regierungen im heutigen nationalen Staatssystem den Staat direkt oder indirekt mit der Mehrheitsreligion assoziiert. Dies gilt für Staaten mit Neutralität in Religionsangelegenheiten wie den USA und Frankreich“, schrieb der jüdische Historiker in seinem Aufsatz. Als solche bleibe sie eine einseitige Beziehung zwischen dem Tolerierenden und dem Tolerierten. Die Duldung, die für Goethe auch Beleidigung bedeute, hält den Geduldeten außerhalb der Vollmitgliedschaft der dominanten Gruppe. Im Gegensatz dazu erkenne Wechselseitigkeit an, dassdynamische Gesellschaften auf Austausch beruhten.
„Für Lehrer, Journalisten und Politiker, die anfangen, im Sinne von Gegenseitigkeit statt Toleranz zu sprechen“, würden Intoleranz oder Vorurteile nicht beseitigt. Aber Worte sind für Simon Rabinovitch wichtig und „so wie sie unsere Gedanken reflektieren, prägen sie auch unser Denken“. Eine Idealisierung der fragwürdig gewordenen Toleranz ignoriere die eingebettete Dominanz. Aber von Wechselseitigkeit anstatt von Duldung zu sprechen würde besser widerspiegeln, wie friedliche Gesellschaften aussehen könnten. Es würde auch die Gedanken der Menschen auf die gesellschaftlichen Vorteile des kulturellen Austausches ausrichten.
Gegen- und Weschselseitigkeit seien „eine Philosophie, eine soziale Ethik, eine Art, die Welt zu sehen und eine Psychologie“. Als Essenz könnten sie als Beschreibung dessen dienen, was Individuen und Gruppen an und innerhalb einer Gesellschaft bindet. Sie könnten auch als Motor für gegenseitigen Austausch von Kultur, „ein Lebensnerv aller wohlhabenden Gesellschaften“, fungieren. Einen neuen Rahmen zu finden, um gesellschaftliche Probleme anzugehen, ist für Rabinovitch in einer Zeit wichtig, in der ideologische Unterschiede, die auf der wirtschaftlichen Weltanschauung beruhen, zu verschwinden scheinen. Weil ein Idealsystem (für Vielfalt und Austausch) von einem anderen herausgefordert ­werde (für Intoleranz oder – im besten Fall – für eine sehr bedingte Duldsamkeit), habe sich ein Raum für diese neue bürgerliche Philosophie geöffnet.
Was wollen wir sein?
Offenkundig erkennt auch Rabinovitch eine Herausforderung in neuen Freund-Feind-Stellungen. Das scheint nun Gemeinplatz zu sein. Nichtsdestotrotz eskaliert das Lagerdenken, der Ton wird schriller und die gegenseitigen Unterstellungen brachialer. In diesem Grabenkrieg gilt es, jeden Ansatz in Augenschein zu nehmen, der einen anderen Ansatz formuliert beziehungsweise in Zeiten einer gallopierenden Identitätspolitik neue Selbstdefinitionen bietet. Dazu gehört auch ein Text aus der Zeitreihe „Jung und Konservativ“ der „Zeit“; von der Akademikerin Judith Magdalena Piotrowski, der im Mai letzten Jahres erschienen ist.
Die Akademikeirn, Mutter und bekennende CDU-Wählerin hat in ihrem selbstbewussten (wenn nicht an Arroganz grenzenden) Text das Selbstbild einer Gruppe gezeichnet, die sich nicht durch Herkunft oder Status ihrer Eltern von einer zukünftigen Rolle als „Elite“ dieses Landes gehindert sieht. Piotrowski sieht sich als Teil einer Gruppe aufstiegswilliger und -fähiger AkademikerInnen, deren Migrationshintergrund sie nicht an der Teilhabe an konservativen Werten und Zugehörigkeiten hindere. „We want to have it all – und wir sind auf dem Weg, es zu erreichen. Wir sind ehrgeizig, wir lernen, wir arbeiten nebenbei und ziehen unseren Nachwuchs groß“, hieß es in dem erfrischend selbstbewussten Manifest. Kurzum, es geht um das Verständnis einer Gruppe , deren Herkunft sie nicht in einer Opfermentalität verharren lässt.
Anders als der archetypische Parvenü leugnet der von der Gastautorin beschriebene Typus nicht die eigenen Ursprünge. Als „Tochter von Migranten“ möchte sie zum Verständnis beitragen. „Erstens, liebe Mitbürger: Wir sind die Zukunft Deutschlands. Ich möchte niemanden mit Sätzen langweilen, die er oder sie schon 100 Mal gelesen hat. Es gibt demographische und wirtschaftliche Chancen für Deutschland, sie wurden oft analysiert.“ Aber es gebe zusätzlich eine Veränderung, über die seltener gesprochen werde: den intellektuellen Wandel. „Fakt ist, dass unsere Neigung zum Studium höher ist als bei unseren Mitbürgern ohne Migrationshintergrund, nämlich um 9 Prozentpunkte. (…) Diese Menschen unter uns, die es geschafft haben, ihr Abitur zu machen, treibt etwas an. Ich  nenne das eine neue Chance für Deutschland. In der globalen multikulturellen Welt des 21. Jahrhunderts sind wir die Pioniere.“
Piotrowski sieht ihren Kreis aufstrebender AkademikerInnen aus migrantischen Familien nicht länger als dem Lager der Ausgegrenzten verhaftet. „Nein, auch wenn unsere Etikette ‘Deutsche mit Migrationshintergrund’ suggeriert, wir seien keine echten Deutschen. Wir treiben Deutschland an“, lautet das selbstbewusste Credo. Ihre Stärke liege in den verschiedenen kulturellen, sprachlichen und lebensphilosophischen Wurzeln. Egal ob Künstler, Wissenschaftler oder Manager: Auf dieses Anderssein ist Piotrowski stolz. „Wir sind die neue konservative Elite. Neu, weil die Klingelschilder von Ärzten und Anwälten nicht mehr nur den Schmidts und Müllers des Landes gehören, sondern auch den Celiks und Kowalskis. Auch früher gab es sie vereinzelt, doch nun sind sie keine Rarität mehr.“ Längst verändere man das Bild der alten Generation und löse zusammen mit ihr alte Denkmuster ab. Auch wenn das für manchen Mitbürger – die Politik eingeschlossen – nicht einfach werde. „Denn wir haben nicht vor, uns abzuschotten oder gar zu verstecken.“
Heimat im Globalen?
Es gibt jetzt in der ideologischen Auseinandersetzung kaum ein verminteres Territorium als den eigentlich urmenschlichen Begriff „Heimat“. So betitelten Teilnehmer eines Aufrufes für eine neue Migrationspolitik gerade ihr Anliegen mit „Solidarität statt Heimat“. Das ist kein Zufall, denn hier scheiden sich die Geister: für die einen positiver Bezugspunkt, für die anderen Angstbegriff. Laut Cornelia Koppetsch hat der Begriff „seine Unschuld verloren“. Er sei auch zu einem Wort der politischen Abschottung geworden. Aber auch das linksbürgerliche Milieu kommt nicht ohne Kritik weg. „(…) und die Heimatsuchenden betrachten sie mit Herablassung.“
Auch bei uns Muslimen wird die Suche nach „Heimat“ misstrauisch beäugt, wenn sie von der Mehrheit formuliert wird. Da ist der ideologische Verdacht manchmal nicht weit. Ironischerweise sind aber der „Heimatverein“ oder die Pflege der Kultur des familiären Herkunftslandes für nicht wenige noch alltäglicher, wenn nicht erstrebenswerter Bestandteil des Selbstverständnisses. Gleichzeitig ist es auch unter Muslimen nicht selten, sich im Kosmopolitismus zurückzuziehen. In einer globalisierten Welt, so der Tenor, sei eine lokale Verortung nicht mehr nötig.
Hierzu findet sich ein interessanter Aufsatz des Soziologen und ehemaligen Direktors des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung,  (ZEIT-online, 20. Juni 2018). Unter dem Titel „Ein Weltbürger ist nirgendwo Bürger“ plädiert er für „einen lokalen Patriotismus“. Lokal könne vieles bedeuten, „aber eins nicht: grenzenlos und überall gleichermaßen“. Denn politisches Handeln sei an lokalisierbare Gemeinschaften gebunden. Das Thema politischen Handelns sei die gerechte Ordnung eines Ganzen, das sich als Ganzes begreife und Mitglieder habe, „dies sich für es verantwortlich fühlen und berechtigt und in der Lage sind, es mitzugestalten“.
Vorbedingung seiner solchen Politik, die mehr sein müsse „als Wohltätigkeit oder Vorteilssuche“, sei das Verständnis, um was es in einer Gesellschaft gehe. Verständnis ergebe sich aus gemeinsamer Zugehörigkeit, also geteilter Besonderheit. „Dass jemand ein Menschenrechtssubjekt ist, sagt mir nicht, was er für gerecht oder ungerecht hält. Nur aus Zugehörigkeit ergibt sich ein dauerhaftes Gefühl von Verantwortung, das, verbunden mit einem Minimum an praktischer Zuversicht, gemeinsam etwas erreichen zu können, zu politischem Handeln bewegen kann“, erteilt Streeck eine Absage an die Vorstellung bindungsloser Identitäten.
Es gebe eine spezifische Verantwortung, die schwerer wiege als eine allgemeine und die man nicht einfach ablehnen dürfe. „Bürger eines Landes zu sein, kann eine besondere Zuständigkeit für ein historisches Erbe bedeuten, dem man nicht dadurch entkommt, dass man sich zum ‘Weltbürger’ umdeklariert.“ Alle Politik sei lokal. Das heiße auch, keine Politik, „jedenfalls keine gute Politik“, ohne Patriotismus, ohne ein Gefühl verpflichtender Zugehörigkeit zu einer politisch organisierten Gemeinschaft, an deren laufender Verbesserung man sich zu beteiligen habe.
Politik könne in Streecks Augen nicht nur für universale Menschenrechte, sondern müsse vor allem auch für lokale Gerechtigkeit betrieben werden. Ein solches Handeln sei immer verortet; auch unsere Verpflichtungsgemeinschaft. „Die Weltgesellschaft kann keine Steuern erheben und kein soziales Pflichtjahr für Heranwachsende einführen, schon weil Gerechtigkeitsgefühle, Machtstrukturen und Lebensweisen sich von Ort zu Ort zu sehr unterscheiden.“ Vielleicht habe der Kosmopolitismus auch deshalb so viele Anhänger, so Streeck, „weil man es in einer imaginierten Weltgesellschaft bei selbstbemessenen philanthropischen Spenden belassen könnte“.