Wir sind auch die Mitte

Ausgabe 279

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(iz). Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer ist nicht nur ein bekannter Wissenschaftler. Er hat sich auch mit klugen Beiträgen in die soziale Gemengelage eingeschaltet. ­Kürzlich äußerte er sich über den sich verstärkenden Drang zur Eindeutigkeit. Darunter leide, so Bauer, die Mitte ­unseres Landes. „Natürlich braucht es eine gewisse geistige Reife, und man kann das tatsächlich nur lernen, wenn man auch Werte hat, an denen man sich ausrichtet. Das Problem ist, heute tendieren die Leute verstärkt zu den Extremen: Gleichgültigkeit und Fundamentalismus. Die Mitte wird immer leerer“, sagte er im Gespräch dem „Tagesspiegel“.
Es ist diese Mitte, die sehr lange den bundesrepublikanischen Konsens trug und repräsentierte. Sie wird aber in der letzten Zeit unter dem Druck einer anschwellenden Lagerbildung zerrieben. Das ist nicht nur eine Frage der Politik, sondern übersetzt sich auf verschiedene relevante Bereiche unserer Gesellschaft. Die Fähigkeit zum Kompromiss und Konsens, die früher gelegentlich von Intellektuellen als erdrückend beschrieben wurde, aber gleichzeitig Alltag war, hat Konkurrenz durch eine irrationale Sehnsucht nach dem Absoluten bekommen.
Die Schwächung unserer Mitte bewirkt auch, dass sie immer weniger in der Lage ist, die Ränder zu binden. Auf der einen Seite haben wir eine ungesonderte Schicht an Menschen, die sich abgehängt fühlen und zu vermeintlich einfachen Lösungen als Rettung greifen. Sie hoffen, diese im nationalistischen Populismus zu finden, der seit geraumer Zeit von Washington bis Wladiwostok im Aufstieg befindlich ist. Auf der anderen Seite gibt es die aufstrebenden Elemente einer Minderheit von Globalisierungsgewinnern sowie einer Elite, die sich in den Augen des Soziologen Michael Hartmann immer mehr von der Mehrheit entfernen. Früher sei die Politik ein ­„Gegenpol“ zur Wirtschaft gewesen. Heute jedoch sähe das anders aus.
Die sich entfaltenden Zentrifugalkräfte sowie die schwindende Bindungsfähigkeit der Eliten im Inneren schaffen Leerräume. Im situierten Milieu wurden sie von AfD-nahen Diskursen besetzt. Auf der Hooligan-Ebene – von Dortmund bis jüngst in Chemnitz – ist es der Mob, der mehr Freiräume bekommt, als er eigentlich dürfte. Hier müssen sich die Dienste fragen lassen, ob ihr Narrativ der Muslime als Bedrohung der Ordnung nicht an den Verhältnissen vorbeiging.
Und wir Muslime sowie unsere Gemeinschaften stehen an einem Punkt, an dem wir uns entscheiden müssen. Es liegt in unserem gesunden Eigeninteresse, die Mitte zu stärken. Immerhin nennt Allah uns in Seinem Qur’an eine „Gemeinschaft der Mitte“.