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„Wir sind ständig im Wandel und verändern uns“

Ausgabe 280

Foto: M. Taal, Mahmoud Awad

(iz). Momodou Taal ist ein junger britischer Muslim mit gambischen Wurzeln, der seit drei Jahren in Kairo lebt, um dort am Moschee-Programm der Al-Azhar Universität Islamwissenschaften und Arabisch zu studieren. Er ist in den sozialen Netzwerken aktiv und steht für ein junges, frisches und zeitgenössisches Praktizieren des Islam. Wir haben uns mit ihm über die Verbindung der muslimischen Jugendkultur und der traditionellen Lehre unterhalten.
Islamische Zeitung: Lieber Momodou, was studierst Du an der Al-Azhar, und was möchtest Du in Zukunft damit machen?
Momodou Taal: Ich nehme am Azhar-Mosque-Programme teil. Es ist ein Schari’a Programm, man lernt also Fiqh, Usul, Hadith und Arabisch. Zudem lerne ich den Qur’an auswendig. Ich denke, all das geht zurück auf einen fundamentalen Fokus, den ich habe. Wie machen wir Islam für junge Menschen im Westen relevant? Meine Mission, beziehungsweise das, worauf ich mich konzentrieren möchte, sind junge Menschen. In Großbritannien herrscht derzeit ein Trend, den es sicherlich so auch in Deutschland gibt, dass die Religion für Jugendliche und junge Erwachsene nicht mehr wirklich Sinn ergibt. Sie scheint so realitätsfern für viele. Ich versuche Wege zu finden, die Gegenstände meines Studium wieder für sie greifbar zu machen.
Islamische Zeitung: Wenn man Dir auf den sozialen Netzwerken folgt, merkt man schnell, dass Du mit vielen jungen Leuten sehr verbunden und im Austausch bist. Es scheint so, als sei Deine Message „Okay, ich studiere den Din, aber ich bin auch einfach eines der Kids dieser Zeit“.
Momodou Taal: Genau! Ich habe dieselbe Reise durchlaufen, wie die meisten auch. Ich wuchs ohne großen Bezug zur Religion auf. Mit 16 änderte sich das dann und ich kam, wie sehr viele andere Jugendliche auch, mit den Salafis in Berührung. Eine Zeit lang folgte ich ihrer Lehre, aber merkte schnell, dass sie absolut nichts für mich ist. Ich konnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, dass meine Religion mir vorschreibe, keine Musik zu hören und keine platonischen Freundschaften zu Mädchen haben zu dürfen. Es ergab einfach keinen Sinn für meine Lebensrealität.
Und das erleben viele. Aber ich sehe es gelassen, die meisten lernen die Salafis auf die eine oder andere Art kennen und sich von ihnen zu entfernen ist ein Zeichen des Fortschritts, man lernt dazu. Ihre Strenge brachte mich jedoch dazu, fünf Mal am Tag zu beten und regelmäßig in die Moschee zu gehen. Für einen Teenager, der vorher nicht gebetet hat und ein ganz anderes Leben führte, ist das eine große Veränderung zum Positiven. Ich bin also für alle Erfahrungen dankbar.
Ich erkannte aber, dass der einzige Weg, dem Propheten, Allahs Segen und Friede auf ihm, treu zu sein, derjenige ist, mir selbst treu zu sein. Musik war immer ein wichtiger Teil von mir, und mit Mode zu experimentieren hat mir immer Spaß gemacht. Für mich bedeuten diese Dinge einfach, ein Teil dieser Kultur zu sein. Wenn die Salafis also immer mit anti-westlicher Propaganda daherkommen, und einem vorwerfen man würde „Die Kuffar nachahmen“, das fand ich realitätsfern und einfach falsch.
Islamische Zeitung: War der Wandel, weg vom Salafismus hin zum Weg der Mitte, schwer für Dich?
Momodou Taal: Um ehrlich zu sein, fand ich es nicht sehr schwer, die jetzige Situation ist viel komplizierter. Wenn man Salafi ist, ist es im Grunde vorprogrammiert, dass es ein Burnout geben wird. Man kommt an seine eigenen Grenzen: Entweder praktiziere ich „diesen Islam“, und ich kenne nur diesen, und belüge mich selbst, oder ich höre ganz auf. Wenn man aber an seinem Glauben festhält, will man einen Weg finden, um im Frieden mit sich und der Welt zu sein.
Glücklicherweise traf ich auf Leute, die etwas entspannter sind, und ich meine damit nicht, dass sie „liberal“ sind, sondern einfach relaxt mit dem Leben umgehen. Sie schauen Netflix, gehen ins Kino, nehmen am üblichen Leben hier teil und leben ganz selbstverständlich ihren Islam. Ich traf diese neuen Freunde in der Schule und sie brachten mir so viel bei und zeigten mir, dass Islam so viel mehr bedeutet als was ich bisher gekannt hatte.
Schwer ist es aber in dem Sinne, dass junge Leute sich mehr und mehr vom Din abgetrennt fühlen und ihn kompliziert finden. Meine Freunde und Freundinnen und diejenigen, die ähnlich leben, sind eher in der Minderheit. Es gibt eine wachsende Zahl an Menschen, denen gefällt was sie und ich tun und wie wir das Leben als westliche Muslime meistern, aber die meisten sind immer noch sehr von ihren Ursprungskulturen geprägt. Sie verbinden Islam mit Strenge.
Islamische Zeitung: Dein Freundeskreis ist sehr gemischt. Würdest Du sagen, dass es für junge Muslime im Westen wichtig ist, die Kulturen ihrer Ursprungsländer zwar zu respektieren und zu pflegen, aber da sie mit so vielen verschiedenen Leuten befreundet sind, eine Art eigene Kultur zu entwickeln und somit über ethnische Grenzen hinauszuwachsen?
Momodou Taal: Hundertprozentig. Die meisten von uns haben migrantische Eltern aus Asien, Afrika, Südosteuropa… Was uns aber verbindet und meist auch mehr Verbundenheit schafft als die Kulturen unserer Eltern ist die hiesige Kultur, in der wir alle aufgewachsen sind. Ja, ich bin ursprünglich aus Gambia, meine pakistanischen Freunde und ich hören aber dieselbe Musik, essen dieselben Gerichte aus aller Welt und sprechen denselben Slang.
Daher ist es zwar wichtig, dass wir die Bindung zu unseren Wurzeln nicht verlieren, aber es ist genauso wichtig, dass wir unsere Jugendkultur pflegen, die mehrere unterschiedliche Traditionen mit einander verbindet.
Islamische Zeitung: Wenn wir an die ersten Einwanderergenerationen und die älteren Gelehrten denken, dann hört man oft, dass junge Muslime sagen, sie fühlten sich einfach unverstanden und entfernten sich deshalb vom Din…
Momodou Taal: Genau das ist es! In Großbritannien haben wir das Problem, dass Leute aus den Ursprungsländern der Gemeinschaften nach hier geholt werden, um als Imam oder Gelehrter zu fungieren. Sie haben aber keinen blassen Schimmer von der Lebensrealität der Leute hier und einfach keinen Bezug zu dieser Kultur. Wenn man einen pakistanischen oder saudischen Gelehrten fragt, ob man zu einem Konzert gehen dürfe, ist es gleich „haram“, allein schon, wenn sie hören, dass es um Musik geht.
Dann gibt es auch Gelehrte, die hier zur Madrassa gegangen sind, aber sich nie außerhalb dieser Schule die Welt angesehen haben. Sie kopieren einfach das, was sie von den alten, ethnisch geprägten Lehrern zu hören bekommen haben, ohne einen Bezug zur Welt, die sie umgibt, geschaffen zu haben.
Islamische Zeitung: Glaubst Du also, es braucht junge Gelehrte, die hier aufgewachsen sind und dieselben Erfahrungen haben wie die Kinder und Jugendlichen, die sie lehren sollen, damit sie eine Brücke zwischen der westlichen Kultur und dem Islam schlagen können, mit der sich junge Muslime identifizieren können?
Momodou Taal: Das ist eine enorm wichtige Aufgabe. In der islamischen Lehre gibt es den Begriff von ‘Urf. Dabei geht es um die Kultur und den Kontext der Gesellschaft, in der man sich befindet. Und um das Wohlergehen der Menschen. Und sie spielen eine Rolle in der Entscheidungsfindung bei Fatwas. Ich bin wirklich dagegen, Imame und Schujukh zu haben, die sich mit dem Kontext der Gesellschaft, in der sie leben, nicht wirklich auskennen. Ich frage mich, wie effektiv sie überhaupt sein können.
Islamische Zeitung: Wie wichtig ist es für Dich, mit Schaikhs zu sitzen und von ihnen zu lernen? Es gibt ja den Trend, sich durch Google und Bücher Wissen über den Din aneignen zu wollen. Wie wichtig sind reale Lehrer?
Momodou Taal: Sie sind sehr wichtig. Die Frage, die ich aber oft höre ist, „wie finde ich die richtigen Lehrer?“ Ich bin nicht in der Position, anderen zu sagen, bei wem sie lernen sollten. Es sollte jedenfalls jemand sein, dem man vertraut und zu dem man eine Verbindung hat. Ich selbst habe das Glück, solche Lehrer zu haben, und es sind viele. Eine persönliche Verbindung zu echten Lehrern ist dem reinen Studium von Büchern natürlich vorzuziehen. Man sollte versuchen, gute Lehrer und Lehrerinnen zu finden.
Islamische Zeitung: Du erwähntest den ‘Urf, und manchmal beziehen sich Deine Postings auf die malikitische Schule. Glaubst Du, dass die Lehre Imam Maliks ein Tor zum Verständnis des Dins im Westen sein kann, da sie dem ‘Urf besonderen Wert beimisst?
Momodou Taal: Diese Frage kann in zwei Punkten beantwortet werden. Als erstes ist es wichtig, zu erkennen, dass die malikitische Schule in Andalusien praktiziert wurde. Wir haben also eine Idee davon, wie Islam in Westeuropa gelebt wurde und die Schule Imam Maliks ist hier ein wichtiger Bestandteil der Geschichte des Islam in Europa. Ein Tor ist sie also allemal.
Andererseits ist es aber so, dass derjenige, der Fragen zum Din hat, sich meist in der Madhab desjenigen befindet, den er fragt. Das ist eine einfache Realität, und für die meisten spielt die Rechtsschule in den Anfängen noch keine große Rolle.
Islamische Zeitung: Du hast kürzlich einen Podcast mit Deinen Freunden, die ebenfalls junge englische Muslime sind, gestartet. Kannst Du uns etwas darüber erzählen? Welche Ziele verfolgt ihr damit?
Momodou Taal: Der Podcast heißt „The Baraka Boys Podcast“. Der Name entstammte eigentlich nur unserer WhatsApp Gruppe, die wir für eine Marokkoreise kreiert hatten. Mein Freund Khalid Siddiq hat ein Musikvideo zu seinem Song, der eine Art Qasida Burda des 21. Jahrhunderts ist, gedreht und wir waren darin als Baraka Boys vertreten.
Ich bin so froh, dass ich in einer Gruppe von Leuten bin, die nicht über andere urteilen und wir kreative Köpfe haben, die sich die verrücktesten Ideen einfallen lassen. Wir dachten, es muss doch auch andere geben, die ähnlich denken. Also haben wir beschlossen, unsere Gespräche und Ideen aufzunehmen und den Podcast raus in die Welt zu schicken, in der Hoffnung, auf Gleichgesinnte zu treffen oder Leuten helfen zu können.
Und die Resonanz ist unglaublich! So viele junge Leute haben sich gemeldet und sagen uns, wir würden über Dinge sprechen, die sie sehnsüchtig erwartet hätten. Endlich würden junge Muslime über relevante Themen sprechen, die einen Bezug zu ihrem Leben haben. Die positiven Reaktionen waren sehr viel zahlreicher als die negativen. Wir haben also vor, damit weiterzumachen.
Islamische Zeitung: In den sozialen Netzwerken postest Du oft Fragen zu Beziehungen. Das Thema scheint besonders viel Aufmerksamkeit zu erregen.
Momodou Taal: Ich stelle gern fragen, die viele im Sinn haben, aber sich nicht trauen, zu stellen. Bei uns Männern ist Heirat und Ehe immer ein Thema. Wir reden ständig darüber. Wir haben aber auch viele weibliche Freunde, das ist für uns ganz normal. Es gibt so viele, die einen so strikten Islam gelernt haben, dass sie mit dem anderen Geschlecht überhaupt nicht umgehen können. Ich finde es wichtig, dass wir Freundschaften zum anderen Geschlecht aufbauen können und uns ihre Geschichten anhören, Dinge aus ihrer Perspektive betrachten und uns austauschen können. Wir gelangen so zu einem tieferen Verständnis über einander und können Beziehungen aufbauen, die über Sexualität hinausgehen.
Es ist so seltsam, wenn wir im Alltag mit dem anderen Geschlecht im Austausch sind, aber sobald es um muslimische Events geht, soll es eine strikte Trennung geben und man darf sich weder anschauen noch mit einander reden. Es ist so gekünstelt. Was bringt man da den Leuten bei? Wir sind sowieso in einer übersexualisierten Welt. Wenn wir dann noch eine überstrenge Geschlechtertrennung praktizieren, dann wird der Muslim eine Frau nie als etwas anderes als ein sexuelles Objekt betrachten. Wenn wir einen normalen, ausgelassenen Umgang mit einander haben, ohne die Grenzen zu überschreiten, können wir erst gesunde Beziehungen zu einander aufbauen.
Islamische Zeitung: Hast Du abschließend Tipps für junge westliche Muslime, die mit ihrer Identität und ihrem Platz in der Welt zu kämpfen haben?
Momodou Taal: Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung heraus berichten. Zunächst würde ich sagen, dass der Glaube eine persönliche Reise ist. Man muss sich fragen, warum man Muslim ist. Ich bin Muslim, weil es am meisten Sinn für mich ergibt. Ich denke, dass Islam Antworten auf die Fragen unserer Zeit bietet.
Am wichtigsten ist es, immer einen offenen Geist zu haben, wenn man durch die Welt geht. Ich kann es nicht stark genug betonen, es ist so ungemein wichtig, offen zu sein. Manchmal zeigt mir Facebook, was ich vor ein paar Jahren gepostet habe, und ich frage mich dann „was habe ich mir nur dabei gedacht?!“ Alhamdulillah, das ist eine gute Sache! Wir sind ständig im Wandel und verändern uns, unsere Ansichten ändern sich ständig.
Zuletzt rate ich allen, die hier leben, sich nicht runtermachen zu lassen, weil sie „westliche Muslime“ sind. Diese Kultur ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Neben den negativen Dingen, die wir ablehnen, gibt es so vieles, was schön und positiv ist. Und wir sollten uns nicht selbst belügen, wir sind ein Produkt eben dieser Gesellschaft, in der wir leben.
Hip Hop etwa ist ein Teil der westlichen Kultur und wir lieben diese Musik, so wie viele andere Dinge auch. Wir befinden uns in einer Zeit der Identitätspolitik. Und wir jungen Muslime der dritten oder vierten Generation kreieren eine ganz neue Jugendkultur, und ich liebe sie! Als schwarzer Mann trage ich manchmal Kleidung, die aus Pakistan stammt und mische sie mit afrikanischen Elementen und Hipster Einflüssen. Und nichts davon ist gekünstelt, ich bin wortwörtlich Teil eben dieser neuen Kultur. Wir können Muslime und westlich sein. Islam ist längst hier beheimatet und er wird auch bleiben.
Islamische Zeitung: Lieber Momodou Taal, vielen Dank für das Interview!