Wissen ist nur dann echt, wenn es auch praktiziert wird. Von Margari Aziza Hill

Ausgabe 202

Woran liegt es, dass sich viele Khutbas und Vorträge sich wie eine Motivationsveranstaltungen anfühlen, bei der wir bloße Zuschauer oder Fans sind. Sollten wir nicht vielmehr wie Sportler sein, die sich durch Training auf das große Match vorbereiten? Und da wundern wir uns, dass unsere Mannschaft verliert…

Wir sind einfach nicht in Form, verste­hen die Spielzüge nicht und, was noch schlimmer ist, wissen nicht, wie wir den spielentscheidenden Treffer landen können. Die Sache ist, dass unser Gemeinschaftsleben uns nicht ­notwendigerweise bei einer wirklichen Umwandlung hilft; oder der Führung eines guten, vollwerti­gen und glücklichen Lebens.

Wie Glück und ein gutes Leben ausse­hen sollen, ist eine antike Frage, die unterschiedlich beantwortet wurde. Die beständigsten Sichtweisen kamen aus dem religiösen Denkern und dem Denken. Bereits in der Antike stimmten beide überein, dass ein gutes Leben ein tugend­haftes sein muss. Tugend besteht nicht nur in der Fähigkeit, einem Regelwerk zu folgen oder auch im rhetorische Geschick, um jene rechtliche Schlupflöcher finden, nach denen der Zweck die Mittel heiligen soll.

Der heute dominante Ansatz, den Muslime gegenüber Tugend einnehmen, ist der eines Regelwerks. Dieser Weg kann selbstzerstörend sein, da er uns auf die Tugend blicken lässt, ohne zu verste­hen, was bei uns selbst in Unordnung ist. Oft genug behandeln wir nur Symptome, ohne den Kern der Krankheit zu erreichen.

Es wird Zeit, dass wir uns einem ganzheitlichen Modell der Selbstverbesserung zuwenden. Wir müssen sowohl die Symptome behandeln, aber auch die Krankheit aus dem Weg räumen, die sowohl un­sere Lebensqualität, als auch die unse­rer Gemeinschaften beeinträchtigen. Moralische und individuelle Entwicklung müssen im Zentrum eines tugendhaften und guten Lebens stehen. Das letztere basiert auf allgemeinmenschlichen Prinzipien, wie sie im Islam zu finden sind. Hier finden sich die Mittel – aber auch im antiken Denken oder sogar in ­unserer heutigen Gesellschaft. Wir können es uns nicht leisten, ein Werkzeug zu ­ignorieren, dass uns helfen könnte. Auch wenn sich viele Muslime mit Rechtschaffenheit beschäftigen, scheinen wir unsicher zu sein, was diese wirklich bedeutet. Daher müssen wir über Tugend insgesamt nachdenken, damit uns der große Wurf gelingt. Muslime beschäftigen sich intensiv mit Wissen und Kenntnissen. Wir lieben Bücher, Vorträ­ge, Debatten, Pamphlete, Webseiten, Foren, Podcast und Blogs, die uns alle ein Gefühl von Wissen vermitteln. Dies geht von der Annahme aus, dass reines Wissen zur besseren Praxis führt. Das Problem ist, dass echtes Wissen nicht auf das Denken oder den Verstand beschränkt bleiben darf. Um zu wissen, wie man handeln kann, brauchen wir gelegentliche Übung und konstantes Krafttraining.

Will man wirklich verstehen, wie Basketball gespielt wird, lernt man dies nicht aus Büchern. Man muss auf dem Spielfeld stehen und solange Würfe üben, bis der Wurf die perfekte Flugbahn hat. Zu Anfang ist man sich jeder Handlung bewusst: Wie man dribbelt, einen Pass spielt und einen Abpraller nutzt. Mit der Zeit aber gehen die Bewegungen und Spielabläufe ins Unterbewusstsein über.

Sokrates glaubte, dass Wissen der Schlüssel zur Tugend sei. Sie kommt aber vielmehr aus dem, was man immer wieder praktiziert, bis es passt. Keine Frage, Wissen ist entscheidend, aber wir müssen es uns einprägen, sodass wir es verkörpern können. Dies ist einer der Gründe, warum die Muslime beten, fasten, zur Hadsch reisen und dazu angehalten werden, sich permanent [an ­Allah] zu erinnern. Diese Handlungen stärken unser Glaubensbekenntnis. Und wir tun all diese Dinge, um das wichtiges Ziel zu erreichen: die Zufriedenstellung unseres Herren.

Wir müssen unser Ziel kennen, dass wir anstreben, damit man versteht, wenn der eigene Wurf nicht landet. Kennen wir unsere Ziele nicht und denken nicht über sie nach, werden wir den gleichen Fehler dauernd wiederholen. Als Musli­me müssen wir unser Ziel kennen: Erfolg in dieser und in der nächsten Welt. Imam Al-Ghazalis Erinnerungen seiner spirituellen Krise sind eines der ­wenigen Beispiele dafür, wie ein Muslim mit seinen Unzulänglichkeiten fertig wurde. Daher wende ich mich auch meinem eige­nen kulturellen Kontext zu, um zu sehen, wo sich Wege der Selbstentwicklung finden lassen.

Dabei fällt mir Benjamin Franklin ein. Nicht, weil ich in Philadelphia lebe und es in der Stadt überall Statuen von ihm gibt, sondern, weil er ein Programm zur Selbstverbesserung hatte. Lange vor dem Selbsthilfewahn des späten 20. Jahrhunderts. Franklins Liste der Tugenden und seine Versuche, das Selbst zu meistern, sind eine interessante Studie. Er ­listete 13 Tugenden auf, die er als die wichtigsten ansah: Mäßigung, Schweigen, Ordnung, Entschlossenheit, Genüg­samkeit, Fleiß, Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit, Maßhalten, Sauberkeit, Beschau­lichkeit, Sittsamkeit und Demut.

Was Benjamin Franklin auf diesem Gebiet wichtig macht, sind seine Anstrengungen bei der Dokumentation seiner Fortschritte. Wir müssen erkennen, wie wichtig seine Selbstbeobachtungen bei diesem Vorgang waren. Bei ihm drehte sich alles um persönliche Rechenschaft. Am Ende jeden Tages zog er eine ­Bilanz seiner Handlungen. Ein gläubiger Mensch kann aber nicht mit dem Kreislauf falscher Handlungen und innerer Zurechtweisung zufrieden sein. Uns allen wurden die drei Stufen des Glaubens gelehrt: Unterwerfung ­(Islam), Glaube (Iman) und schließlich spirituelle Vollkommenheit (Ihsan). Nur durch Selbstverbesserung kann ein Indi­viduum diese letzte Stufe erreichen.

Wir führen unser Leben in dem Wissen, dass Allah uns sieht, selbst wenn wir Ihn nicht sehen können. Diese Bewusst­seinsstufe unseres Herzens verleiht uns das beste Verhalten. Aber, um dieses Bewusstsein zu haben, müssen wir zuvor eine spiritu­elle und moralische Entwick­lung durchlaufen.

Im Islam wird das Wissen von dieser spirituellen Entwicklung auch als Reinigung des Herzens bezeichnet. Manche nennen es Tazkija und andere ­Tasawwuf. Tazkija hat eine qur’anische Wurzel, die mit „Reinigung“ übersetzt werden kann. Der Begriff Tasawwuf entstand später, aber beide haben den gleichen Zweck: die Reinigung beziehungsweise Verbesserung des moralischen und spirituellen Zustands der jeweiligen Person. Im Qur’an werden viele Tugenden aufgeführt. Es gibt eine große Literatur darüber, welche Eigenschaften Muslime verkörpern sollten. Die Gelehrten beschäftigten darüber hinaus mit all jenen Dingen, die uns Muslime daran hindern könnten, unseren Rang bei Allah zu verbessern. Männer wie Ibn Dschauzija und Imam Al-Ghazali führten verschiedene dieser Hindernisse auf: Vergessen beziehungsweise Nachlässigkeit, Schwäche gegenüber den eigenen Leidenschaften, Schaitan, schlechte Gesellschaft, Arroganz oder Selbsttäuschung, Liebe zur materiellen Welt sowie Verzweiflung.

In dem folgenden Qur’anvers haben wir einen guten Ausgangspunkt für unsere suche nach Schlüsseltugenden: „Gewiss, muslimische Männer und muslimische Frauen, gläubige Männer und gläubige Frauen, ergebene Männer und ergebene Frauen, wahrhaftige Männer und wahrhaftige Frauen, standhafte Männer und standhafte Frauen, demütige Männer und demütige Frauen, Almosen gebende Männer und Almosen gebende Frauen, fastende Männer und fastende Frauen, Männer, die ihre Scham hüten und Frauen, die (ihre Scham) hüten, und Allahs viel gedenkende Männer und gedenkende Frauen – für (all) sie hat Allah Vergebung und großartigen Lohn bereitet.“ (Al-Ahzab, 35) Wer wollte nicht zu jenen gehören, mit denen unser Schöpfer zufrieden ist? Wer wollte nicht Vergebung und eine große Belohnung von unserem Herren erhalten? Ich glaube an die Stimmigkeit im Qur’an und an die Bedeutung von Stimmigkeit in unserem Leben. Daher ist es wichtig, sich auf die im Qur’an beschriebenen Kerntugenden zu konzen­trieren. Diese Tugenden können Naviga­tionspunkte für die Bestimmung ­unseres Kurses sein, damit ein reicheres, ­volleres und glücklicheres Leben führen. Aus diesem Grund müssen wir über jeden einzelnen der obigen Begriffe nachdenken und abwägen, wie sie nicht nur zu einem moralischen, sondern auch zu einem tugendhaften Leben führen können.

Mancher Versuch mag in eine Sackgasse führen, aber mit Geduld, Austausch und vorsichtiger Abwägung kann dies zu etwas Fruchtbarem führen.