Wo stehen die Minderheiten heute?

Ausgabe 269

Foto: Wikimedia Commons, gemeinfrei

(iz). Die Ereignisse in Katalonien wirken nicht nur dramatisch, sondern erinnern daran, dass Europa noch immer nach einem neuen Ordnungsrahmen sucht. Madrid hat es versäumt, den Separatisten durch eine überzeugende föderative Struktur frühzeitig den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nun wirkt das Paradox, dass die demokratisch legitimierte Regierung in Barcelona zunehmend in die Illegalität gedrängt wird. Inzwischen ist sogar das Undenkbare denkbar geworden: ein Bürgerkrieg in einem EU-Mitglied.
Die Katalanen können in diesen Tagen kaum Solidarität von europäischen Staaten erwarten, die teilweise auf ihren eigenen Territorien Abspaltungen befürchten. Die Hoffnungen liegen nun auf einer neuen Vision Europas, die der französische Präsident Macron angerissen hat. Zur Debatte steht, diese Union auch politisch zu stärken und innerhalb eines Europas der Regionen die nationale Ebene zunehmend durch eine Europäische Regierung zu ersetzen. Sollte dieser Plan misslingen, wird sich wohl die Renaissance der Nationalstaaten fortsetzen. Im schlimmsten Fall droht dann die Rückkehr eines Nationalismus, der sich autoritär über die Bedürfnisse der Minderheiten hinwegsetzt, aber sich dennoch dem Faktum stellen muss, dass die meisten Staaten Vielvölkerstaaten sind.
Hinzu kommt das Phänomen der massenhaften Einwanderung, welches nationale Gefühle herausfordert und nach einer Neubestimmung des Volksbegriffes ruft. Wie bedrohlich diese Entwicklungen sein können, dürfte spätestens nach den Balkankriegen im kollektiven Bewusstsein angekommen sein. Cyrill Stieger hat unter dem Titel „Wir wissen nicht mehr, wer wir sind“ die komplizierte Geschichte der Minderheiten dieser Region beschrieben. Das Beispiel der muslimischen Torbeschen in Mazedonien oder der zum Islam konvertierten Pomaken in Griechenland zeigt die ganze Komplexität der Identitätsfindung von Minderheiten. Menschen reagieren auf eine drohende Assimilierung durch die Mehrheit flexibel, sie spielen mit ihren Identitäten, verändern sie oder aber, sie verteidigen, was sie als ihr Innerstes betrachten. Das geläufige Wort der „Balkanisierung“ zeigt dabei, dass innereuropäische Konflikte jederzeit und überall neu aufbrechen können.
Im Grunde rufen diese geschichtlichen Erfahrungen nach neuer Flexibilität. Das heißt, eine neue Balance zwischen Zentrali­sierung und Dezentralisierung auszuloten. Man hofft, dass in der neuen Heimat eine Identitätsfindung in Städten und Regionen geschieht, während ein neues Europa an die Vernunft appelliert, auf globale Herausforderungen auch gemeinsam zu reagieren.
Fragt man junge Muslime in Berlin – dies mag als Indiz für eine neue Zeit dienen – wer sie sind, so antworten sie oft: „Wir sind Berliner, wir sind Muslime, wir sprechen Deutsch und wir sind Europäer.“ Ihre Verortung mag Nationalisten provozieren, sie scheinen aber am Puls des neuen Europas zu sein. In diesem Fall wird Identität geboren, neue Heimat geschaffen, in der die Nation an Bedeutung verliert, aber gleichzeitig auch europäisches Bewusstsein entsteht.