Wochenlang bestimmte die Scheinaffäre um Christian Wulff unsere Tagesordnung. Von Yasin Bas

Ausgabe 200

(iz). Weshalb stritt Deutschland so lange und so ausgiebig den Fall von Bundespräsident Christian Wulff und kaum über die rechtsextremistische Terrorbande und deren Verbindungen zu ­V-Leuten der Nachrichtendienste? War die von vielen Politikern als „Staatsaffäre“ und „Nachrichtendienstpanne“ bezeichnete Affäre denn aufgeklärt, sodass wir uns nun einem neuen, alles bestimmenden Thema widmeten? Und wieso wurde Bundespräsident Wulff derart erbarmungslos angegriffen?

Der Bundespräsident ist ein CDU-Politiker. Wir wählen Politiker, keine Päpste oder Heiligen. Wulff stammt aus Osnabrück und ist ein überaus toleran­ter und offener Mensch. Solche Politiker wie ihn gibt es nur selten. Ohne ­seine Hilfe gehörten heute weder der Volkswagenkonzern noch Porsche zu den größten Automobilunternehmen der Welt beziehungsweise wären dem erbarmungslosen Zugriff US-amerikani­scher Investmentbanker ausgesetzt. Wulff hatte mit Geschick die Autofirmen vor der Übernahme ausländischer Profitinteressen gerettet. Ohne seine Unterstützung wären heute ­unzählige Menschen in Niedersachsen arbeitslos.

Geprägt wurde Wulff auch durch die multikulturelle und multireligiöse Atmosphäre in Osnabrück. In der „Friedensstadt“ herrscht ein vorbildliches Miteinander der Religionen und Ethni­en. Die Arbeitsgemeinschaft der Religi­onen in Osnabrück (AROS) trifft regel­mäßig zusammen. In der „Stadt des westfälischen Friedens“ Osnabrück wurde Wulff auch von dem 2007 verstorbe­nen Yilmaz Akyürek geprägt. Akyürek engagierte sich in den 1970ern und 1980er Jahren als Vorsitzender des türkischen Elternrates vor allem dafür, dass Kinder türkischer Familien ihren Platz im deutschen Schulsystem fanden. Er hat auch die Arbeit des Ausländerbeirates Osnabrück beeinflusst, dem er mehr als zwanzig Jahre lang ­angehörte. Für seine vielseitigen interkulturellen und interreligiösen Verdienste wurde er 1999 durch die Verleihung der Bürgermedaille gewürdigt. Beide waren enge Bekannte. Sie arbeiteten auch während der Zeit Akyüreks im Ausländerbeirat zusammen. Damals war Wulff noch Ratsherr und zeitweiser Vorsitzender der CDU-Ratsfraktion. Er respektierte Akyürek derart, dass er sich bei einer Veranstaltung von seinem Stuhl erhob und Akyürek respektvoll begrüßte und ihn bat, neben sich Platz zu nehmen. Auf lokaler Ebene hatte Christian Wulff die Herzen der Menschen schnell gewonnen.

Auf Landesebene setze er ein Zeichen, als er als Ministerpräsident von Niedersachsen die erste türkische Ministerin in sein Kabinett berief. Dadurch bewies er Weitblick und Fingerspitzengefühl. Er erkannte recht früh die demographische Entwicklung des Landes und handelte dementsprechend. In einem Land, in dem über drei Millionen Menschen türki­scher Herkunft leben und in dem fast fünf Millionen Muslime heimisch sind, war Christian Wulff der erste, der auf diese Idee kam.

Auch an der Einführung des islamischen Religionsunterrichts an niedersächsischen Grundschulen, sowie der Etablierung islamischer Lehrstühle an staatlichen Universitäten war Christian Wulff beteiligt. Der Wissenschaftsrat der Bundesrepublik übertrug die Initiative von Wulff auf ganz Deutschland. Nachdem er Bundespräsident wurde, setzte er sich für den interkulturellen und interreligiösen Dialog ein. Christian Wulff sprach von einer „Bunten Republik Deutschland“ und erinnerte auch Ewiggestrige daran, dass sich Deutschland änderte.

Das Staatsoberhaupt sah und sieht in jedem Einwohner einen Staatsbürger. Ein bis zu dieser Zeit noch nie da gewesenes „Wir-Gefühl“ hielt mit Wulff Einzug. Durch diese neue Bewegung und Dynamik, durch diese moderne Denkweise haben Millionen Menschen ihre Liebe zu diesem Land wieder entdeckt.

Das Fass zum Überlaufen brachte für manche das Bekenntnis des Bundespräsidenten am Tag der Deutschen Einheit, dass „auch der Islam ein Teil von Deutschland“ ist. Kein Politiker – bis auf den früheren Innen­minister Wolfgang Schäuble – hatte so etwas bis dato in den Mund genommen. Zuletzt kritisierte Wulff die versagenden Sicherheitsbehörden und Verantwortlichen im Kampf ­gegen den rechtsextremistischen Terrorismus. Er empfing die Familien sowie Angehörigen der Opfer, von denen einige zuvor verdächtigt wurden, mit den Terrorakten oder Lynchmorden in Verbindung zu stehen. Das haben Millionen Menschen gespürt und gefühlt, davon haben auch die Medien der Migranten berichtet. Diese Anteilnahme hat man bei Landesministern oder Ministerpräsidenten vergeblich gesucht.

In einer Zeit, in der die Aufklärung der rassistischen Morde gegenüber Türken, Muslimen und Ausländern den ersten Rang in der Presse und Tagesordnung einnehmen müsste, sah man wochenlang, dass ein ­anderes Thema die Tagesordnung einnahm und zu dominieren versuchte. Die Menschen in diesem Land sind aber nicht dumm.