Wort, und nicht das Schwert! Interview mit Islam-Referenten Gerhard Abdulqadir Schabel

Ausgabe 243

(iz). Radikalität im Namen der „Religion der Mitte“ und Gewalt im Namen der „Religion des Friedens“ – diese Paradoxien sind Muslime oft aufgefordert, ihrem Umfeld zu erklären. Dabei bleibt dieser Missbrauch der Religion ihnen selbst ­unerklärlich. „Islam ist Frieden“, entgegnet die große Mehrheit der Muslime der Welt unermüdlich und lebt dies vor. Dennoch bekommt das Etikett des „Friedens“ große Konkurrenz, sobald jemand Schüsse mit „Allahu Akbar“ abgibt und ein anderer um der Religion willen in den Krieg zum Töten zieht.

„Warte noch ein Weilchen und schau was du getan, du hast dich in den Tod gesprengt, im religiösen Wahn“, schreibt Gerhard Abdulqadir Schabel in einem seiner noch unveröffentlichten Gedichte und „Frieden sollst du stiften…“, fordert eine seiner weiteren Zeilen auf. Den Islam hat der 1958 in Birkenau geborene und mit 21 Jahren 1979 zum Islam konvertierte Gerhard Abdulqadir Schabel nie als etwas Kompliziertes gesehen, sondern immer als etwas Einfaches. Er betont die im Islam verankerte Gerechtigkeitspflicht sowie Wichtigkeit eines guten Charakters und führt uns durch die Facetten des Friedens.

Schabel ist durch seine Aktivitäten an Seminaren, Islamwochenenden und Islamwochen bundesweit bekannt. Neben Beruf und Familie ist er Referent für islamische Themen und schreibt Gedichte. In ihnen äußert der dreifache Familienvater seine Gedanken zu spirituellen und sozialen Themen. Mit Gerhard Abdulqadir Schabel sprechen wir über das Komplizierte und das Einfache, über Radikalität und Normalität, Jugend und Frieden, über das Damals und das Heute.

Islamische Zeitung: Herr Schabel, seit über drei Jahrzehnten sind Sie ein bekennender Muslim. Haben Sie sich in Ihrem Leben mit der Frage der Radikalität im Islam beschäftigt? Und wenn ja, welche Antworten haben Sie in der Religion gefunden?

Gerhard Abdulqadir Schabel: Es lag mir immer fern, meine persönlichen Überzeugungen mit Gewalt zu verbreiten. Weil ich fest davon überzeugt bin, dass das, was Menschen wahrhaft überzeugt, ein aufrichtiger Charakter ist. ­Daran hat sich auch nichts geändert als ich die islamische Lebensweise angenommen habe. Ganz im Gegenteil, die Inhalte und Ziele des Islams befördern diese Überzeugung geradezu und das Beispiel des Gesandten Muhammad (Friede sei auf ihm) lässt keinen Zweifel an dieser Haltung.

Das, was den Gesandten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, erfolgreich gemacht hat, war sein edler Charakter. Selbst jene, die ihn seinerzeit bekämpft haben, waren von seiner Aufrichtigkeit fest überzeugt. Schmähungen, Beleidigungen sowie verbale und gewalttätige Übergriffe hat er nicht aggressiv, sondern ruhig und besonnen beantwortet – wie könnte man da zu einer anderen Überzeugung gelangen?

Alle Vorkommnisse in seiner Lebensbiographie, die mit gewalttätigen Auseinandersetzungen verbunden waren und alle Stellen aus dem Qur’an, die diese Vorkommnisse aus der Offenbarung Allahs verdeutlichen, beziehen sich auf die Verteidigungskriege, die die Muslime in Medina gezwungen waren, gegen die Aggressoren und Angreifer aus Mekka zu führen.

Daher kann man diese Stellen nicht aus ihrem historischen Kontext der Vorkommnisse, Gegebenheiten, Gepflogenheiten und dem damaligen Verhalten im Krieg jener Zeit isolieren und einfach als Rechtfertigung für Gewaltbereite in heutiger Zeit heranziehen.

Islamische Zeitung: Das Phänomen der Radikalisierung der Jugendlichen im Namen des Islam gibt es leider. Und viele Gründe sind mittlerweile bekannt. Tatsache ist aber auch, dass die meisten Muslime der Welt der radikalen Propaganda resistent bleiben. Mal umgekehrt gefragt: Sollte man nach dessen Gründen auch in der Religion suchen?

Gerhard Abdulqadir Schabel: Nun, Menschen allgemein, nicht nur Muslime, radikalisieren sich in erster Linie aufgrund äußerer Umstände. Der gravierendste Umstand ist dabei die Ungerechtigkeit. Ungerechtigkeit bei der Verteilung des Weltvermögens und dessen Auswirkung für die Ärmsten dieser Welt. Menschen begehren auf gegen Unterdrückung, Ausbeutung, Kolonialisierung, Kriegsverbrechen, Landraub, Bestechlichkeit, Arbeitslosigkeit und Hunger – um nur die wichtigsten Gründe zu benennen. Betrachten wir das derzeitige Weltgeschehen, so gibt es viele Gründe, seine Stimme zu erheben um gegen das Unrecht, das wir Menschen uns gegenseitig antun, aufzubegehren.

Die islamische Lebensweise legt großen Wert darauf, seinen eigenen Charakter zu vervollkommnen um ein Mensch zu werden, dessen Streben es ist, sich für Gerechtigkeit gegenüber den Menschen und der gesamten Schöpfung einzusetzen. Eine Überlieferung des Gesandten Muhammad, Friede sei mit ihm, lautet daher sinngemäß: Der beste Einsatz für die Sache Gottes ist das wahre Wort vor einem ungerechten Herrscher.

Islamische Zeitung: Also nicht das Schwert…

Gerhard Abdulqadir Schabel: Die Feder ist immer stärker, überzeugender und nachhaltiger als das Schwert. Menschen, die mit Gewalt zu irgendetwas gezwungen werden, tragen immer einen bleibenden Schmerz in sich, der sich früher oder später gegen den Aggressor in irgendeiner Form wenden wird. Die meisten der Muslime weltweit, die sich bewusst mit dem Islam identifizieren und mit seinen Inhalten befassen, lassen sich nicht radikalisieren und sind der Gewaltpropaganda nicht empfänglich, weil sie sich dieser Tatsachen bewusst sind.

Natürlich darf man auch all jene Muslime nicht außer Acht lassen, und das ist wohl die Mehrheit, für die der Islam nur ein Anhängsel der Kultur und der Traditionen ist, die sich weniger mit den Inhalten und der praktischen Ausübung ihrer Religion befassen, als vielmehr damit, wie die meisten Menschen weltweit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und ein angenehmes Ein- und Auskommen zu haben. Auch diese sind, solange sie nicht in irgendeiner Form leiden, für radikales Gedankengut nicht empfänglich.

Ein wichtiger Grund, der von der Radikalität und Gewalt abhält, ist auch die jenseitige Dimension, die Gewissheit der Muslime, dass am Ende der Zeit Gott selbst für Gerechtigkeit sorgen wird. Auch das Vertrauen in Gott und Seiner Barmherzigkeit.

Islamische Zeitung: Wie erleben Sie in Ihrem Umfeld junge Muslime heute? Unterscheiden sie sich von der muslimischen Jugend von vor 20 Jahren?

Gerhard Abdulqadir Schabel: Eine neue Generation lebt immer in Abhängigkeit ihrer Elterngeneration. Sie ist geprägt durch ihre Erziehung und die Lebensumstände ihres Umfeldes. Es ist ihr Naturell zu hinterfragen ob all jenes, was die Vorgängergeneration gedacht und getan hat, richtig oder falsch war.

Die Jugend muss neue Antworten finden und Reaktionen hervorbringen auf die jeweiligen neuen Gegebenheiten und Umstände, die die Weiterentwicklung von Politik, Wirtschaft und allgemeiner Lebensumstände herausfordert. Junge Muslime müssen lernen ihre Quellen des Glaubens immer neu für sich und ihre Zeit zu lesen und zu interpretieren.

Und sie müssen früher oder später ihren Glauben erneuern; die Schahada (das Glaubensbekenntnis) noch einmal bewusst aussprechen. Denn in ein muslimisches Elternhaus geboren zu sein und eine wie auch immer geartete islamische Erziehung genossen zu haben, bedeutet nicht, dass man dann auch vom Islam überzeugt ist.

Die Muslimische Jugend vor 20 Jahren war meines Erachtens nach eine Generation des Aufbruchs. Für den Islam aktive Eltern haben ihre Kinder früh in Verantwortung genommen, ihren Teil der „Islamischen Arbeit“ zu übernehmen. Die Mehrzahl der damals aktiven waren keine Akademiker, sondern eben jene Muslime, die die Bundesregierung einlud, mit ihrer Arbeitskraft Deutschland nach Vorn zu bringen.

Viele der in Deutschland aktiven Jugendlichen haben heute einen akademischen Abschluss, haben Abitur, studieren, sind Ärzte, Ingenieure und Lehrer. Sie streben danach, in der hiesigen Gesellschaft ihren Platz zu finden und Verantwortung zu übernehmen.

Sie leisten derzeit einen wichtigen Beitrag, sowohl was das Einbringen in die Gesellschaft betrifft, als auch die Vernetzung und Zusammenarbeit der islamischen Aktivitäten.

Sie tragen aber auch eine große Verantwortung für das, was ihre Eltern in der Vergangenheit angestoßen haben. Sie sind die Generation deutscher Muslime, die gefordert ist zu beweisen, dass Muslime in Deutschland eine Bereicherung für die Gesellschaft sind. Sie sind es, die das Muslimsein zur Normalität in diesem Land befördern müssen.

Diese Aufgabe wird ihnen natürlich nicht leicht gemacht. Die aktuellen Ereignisse lassen diese Aufgabe wie eine unüberwindbare Mauer erscheinen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir die Mauer nicht noch höher werden lassen. Wir müssen Stein um Stein abtragen, um die Sicht und das Verständnis füreinander freizuräumen.

Ich persönlich glaube, dass unsere Jugend auf einem guten Weg ist. Ich habe viele junge Schwestern und Brüder getroffen, die mit ihrem Wissen und ihrer beruflichen Qualifikation vieles für die Muslime und den Islam in Deutschland bewegen und befördern können.

Keine Kritik, nur eine Anmerkung: Was mir ein bisschen fehlt, ist die Spiritualität. Bei aller Konzentration auf Wissen und Qualifizierung darf man die Verbindung zu Allah nicht außer Acht lassen. Denn nur Er ist es, Der es uns ermöglicht, all die Guten Dinge zu tun. Denn Wissen ohne Weisheit und Barmherzigkeit ist nur die Hälfte eines Ganzen. Beides gehört unbedingt zusammen.

Islamische Zeitung: Würde so ein radikaler Jugendlicher, wie man sie aus den Medien kennt, heute vor Ihnen stehen, was würden Sie ihm mit auf dem Weg geben wollen?

Gerhard Abdulqadir Schabel: Nun, der Gesandte Muhammad, Friede sei mit ihm, hat die Menschen da abgeholt, wo sie waren. Das heißt, er hat ihnen zunächst einmal zugehört, um ihr Anliegen kennenzulernen, um dann mit Freundlichkeit auf jeden persönlich einzugehen. Er, Friede sei mit ihm, hat jedem Menschen Wertschätzung entgegengebracht, weil ein jeder von uns ein Geschöpf ­Allahs ist.

Wie eingangs schon erwähnt, sind die Gründe, sich zu radikalisieren, vielfältig. Daher hat jeder seine persönliche Biographie, die ihn dahin gebracht hat, wo er jetzt steht. Der Zustand eines jeden Menschen ist die die Summe seiner Entscheidungen, die er aufgrund seiner Lebensumstände, seines Wissens und seiner Erfahrungen getroffen hat. Deshalb gibt es keine pauschalen Sätze.

Das aber, womit ich einen Menschen erreichen kann, ist, ihm die Wahrheit zu sagen und ihm zu zeigen, dass ich ihn wertschätze und ihn nicht von vornherein verurteile. Ich würde so jemandem sagen, dass ich seinen Zorn, seine Unzufriedenheit, seinen Ärger über die Ungerechtigkeit und das Unrecht, was wir Menschen einander antun, verstehe, und ihm in Erinnerung rufen, dass das, was den Gesandten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, zum Sieg über die Makkaner geführt hat, nicht die 63 Tage Verteidigungskrieg waren, sondern die 23 Jahre, in denen Allah den Menschen ein Buch offenbart hat, das uns lehrt, geduldig und barmherzig zu sein. Ich würde so jemanden daran erinnern, dass Allah den Propheten zu einem Vorbild gemacht hat, wie wir den großen Dschihad gegen unser eigenes Ego führen um eben nicht ein zorniger, grausamer und racheerfüllter Mensch zu werden.

Islamische Zeitung: Wenn Sie zurückblicken, hat sich Ihr persönliches Islamverständnis über die Jahre geändert? Wenn ja, wie war er früher, wie ist er heute?

Gerhard Abdulqadir Schabel: Ich glaube, dass jeder, der sich in seinem Leben bewusst zum Islam bekennt, ein ewig Lernender ist. Insofern hat sich mein Islamverständnis nicht geändert, sondern wie ich glaube, hat es sich entwickelt und wird sich mit Allahs Hilfe noch weiter entwickeln.

Die erste Phase, durch die ich gegangen bin, war mein neues Leben in Halal und Haram aufzugliedern. Was darf ich, was darf ich nicht? Mit der Zeit dringt man dann in die Phase vor, wo sich die Logik hinter dem Handeln erschließt und plötzlich begreift man die Schönheit und Feinsinnigkeit der islamischen Lebensweise.

Islamische Zeitung: Was macht für Sie den Kern des Islam aus?

Gerhard Abdulqadir Schabel: Allah auf die Beste Weise zu dienen, denn Allah sagt im Qur’an sinngemäß: „Ich habe die Dschin und die Menschen nur geschaffen, damit sie Mir dienen…“ Von Ahmad v. Denffer habe ich gelernt, auf die Frage, was Islam ist, folgendermaßen zu antworten, ohne das jetzt weiter auszuführen: Neben vielen anderen wichtigen Bedeutungen heißt Islam auch – „Frieden machen“. Salam – Friede, Islam – Frieden machen, Muslim – jemand, der Frieden macht. Frieden machen mit Allah heißt Ihn als den einzig Anbetungswürdigen anzuerkennen. Frieden machen mit sich selbst heißt für mich, seinen Charakter vollkommen zu machen und Verantwortung zu übernehmen. Frieden machen mit den Mitmenschen – sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. Frieden machen mit der gesamten Schöpfung – die vorgesehene Ordnung Gottes für alles Geschaffene aufrecht zu erhalten.

Islamische Zeitung: Vielen Dank für das Gespräch!