Zwischen altem Glanz und neuer Armut

Ausgabe 274

Foto: Nimitnigam, Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0

(iz). Das neuerdings immer mul­tireligiösere Deutschland er­schreckt manchen Einheimischen. Internationalisten entgegnen der Sorge mit einem Verweis auf die Gesellschaften Ost- und Südasiens: Warum soll hier nicht gelingen, was dort alltägliche Realität ist – friedliche Koexistenz? Doch wie sieht es damit tatsächlich aus?
In der Jama-Moschee in Neu-Delhi treffe ich Maria Khan, die Enkelin des bekannten Islamgelehrten und Gründers des Centers for Peace and Spirituality, Maulana W. Khan. Sie tritt mehr und mehr in die Fußstapfen ihres Großvaters, im Fernsehen erklärt sie Kindern den Islam. „In indischen Moscheen spielen Frauen eine große Rolle – jedenfalls dort, wo die Frauen gebildet sind“, schildert sie mir. Wie steht es um die Integration? „Muslime sehen sich zuallererst als Inder, dann als Muslime, sie sind gesellschaftlich voll anerkannt. Trotzdem nimmt die Bewegung der Hindunationalisten zu, die alle Muslime nach Pakistan vertreiben will und ihnen droht: Dorthin gehört ihr.“
Welche Gründe gebe es dafür? Angeblich wollten Muslime die Hindus beherrschen – wie schon zur Zeit der Mogulkaiser und der Osmanen. Tatsächlich gebe es vereinzelt salafistische Bestrebungen, die eine neue Herrschaft anstrebten. Und die Beziehung mancher Moschee zu reichen arabischen Geldgebern verstärke das Vorurteil. In das Gespräch schaltet sich ihr Vater ein und zitiert Ministerpräsident Narendra Modi: „Die indischen Muslime leben für Indien, sie würden für Indien sterben.“ Tatsächlich kommt die Propaganda der Extremisten bei der Mehrheit nicht an – es kämpfen mehr Europäer aufseiten der Terrororganisation IS als Inder. Eine kleine Gruppe von Armen werde von Hindufanatikern dafür bezahlt, dass sie Moscheen angriffen und Unruhe stifteten – die Mehrheit der Hindus aber sei tolerant, so sieht es der Vater. Am Taj Mahal nähmen die Spannungen zu, höre ich. Dort möchte ich hin.
Aber zunächst steht der Besuch des Sikhtempels auf dem Programm. Die Sikh-Männer erkennt man an ungeschnittenem Haar unterm breiten Turban und langem Bart. Der Stifter der monotheistischen Religion, Guru Nanak, lehnte Askese als Weg zu Gott strikt ab. Mit dem Kult der Götterbilder in Hindutempeln konnte er auch nichts anfangen und die Witwenpflicht, sich zu verbrennen, um Erlösung zu erlangen, hielt er für gefährlichen Aberglauben. Sikhs dienen Gott durch Arbeit und glauben nicht, dass Besitz ihrer Seele schadet.
Manche Hindus misstrauen ihnen, seit Sikhextremisten 1984 im Punjab einen eigenen Statt ausriefen und auch wegen ihres Glaubens an die Gleichheit der Menschen – die Ungleichheit des Kastenwesens erzürnt Sikhs. Nachdem ich im Tempel beobachtet habe, wie die Anhänger vor ihrer Heiligen Schrift niederfallen, werfe ich einen Blick ins „Schlafzimmer“ des Buches. Heute Nacht wird es dort wie ein Mensch zu Bett gebracht. In einer Nebenhalle findet ein Kommen und Gehen von Hungrigen statt. Der Tempel gibt pro Tag an 20.000 Menschen Essen aus – an jeden, unabhängig von seiner Religion. In langen Reihen sitzen die Gäste nebeneinander auf dem Boden, keiner wird bevorzugt, alle sind nach ­Sikhglauben gleich.
Es sind in Indien immer noch enorm viele Menschen arm und verdienen sich ihre Handvoll Reis als Tagelöhner. Was ich sehe, unterscheidet sich nicht von meinen Erinnerungen an Reisen in den 1980er Jahren. Nur glänzt Indien mittlerweile seit Jahren durch hohes Wirtschaftswachstum – wohin fließt der Gewinn? Die Billigarbeiter erscheinen auch noch genauso lethargisch wie früher. Tag ein, Tag aus von früh morgens bis in den späten Abend ziehen sie ohne Murren ihre Karren durch die heiße Luft; machen sie Pause, sitzen sie stumpf da, als ob sie geistig abwesend sind. Lebendigkeit fährt in sie hinein, wenn sie nachts im Tempel ihren bunten Göttern opfern: Was für den Europäer unwirklich ist, ist für sie wirklich – und umgekehrt. Wie anders könnten sie ihr Leben ertragen?
Touristen bewegen sich in Nordindien auf Trampelpfaden im Goldenen Dreieck zwischen Delhi, Agra und Jaipur. Vor der Kasse des Taj Mahals bildet sich eine lange Schlange. Weiße Haut ist hier teuer, aber auch privilegiert. Der Dunkle zahlt einen Euro Eintritt, der Helle fünfzehn Euro, dafür braucht er nicht warten. Das Gebäude wirkt fremd in diesem Land. Es kommt ohne Figuren von Göttern, Dämonen oder Menschen aus, es ist nüchtern wie Geometrie. Ganz symmetrisch sind Halbkreise, Dreiecke und Geraden angeordnet. Der muslimische Grabbau erscheint vollständig und zeitlos, weil nichts zu fehlen scheint, was ergänzt werden müsste.
Aufgetürmter weißer Marmor aus Kummer, das ist die Geschichte von Mogul Schah Jahan und dem Tod seiner Lieblingsfrau Mahal. Während ich den eigentlich schweren, aber doch leicht scheinenden Palast auf mich wirken lasse, werde ich Zuhörer des Freitagsgebets der Muslime. Irgendwo in der Ferne beten sie und dort protestieren Hindus gegen ihr Gebet. Nach ihrer Auffassung müsse das Taj Mahal abgerissen werden, weil es auf dem Grund eines historischen Hindutempels errichtet wurde. Hier im Bundesland Uttar Pradesh regiert die BJP, die hindunationalistische Partei, der Regierungschef hat sämtliche staatlichen Mittel für die Erhaltung und Pflege gestrichen. Ganz nach dem Motto: Soll es zusammenbrechen!
Die Hindus im Amber Fort in der Nähe von Jaipur lassen sich trotzdem begeistern vom Gebäude und seinem verschwenderischen Erbauer. Nachdem Schah Jahans Sohn geputscht hatte, sperrte er seinen Vater in diesen Palast in den Bergen ein und baute ihm eine Aussichtsplattform, von der aus der Vater das Taj Mahal bis zum Tod sehen konnte.
Meine Reise führt mich in den Süden, nach Chennai. Dort bin ich verabredet mit zwei Franziskanermönchen, die das Straßenkinderheim Nessakaram Seeds leiten. Berichtet wird mir vom Gründer, Pater Jesu. Während einer Zugfahrt lernte er einen siebenjährigen bettelnden Jungen kennen. Er fragte ihn: „Wo hast du letzte Nacht geschlafen?“ „Auf dem Bahnhof.“ Auch deutsches Geld setzte den Pater in die Lage, Kinder ein Zuhause zu bieten und sie zu betreuen. Ein Zwölfjähriger erinnert sich für mich an seine Kindheit im Slum. Das wenige Geld versoff der Vater und schlug ihn täglich – bis er weglief. Nun ist er sauber gekleidet, lacht gerne, besucht die Messe, obwohl er kein Christ ist, und geht zur Schule. Mit wenig Geld lässt sich in diesem Land viel erreichen.
Alle Kinder müssen an Gottesdiensten teilnehmen, taufen lassen müssen sie sich nicht. Regelmäßig überprüft eine Behörde, ob Kinder zur Konversion gedrängt werden – das ist verboten. Der BJP-Staat zeigt sein Misstrauen und sein Missfallen. Hindunationalisten verlangen, dass die Behörden vor christlichen Schulen einen heiligen Baum der Hindureligion aufstellen lassen und dass dort regelmäßig Pujas, religiöse Feiern, stattfinden sollen. Narendra Modi schweigt dazu – wie immer. Wie er auch als Gouverneur von Gujarat schwieg und die Polizei nicht schickte, als in der Stadt Ayodhya 2002 ein Hindumob eine Moschee stürmte und 3.000 Muslime starben.
Indische Christen trauen dem Ministerpräsidenten nicht über den Weg. Er habe eine „hidden agenda“, heißt es. Er spreche sich zwar für friedliche Koexistenz der Religionen aus, aber fördere gleichzeitig die extremen Hindugruppen, die die säkulare indische Verfassung durch eine hinduistische Verfassung ersetzen wollen. In ihrem Indien haben auch Christen keinen Platz, sie sollten doch nach Rom zurückgehen, wo sie herkämen. Dabei erreichte der Apostel Thomas schon im ersten Jahrhundert die westliche Malabarküste, gründete Gemeinden und führte den syro-malabarischen Gottesdienstritus ein. Er kam nicht aus Rom, aber was interessiert das den Fanatiker?
In Palmaner lerne ich diese Gottesdienstform kennen. Fern ab von der Großstadt liegt das Zentrum des Franziskanerordens. Mönche leben hier, angehende Mönche, Novizen, und angehende Novizen, Postulanten. Über Nachwuchs braucht sich der Orden keine Sorgen zu machen. In meiner Zelle gibt es kein Fenster und das Bett ist eine harte Pritsche – die Franziskaner legen keinen Wert auf Bequemlichkeit. Sie wollen den Menschen dienen, besonders den Armen.
Pater Scaria bildet den Nachwuchs in Theologie, Spiritualität und im einheimischen Ritus aus. Ich ziehe mir die Schuhe aus, setze mich auf den Boden. Der Pater schwenkt die heilige Flamme, wir Gottesdienstbesucher halten unsere Hände in die Richtung und nehmen die Energie des Feuers in uns auf. Eine Hindu-Puja beginnt genauso. Palmenzweige dienen dazu, uns mit Wasser zu bespritzen. Blüten werden vom Pater in eine Mandalagestalt gelegt. Dann singen wir meditative Verse und schweigen. Beim Abendmahl legen wir die Handflächen vor der Brust zusammen und verneigen uns zum Nachbarn – Shaanti! Friede sei mit dir!
Besonders die Hindus aus den höheren Kasten seien egoistisch, kümmerten sich nicht um die Armen, klagt der Pater. Der Glaube an Karma sei bequem: Schlechte Taten im vorigen Leben seien der Grund für Armut oder Krankheit in diesem. Warum jemandem helfen, der selbst schuld ist an seinem Schicksal? Scaria zeigt seinen Schmerz: „Wie kann man Menschen nur Unberührbare nennen?“ Jesus, der Retter, stehe auf der Seite der Armen, formuliert er seine „Befreiungstheologie“.
Die verschiedenen Religionen zu begreifen, fällt ihm nicht schwer: „Viele Wege führen zur selben Bergspitze.“ Scaria kann seine Vermutung begründen: Er habe viel gelernt von Hindus, Jains, Muslimen und Buddhisten. In allen Religionen sehe er ernsthafte Suche nach dem Göttlichen, nach dem „Einen und Allumfassenden“, und tiefe Erfahrung – jenseits des Intellektuellen und der Dogmen.
So sieht das auch Jyoti Sahi. Schon in den 1980er Jahren genoss er den Ruf des bekanntesten indisch-christlichen Künstlers. Ich besuche ihn in seinem Haus in der Nähe von Bangalore. Der Maler zeigt mir ein Golgatamotiv. Jesus hängt zwar am Kreuz, aber eigentlich tanzt er am Kreuz. Seine Füße schweben, seine Hände und Arme sind hochgestreckt, er scheint sich zu drehen. Das wollte ich sehen: die Inkulturation des Christentums. Jyoti Sahi malt Jesus nicht euro­päisch, sondern indisch. Sein Jesus gleicht dem tanzenden Hindugott Shiva. Der indische Betrachter muss Bibel, Kreuzigung und Auferstehung nicht kennen und versteht doch augenblicklich, was gemeint ist – dass Jesus Gott ist. Dieser Künstler braucht keinen Nachhilfeunterricht mehr, um seinen Glauben auszudrücken. Was Portugiesen, Holländer und Briten hinterlassen haben, erscheint fremd in einem Land, in dem mancher glaubt, dass Jesus nicht am Kreuz starb, sondern in Srinagar/Kashmir weiter lebte.
Jyoti Sahi steht unter Druck. Hindus werfen ihm vor, ihre Inhalte zu klauen, um zu missionieren. Und ehemals Unberührbare, deren Konversionen zum Christentum eine ausdrückliche Abkehr von der Hindureligion darstellen, wollen keine Vermischung, sondern klare Trennung. Eine Friedenstaube in Gestalt der für Hindus heiligen Silbe Om geht ihnen zu weit. Der Künstler beklagt Verhärtungen auf beiden Seiten.
Gegen den römisch-katholischen Gottesdienst in Mysore könnten die Gegner Sahis nichts einwenden. Die Hindunationalisten seien erschrocken. Die große St. Anthony‘s Kirche könnte am Sonntag nicht voller sein. Der Priester erzählt mir stolz, dass sie neun Gottesdienste nacheinander halten. Hindus liebten das gemeinsame Singen und Beten, die religiöse Bildung durch Predigt und Unterricht sowie die Sozialarbeit. Das Christentum ist eine kleine Minderheit in Indien, wenn es friedlich bleibt, wird sie weiter wachsen.