Zwischen lokal und global, oder die Kunst einen wahren Ort zu finden. Von Abu Bakr Rieger

Ausgabe 247

(iz). Ich war gerade auf einer kleinen Tour und habe drei verschiedene Vorträge in der Schweiz und Deutschland zu den Themen „Islam und die Ökonomie“, „der Beitrag der europäischen Muslime“ und „Goethes Aktualität“ gehalten. Wieder einmal war ich beeindruckt vom ungeheuren Potential der jungen, intelligenten und gut gebildeten Muslime, das im deutschsprachigen Raum heranwächst. Diese jungen Menschen sind nicht nur BürgerInnen der Schweiz oder der Bundesrepublik, sie entsprechen auch in keiner Weise mehr der Idee des Fremden. Sie sind, wie es so schön heißt, angekommen.

Sind sie es wirklich? Die Lage ist nicht spannungsfrei. Viele junge Muslime denken über ihre eigene Identität nach und suchen noch nach den Orten, die es ermöglichen ihre muslimischen Aktivitäten sinnvoll ausleben zu können. Viele Moscheegemeinden geben aber gerade dafür – schon architektonisch – wenig Raum. Zudem sind gerade die alten Gemeinden von ethnischen Zuordnungen und Bezügen zur verlorenen Heimat geprägt. Bindungen, die für die jüngere Generation immer weniger Sinn entfalten. Sie suchen nach einem Ausdruck ihrer Lebensgestalt, nach neuen Formen der Selbstorganisation, der Kultur, der Kunst und der Architektur.

Im Grunde ging es bei allen Vorträgen um die Frage nach dem inneren und äußeren Gleichgewicht, das für eine konstruktive Präsenz der Muslime in Europa einfach nötig ist. Jahrhundertelang hatte der Islam seine komplexe Infrastruktur in Europa eingeführt und sich gleichzeitig kulturell den regionalen Begebenheiten angepasst. Heute wirken die Muslime dagegen oft als Teil einer Weltkultur. Ist so etwas wie „Heimat“ überhaupt wichtiger Teil eines muslimischen Lebensgefühls oder aber sind wir nur Repräsentanten einer globalen Gemeinschaft, die eben nicht mehr durch lokale Besonderheiten geprägt ist?

Ein Motiv in meinen Überlegungen war die philosophische – im guten Sinne fragwürdige – Definition, der Nihilismus sei die Trennung von Ordnung und Ortung. Das Wortspiel, das sich mit der Realität der sozialen und politischen Heimatlosigkeit unserer Zeit beschäftigt, kommt nicht von ungefähr. Moderne Beispiele, die im Kontext dieser Einsicht diskutiert werden und für dieses Phänomen stehen, sind zum Beispiel Guantanamo, als „Ort ohne Ordnung“ oder das Internet als eine „Ordnung ohne Ort“. Tatsächlich sind junge Muslime oft stärker durch die virtuelle Community gebunden, als durch ihre lokale Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Sie nehmen Teil an einer geistigen Ordnung, oft abstrakt und idealisiert, der es jedoch in der Praxis an der konkreten Verortung mangelt.

Auch den muslimischen Gemeinden fällt es nicht immer leicht, sich einer veränderten Umwelt anzupassen, ihren realen Ort zu finden, sich in den bestehenden Kontext einzuordnen, gar eine neue Kultur zu stiften und ihre Heimat im Hier und Jetzt attraktiv auszugestalten. Zeitgleich wächst in Europa eine Gegenbewegung, die nicht nur den Islam nicht als Teil Europas sieht, sondern die eigene kulturelle Identität aus einer negativen Dialektik mit den Muslimen zieht. Für diese Protestbewegungen ist gerade die angebliche „Islamisierung“ Europas zu einem Identität stiftenden Feindbild geworden. Sie verunsichern so junge Muslime, die zu zweifeln beginnen, ob Europa überhaupt dauerhaft ihre muslimische Existenz und gesellschaftliche Präsenz akzeptiert.

Auf solchen Reisen korrespondiert oft der Gedanke mit den Orten, die man besucht oder die auf dem Weg liegen. Man bewegt sich beinahe unbemerkt in einem Bedeutungszusammenhang, den keine Reiseplanung voraussehen kann.

Im Schweizer Winterthur habe ich mehr oder weniger zufällig mit einem Freund eine Kunst-Ausstellung besucht. Der Industrielle Christoph Blocher präsentiert dort im Museum Reinhart seine Privatsammlung Schweizer Maler („Holder, Anker, Giacometti“). Der Kunstsammler ist nicht nur einer der reichsten Männer der Welt, sondern ist auch ein populärer Vertreter der Schweizer Konservativen. In seinen Beiträgen in Medien wie der „Weltwoche“ preist er die Schweiz als eine funktionierende Basisdemokratie. Obwohl sie, wie jeder Staat, Freiheiten beschränke, ist sie für ihn immerhin „das schönste aller Gefängnisse“. Die Europäische Union dagegen ist ihm nicht nur der natürliche Feind der eidgenössischen Freiheit, sondern nichts Anderes als ein wucherndes Monstrum der Zentralisierung. „Masseneinwanderung“ ist, wenig überraschend, ein weiteres Schlagwort, dass in diesen Tagen viele Anhänger Blochers mobilisiert.

Natürlich verkörpert der Schweizer mit seinen Überzeugungen auch eine gewisse Schizophrenie. Auf der einen Seite sorgt er sich um die kulturelle Identität, auf der anderen ist Blocher gerade auf den globalisierten Finanzmärkten reich geworden. Der Bankenstandort Schweiz, als Player auf den internationalen Finanzmärkten und als eine Trutzburg gegen die Zentralisierungstendenz der technischen Welt – dieses Spannungsverhältnis spürt man heute in Zürich wie kaum anderswo. Der Spagat zwischen Heimatsehnsucht und dem internationalen Geschäft prägt dabei auch Blocher selbst. In seinem Wertesystem sind Ausländer durchaus willkommen, aber eben nur so lange wie sie ökonomisch nützlich sind und die Schweizer Ideale der lokalen Freiheit und der Idylle nicht stören.

Die meisten Bilder seiner Privatsammlung stellen so das typische Schweizer Milieu dar. Es sind Reflexionen auf Landschaften, Straßenszenen und Kinder. „Die Augen des Malers haben dort hingeschaut, wo das Leiden des Erdenlebens an Ort und Stelle erfahren und ertragen werden muss“, schrieb Blocher 1985 über seinen Lieblingsmaler Albert Anker. Maler, die schon zu Zeiten der Industrialisierung in den Tälern ein idealisiertes Gegenbild der Berge schufen. Diese Kunst bildet eine Welt des Lokalen ab, die noch den ganzen Raum umfasst und in dieser romantischen Form wohl heute nur noch im Museum zu bewundern ist. Die Bedrohungen und Zusammenhänge der technischen Welt, der auch die Schweiz sich letztlich nicht entziehen kann, sind in der Sammlung kaum präsent.

Einige Tage später war ich in Baden-Baden fasziniert von der „Andreas Gursky“-Ausstellung im Museum Frieder Burda. In der berühmten Lichtentaler Allee steht das moderne Museum des Kunstmäzens; nur ein Steinwurf von dem Casino, in dem auch einst Dostojewski um hohe Einsätze spielte. In Gurskys Werk geht es um den Einbruch der Moderne und der technischen Welt in unsere längst globalisierte Lebenswirklichkeit. Der Photograph ist fasziniert von neuen Strukturen, die unser Leben ordnen, erweitern oder uniformieren. Der Künstler photographiert Müllhalden, Börsen, Parteiveranstaltungen oder die Auslagen in den Supermärkten.

Gursky beschreibt das Konzept seiner Kunst dabei so: „Meine Bilder sind immer von zwei Seiten komponiert, sie sind aus extremer Nahsicht bis ins kleinste Detail lesbar. Aus der Distanz werden sie zu Megazeichen.“ So hängt im Museum ein Bild von einem Popkonzert Madonnas neben einer Aufnahme eines Kirchentages. Aus der Ferne sehen beide Aufnahmen ähnlich aus.

Mit der Malerei und den alten Gewissheiten der Schweizer Maler hat dieses Werk nicht mehr viel gemein. Gurskys Blick auf unsere Zeit verunsichert eher und zeigt, so heißt es im Katalog, wie „Computerdateien mit ihren millionenfachen Bildpunkten unsere Vorstellung von Wirklichkeit neu ordnen“. Während die Schweizer Bilderwelt, die Blocher so gerne präsentiert, die örtliche Einheit von Glaube, Heimat und Bildung als wahr und eindeutig suggeriert, beschreiben seine globalen Bilder die Auflösung der gewohnten Begriffe. „Jeder Wahrheitsanspruch in meinen Bildern ist nur dahingehend zu befriedigen, dass ein bestimmtes Ereignis im Hier und Jetzt stattgefunden hat“, erklärt der Fotograf.

Nimmt man diesen Raum und seine Strukturen zur Kenntnis, ahnt man, wie schwer es geworden ist, Heimat zu denken. Deutlich wird das in Andreas Gurskys Bildern über die französischen Banlieus. Sie zeigen Wohnsilos und gleichförmige Wohnungen, die wie Zellen wirken und heute auch als Brutstätten ideologischer Gesinnung traurigen Ruhm erhalten. Hier wird die ganze Problematik des ortungslosen Lebens von einem genialen Fotographen in Szene gesetzt.

Blicken wir heute auf unsere Lebensverhältnisse, die Ordnung unserer Städte und die Präsentation der „Wirklichkeit“ in den Medien, dann ahnen wir, dass weder Technokraten, noch Konservative heute die Frage nach dem guten Leben – einem Leben der Balance – wirklich überzeugend beantworten können. Die Ausstellungen in Winterthur und in Baden-Baden sieht man also am besten zusammen an. Während Konservative sich einigermaßen widersprüchlich nach den alten Begriffen wie Heimat sehnen, haben sich die Technokraten in eine von Technik und Ökonomie bestimmte Welt eingerichtet. Die muslimische Welt ist natürlich genauso von diesen Tendenzen betroffen. Unsere Welt wird nicht „islamisiert“, wie es die Konservativen behaupten, sondern im globalen Maßstab „technisiert“.

Können wir Muslime auf diese Herausforderungen eine Antwort geben?

Vor der ungeheuren Flut an Bildern, der Informationen und beschleunigten Weisheiten flüchte ich manchmal in Freiburg in meinen Lieblingsbuchladen „Zum Wetzstein“.Man erhält dort eine maßvolle Auswahl kluger Literatur. An guten Tagen findet sich dort das eine Buch, das vielleicht einen Hinweis für den Moment gibt.

Meine Wahl fällt bei diesem Besuch auf eine Neuauflage des Buches „Fes. Stadt des Islam“ von Titus Burckhardt. Es ist eine Beschreibung aus einer Zeit, als die islamische Stadt noch eine ganzheitliche Welt formte. Für Handel und Kunst offen, verstand sich diese Stadt als Bindeglied zwischen lokalen und globalen Bezügen. Aber machen wir uns nichts vor, auch diese Orte wirken heute nur noch wie eine Art Denkmal in die Welt hinein.

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